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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Jul./Aug. 2013
14. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Christian Schröder, Halle/Berlin
Die Europäische Kommission hat im Herbst des Jahres 2011 den Entwurf einer umfassenden Reform des Rechts zur Bekämpfung von Insidergeschäften und der Marktmanipulation vorgelegt. Zum einen handelt es sich um einen Vorschlag für eine EU-Verordnung über "Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch)".[1] Neben dieser Verordnung steht ein Vorschlag für eine Richtlinie "über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation".[2] Die EU-Kommission strebt auf dem Gebiet der strafrechtlichen Regelungen eine Harmonisierung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV an. Mithin steht es den Mitgliedstaaten grundsätzlich frei, in einzelnen Punkten über die Mindestvorschriften hinaus zu gehen.
Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen einige grundsätzliche Fragen, die das Reformpaket aus strafrechtlicher Sicht aufwirft. Die kapitalmarktrechtlichen Einzelfragen, die das Reformvorhaben anspricht, wurden in der Literatur bereits diskutiert.[3] Sie sollen nur am Rande und dort angesprochen werden, wo sie auch strafrechtlich von Interesse sind.
Der Regelungskomplex speist sich aus zwei EU-Rechtsquellen. Der Richtlinienentwurf (im Folgenden: RiIM-E) verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bestimmte Insider-Geschäfte (Art. 3 RiIM-E) und Marktmanipulationen (Art. 4 RiIM-E) Straftaten darstellen. Weiterhin sieht der RilM-E vor, dass auch der Versuch sowie die Anstiftung und Beihilfe zu entsprechenden Taten geahndet werden können. Art. 7 RiIM-E regelt eine Verantwortlichkeit von juristischen Personen und Art. 8 RiIM-E fordert, dass in den Mitgliedstaaten Sanktionen gegen juristische Personen verhängt werden können.
Der Verordnungsentwurf (im Folgenden: MMVO-E) ist für das Strafrecht vor allem dort von Interesse, wo er abschließende Regelungen enthält. Bei der EU-Verordnung handelt es sich gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV um diejenige Normenkategorie des europäischen Sekundärrechts, die unmittelbar anwendbar ist und den Einzelnen berechtigen und verpflichten, also als Gesetz im materiellen Sinne bezeichnet werden kann. Soweit eine EU-Verordnung z. B. unionsweite Verbotstatbestände formuliert, knüpft das Strafrecht daran an. Man kann auch davon sprechen, dass der Unrechtstatbestand durch unmittelbar anwendbare EU-Vorschriften ganz oder teilweise europäisiert wird. Diese Verzahnung des Strafrechts mit unmittelbar anwendbaren Vorschriften einer EU-Verordnung ist auf zahlreichen Gebieten des Nebenstrafrechts bekannt. Soweit eine EU-Verordnung abschließende Regelungen enthält, verweist das deutsche Blankettstrafgesetz hinsichtlich der strafbewehrten Handlung auf einzelne Artikel der EU-Verordnung.
Die EU-Kommission stützt die Angleichung der strafrechtlichen Mindestvorschriften auf Art. 83 Abs. 2 AEUV. Diese Vorschrift wurde durch den Vertrag von Lissabon neu eingefügt und spricht ein kompetenzrechtlich heikles Gebiet an.[4] Es geht um bereits durch EU-Recht harmonisierte Bereiche, auf denen Art. 83 Abs. 2 S. 1 AEUV die Möglichkeit vorsieht, durch EU-Richtlinien Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen festzulegen. Diese Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften muss als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der
Union erscheinen. In der Sache geht es um das, was man im Lichte der Rechtsprechung des EuGH als "Annexkompetenz" bezeichnen kann.[5] Die Grenzen dieser Kompetenzzuweisung sind eng, weil nach dem Wortlaut des Art. 83 Abs. 2 AEUV eine auch das Strafrecht erfassende Harmonisierung "unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union" sein muss.[6]
Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat dem Entwurf der EU-Kommission in einer Beschlussempfehlung vom 23. Mai 2012 unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten einstweilen eine Absage erteilt.[7] Es könnte sich um eine BT-Drucksache mit historischem Inhalt handeln, denn der Rechtsausschuss kündigt an, das Lissabon-Urteil des BVerfG ernst zu nehmen und das Harmonisierungsvorhaben zumindest in Deutschland scheitern zu lassen. Schon in der Einleitung fallen Sätze, bei denen sich mancher Leser die Augen reiben dürfte. Die EU-Kommission habe nicht hinreichend dargelegt, warum die vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen zur Erreichung des angestrebten Ziels "unerlässlich" im Sinne des Art. 83 Abs. 2 AEUV seien. Ferner fasse der Richtlinienvorschlag einzelne Tathandlungen bedenklich weit, was für den Rechtsausschuss die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem grundrechtlichen Bestimmtheitsgebot aufwirft. Damit hält der Rechtsausschuss der EU-Kommission entgegen, in zwei zentralen Punkten einen unzureichenden Entwurf vorgelegt zu haben.
Die EU-Kommission hat dem RiIM-E eine Begründung vorangestellt, in der sie den "Hintergrund des vorgeschlagenen Rechtsakts" erläutert. Danach meint die EU-Kommission, im Einklang mit dem "Stockholmer Programm" und den Schlussfolgerungen des Rates "Justiz und Inneres" zur Verhinderung von Wirtschaftskrisen und der Unterstützung der Wirtschaftstätigkeit vom 22. April 2010[8] zu handeln. Sie habe die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Marktmissbrauchsrichtlinie geprüft und dabei "einige Probleme" festgestellt, die nach ihrer Auffassung die Marktintegrität und den Anlegerschutz beeinträchtigen können.[9]
Nach Ansicht der EU-Kommission sind die "derzeit verfügbaren Sanktionen zur Bekämpfung von Marktmissbrauch nicht wirkungsvoll und abschreckend genug", so dass die bisher geltende Marktmissbrauchsrichtlinie nicht wirksam durchgesetzt werden kann.[10] Weiter heißt es:
"Zudem ist in den einzelnen Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich definiert, welche Fälle des Insiderhandels oder der Marktmanipulation als Straftaten zu betrachten sind. Beispielsweise sind in fünf Mitgliedstaaten für die Weitergabe von Insider-Informationen durch Primärinsider keine strafrechtlichen Sanktionen vorgesehen, und in acht Mitgliedstaaten gibt es keine entsprechenden Sanktionen für die Weitergabe durch Sekundärinsider. In einem Mitgliedstaat sind gegenwärtig keine strafrechtlichen Sanktionen für Insider-Geschäfte durch Primärinsider vorgesehen, und in vier Mitgliedstaaten stehen solche Sanktionen nicht für Marktmanipulation zur Verfügung. Da Marktmissbrauch grenzüberschreitend erfolgen kann, beeinträchtigen diese unterschiedlichen Herangehensweisen den Binnenmarkt und geben Tätern die Möglichkeit, missbräuchliche Praktiken in Ländern durchzuführen, in denen der jeweilige Verstoß nicht strafrechtlich geahndet wird.
Mindestvorschriften in Bezug auf Straftaten und strafrechtliche Sanktionen für Marktmissbrauch, die in nationales Strafrecht umgesetzt und von der Strafjustiz der Mitgliedstaaten angewandt werden, könnten zur Sicherung der Wirksamkeit der EU-Politik beitragen, da sie die gesellschaftliche Missbilligung dieser Taten auf eine qualitativ andere Art deutlich machen als verwaltungsrechtliche Sanktionen oder zivilrechtliche Ausgleichsmechanismen. Strafrechtliche Verurteilungen wegen Marktmissbrauchs, die oft mit einer intensiven Medienberichterstattung einhergehen, erhöhen den Abschreckungseffekt, da sie potenziellen Tätern vor Augen führen, dass die Behörden ernsthafte Durchsetzungsmaßnahmen ergreifen, die zu Gefängnisstrafen oder sonstigen strafrechtlichen Sanktionen und einer Eintragung in das Strafregister führen können. Gemeinsame Mindestvorschriften für die Definition der schwersten Formen des Marktmissbrauchs als Straftaten erleichtern die Zusammenarbeit der Durchsetzungsbehörden in der EU, insbesondere da solche Rechtsverstöße oft grenzübergreifend begangen werden" .[11]
Die von der EU-Kommission zu dem Richtlinienentwurf gegebene Begründung genügt nicht den Anforderungen des Art. 83 Abs. 2 AEUV. Zwar legt die EU-Kommission dar, dass Insiderverstöße und Marktmanipulation in einzelnen Mitgliedstaaten in gewissen Details unter-
schiedlich erfasst und geahndet werden und sieht daher "die Möglichkeit, missbräuchliche Praktiken in Ländern durchzuführen, in denen der jeweilige Verstoß nicht strafrechtlich geahndet wird".[12]
Bei einer Angleichung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV geht es aber nicht um "Möglichkeiten". Vielmehr muss die Harmonisierung nach dem Wortlaut der Vorschrift "unerlässlich" sein, um das harmonisierte Rechtsgebiet strafrechtlich zu flankieren. Auch wenn der genaue Gehalt des Kriteriums "unerlässlich" noch nicht geklärt ist, besteht Einigkeit darüber, dass es mehr als nur "Erforderlichkeit" bedeutet.[13] Die Angleichung des Strafrechts muss in diesem Sinne als Ultima Ratio erscheinen, um die Beachtung des bereits harmonisierten Rechts sicherzustellen.[14] Dazu schweigt die Begründung.
Wenn die EU-Kommission zur Begründung ihrer Gesetzgebungsinitiative weiterhin meint, "Mindestvorschriften in Bezug auf Straftaten und strafrechtliche Sanktionen für Marktmissbrauch, die in nationales Strafrecht umgesetzt und von der Strafjustiz der Mitgliedstaaten angewandt werden, könnten zur Sicherung der Wirksamkeit der EU Politik beitragen, da sie die gesellschaftliche Missbilligung dieser Taten auf eine qualitativ andere Art deutlich machen als verwaltungsrechtliche Sanktionen oder zivilrechtliche Ausgleichsmechanismen"[15], dann irritiert an dieser Begründung bereits der Konjunktiv.
Ob etwas "sein könnte", ist nicht Maßstab des Art. 83 Abs. 2 AEUV. Die strafrechtlichen Regelungen müssen nicht "möglicherweise erforderlich" oder wünschenswert sein, sondern für die wirksame Durchführung der Politik der Union als unerlässlich erscheinen. Es wäre gut, wenn die EU-Kommission als "Hüterin der Verträge" auch deren Wortlaut zur Kenntnis nehmen würde. Für eine EU-Kompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV trägt die EU-Kommission nichts vor. In der Sache kann das freilich auch nicht überraschen, weil die von der EU-Kommission aufgezeigten Lücken in der Rechtspraxis kaum eine Rolle spielen.
Aus deutscher Sicht genügt die Begründung des Harmonisierungsvorhabens insbesondere nicht den Vorgaben, die das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil für Art. 83 Abs. 2 AEUV formuliert hat.[16] Das BVerfG hat dargelegt, dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich bestehen muss.[17] Das Wort "unerlässlich" ist danach also nicht nur allgemein eng auszulegen, sondern das BVerfG versteht darunter ein "empirisches Kriterium".[18] Daraus folgt für jedes Harmonisierungsvorhaben, das sich auf Art. 83 Abs. 2 AEUV stützt, die Notwendigkeit, eine Angleichung strafrechtlicher Mindestvorschriften sehr sorgfältig zu begründen.[19] Der Nachweis abstrakter Inkongruenzen in den unterschiedlichen Rechtsordnungen genügt dafür gerade nicht.
Den Hintergrund dieser Sichtweise des BVerfG zitiert der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages wörtlich aus dem Lissabon-Urteil: "Wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen sind die vertraglichen Kompetenzgrundlagen für solche Schritte strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen und ihre Nutzung bedarf besonderer Rechtfertigung. Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum."[20]
Die Ultima-Ratio-Funktion des Strafrechts verlangt zudem danach, die "Durchführung der Politik der Union" auf dem harmonisierten Rechtsgebiet einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Erweist sich nämlich der Zustand eines durch die EU bereits harmonisierten Rechtsgebiets als so schlecht, dass eine bis dahin nicht vorhandene Mindestharmonisierung von Strafnormen als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union erscheint, muss auch hinterfragt werden, ob diese Mängel nicht auch an der harmonisierenden EU-Politik liegen könnten, mittels derer man den als unbefriedigend empfundenen Rechtszustand erzeugt hat.[21] Eine solche Bestandsaufnahme ist geboten, denn das Strafrecht sollte nicht dazu dienen, fehlgehendes EU-Recht auch noch zu zementieren.
Im vorliegenden Fall der Angleichung der Vorschriften über die Marktmanipulation und den Insiderhandel bedarf es dieser Bestandsaufnahme besonders dringend. Es gibt allen Anlass für die Frage, ob es nicht gerade die EU und speziell die EU-Kommission waren, die durch ihre Politik ganz entscheidend zu den schweren Verwerfungen auf den Finanzmärkten beigetragen haben.[22] Allein der Umstand, dass sich trotz der weitreichenden Harmonisierung des europäischen Bank- und Kapitalmarktrechts in den Jahren 2001/2002 sowie 2007/2008 gleich zwei schwere Finanzkrisen in alarmierend kurzer Abfolge abgespielt haben, ruft nach einer kritischen Bestandsaufnahme. Gewiss waren das internationale Krisen, aber bei nüchterner Betrachtung ist nicht erkennbar, dass das harmonisierte EU-Recht die Folgen dieser Krisen auch nur im Ansatz gemildert hat. Im Gegensatz zu anderen Staaten wie Kanada, die ihr Bank- und Kapitalmarktrecht im guten Sinne selbstbewusst und in gewisser Weise sogar antiquiert geregelt haben, waren die EU-Staaten bei jeder Krise dabei.
Bis zum Jahr 2009 schien es noch so, als ob sich der Euro als gemeinsame europäische Währung in den Krisen bewährt habe. Auch diese Zeiten sind vorbei. Seit dem Jahr 2010 erschüttert eine dritte Krise die internationalen Finanzmärkte, deren Epizentrum in der EU selbst liegt. Diese Krise ist zwar im Kern eine Staatsschuldenkrise, hat jedoch unmittelbar mit der Harmonisierung des Bank- und Kapitalmarktrechts zu tun, weil Kreditinstitute auch aufgrund des EU-Rechts den Kauf von Staatsanleihen der EU-Mitgliedstaaten nicht mit Eigenkapital unterlegen mussten.
Die Harmonisierung der strafrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung der Marktmanipulation und des Insiderhandels mag auf den ersten Blick beeindrucken. In Wahrheit lenkt dieses Vorhaben von den eigentlichen Problemen ab, denn die EU-Politik auf dem Gebiet des Bank- und Kapitalmarktrechts steht vor einem Trümmerhaufen. Das EU-Recht und die Politik der EU-Kommission haben sich in jeder Krise als (Mit-)Ursache für die schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten erwiesen, was auch für die seit 2010 andauernde "Eurokrise" gilt.[23] Seit der Jahrtausendwende jagt eine Krise die nächste und die EU-Regulierung hat diese Zuspitzung (ungewollt) gefördert. Das mag als gewagte These erscheinen, man kann dies aber konkret belegen. Dazu seien zwei Beispiele genannt.
Das erste Beispiel entstammt der Finanzkrise der Jahre 2001 und 2002. In Deutschland steht der "Neue Markt" symbolhaft für das Platzen der Dot.Com-Blase. Zu dieser Zeit kam es vielfach zu deliktischen Verhaltensweisen, denen die EU-Harmonisierung des Kapitalmarktrechts überhaupt erst Raum gab. Angesprochen ist das europäisierte Insiderrecht mit seinen Regelungen zur Ad-hoc-Publizität, die sich im deutschen Recht in den §§ 13, 15 WpHG finden. Danach müssen Emittenten börsennotierter Finanzinstrumente wichtige Informationen, die den Kurs eines Finanzinstruments erheblich beeinflussen können, ad hoc publizieren. Bei Aktiengesellschaften, die ihr Grundkapital emittiert haben, sind das vor allem Unternehmensmeldungen. Es geht um Geschäftszahlen, Übernahmeangebote und alles andere, was den Kurs einer Aktie bewegen kann.
Wer sich die Sachverhalte einzelner Fälle wie "Comroad"[24], "EM-TV"[25] oder "Infomatec"[26] durchliest, wird feststellen, dass sich diese Gesellschaften der Ad-hoc-Publizität bedienten, um das Anlegerpublikum in die Irre zu führen. Die Regelungen über die Ad-hoc-Publizität waren gewiss gut gemeint, sollten sie doch dazu dienen, dem Anlegerpublikum einen möglichst chancengleichen Zugang zu Insiderinformationen zu bieten. Das Ganze bot deliktisch handelnden Tätern jedoch auch eine ideale Plattform, um das Anlegerpublikum zu täuschen. Die seinerzeit halbamtlich wirkende Ad-hoc-Publizität wurde zum Sprachrohr der Irreführung.[27] Das zeigt sich schon daran, dass es die Pflicht zur Ad-hoc-Meldung schon sehr viel früher gab. Im deutschen Recht war sie im Börsengesetz verankert und ging auf eine EWG-Richtlinie aus dem Jahr 1979 zurück,[28] blieb jedoch weitgehend unbeachtet. Mit der Einführung des Insiderrechts bekam das Ganze so richtig Schwung. Der eigentliche Fehler bestand darin, dass im Zuge der EU-Harmonisierung die Missbrauchsmöglichkeiten moderner Kommunikationsmittel (Internet) unterschätzt wurden. Das Massenmedium Internet überholte die Regulierung. Daran wird deutlich, warum sich die europäische Rechtsangleichung des Kapitalmarktrechts auf feste Grundsätze beschränken und den Mitgliedstaaten die flexible Ausführung der Details überlassen sollte. Nur so ergibt sich auch ein Wettbewerb der Regulierungsmodelle.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Verantwortung liegt in den genannten Fällen in erster Linie bei den Tätern. Sie missbrauchten das Instrumentarium der Ad-hoc-Mitteilungen und das Vertrauen ihrer Aktionäre. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass erst die EU-Regulierung, die unter der Überschrift des Insiderrechts das Vertrauen in die Kapitalmärkte stärken sollte, die Möglichkeit zur Täuschung des breiten Marktes mit sich brachte. Versuche, Anleger in die Irre zu führen, gab es zwar schon immer. Gleichwohl: Wen hätte es ohne das Sprachrohr der Ad-hoc-Meldungen interessiert, ob eine Aktiengesellschaft aus Unterschleißheim mit Navigationsgeräten (Fall Comroad) gute Umsätze erzielt? Wären die traumhaften Geschäftszahlen als erkennbare Eigenwerbung verbreitet worden, dann wäre das seitens der Anleger sehr viel vorsichtiger gewürdigt worden. Daran zeigt sich, dass Regulierung (hier die des Kapitalmarkts) auch eine Kehrseite haben kann.
Als Konsequenz aus den Verwerfungen am "Neuen Markt" wurden im Jahr 2004 die Regeln über die Ad-hoc-Publizität modifiziert. Ihr Missbrauch zu Werbezwecken wurde verboten. Auch das Recht der Marktmanipulation und eine strafrechtliche Verfolgung einzelner Fälle führten in der Folgezeit jedenfalls an regulierten Märkten dazu, dass sich vieles besserte. Bei dem Kapitalmarktrecht handelte es sich zwar um ein immer komplexer werdendes Rechtsgebiet, das sich jedoch in gewisser Weise konsolidierte.
Auch die systemische Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 weist eine innere Verbindung mit einer fehlgehenden EU-Regulierung des Bank- und Kapitalmarktrechts auf. Wir wissen, dass ein blindes Vertrauen des Finanzmarkts in Ratings als eine wesentliche Ursache der systemischen Finanzkrise gelten muss.[29] Dieses Wissen ist
jedoch keineswegs neu. Vielmehr wurde die EU-Kommission im Vorfeld der Krise gewarnt, nahm die Kritik an den Rating-Agenturen aber nicht ernst genug. Man kann das bis in das Detail nachweisen.[30] Das EU-Parlament veröffentlichte am 24. Januar 2004 unter dem Aktenzeichen A5-0040/2004 einen Bericht, der die Rolle und die Macht der Rating-Agenturen in den Blick nahm.[31] Die Parlamentarier warnten vor einer blinden Übernahme des US-Konzepts und lieferten ein handfestes Beispiel für ihr Anliegen. Dort heißt es: "Nach dem Zusammenbruch von Enron im Januar 2002 führte das ‚Committee on Governmental Affairs‘ des US-Senats eine umfassende Untersuchung durch, um Informationen darüber zu erhalten, warum die Rating-Agenturen Enron bis 4 Tage vor dem Konkursantrag als gutes Kreditrisiko (Anlagequalität) einstuften, und um zu ermitteln, wie solche Katastrophen künftig vermieden werden können".
Das Papier hinterfragte auch ausdrücklich das Vergütungssystem für Ratings, weil die Rating-Agenturen von denjenigen, die ein Interesse an dem Vertrieb eines Finanzinstruments und damit an einem besonders guten Rating haben, bezahlt werden.
Die EU-Kommission antwortete darauf mit der Mitteilung 2005/11990 vom 23. Dezember 2005.[32] Dieser Text endet mit der Feststellung, dass sich die Kommission gemäß der Aufforderung des Europäischen Parlaments sehr eingehend mit der Frage befasst habe, ob in Bezug auf die Tätigkeit von Rating-Agenturen neue Legislativvorschläge erforderlich sind und zu dem Schluss gelangt sei, dass dies derzeit nicht der Fall ist. Einer der Hauptgrundsätze bei den Bemühungen um eine "bessere Rechtsetzung" laute, dass die EU nur dann rechtsetzend tätig werden sollte, wenn dies zur Erreichung der politischen Ziele unbedingt erforderlich sei. Dies hielt die Kommission in diesem Bereich für nicht erwiesen.
Diese Ausführungen der EU-Kommission zeigen, wie weit sich dieses EU-Organ von den Problemen entfernt hat. Seit Jahrzehnten wird das Bank- und Kapitalmarktrecht durch EU-Vorschriften umgestaltet. Beide Rechtsgebiete sind durch die EU-Vorgaben derart ausgeufert, dass sie nur noch schwer fassbar sind. In den Komitologieverfahren ist die Kommission sogar als federführender Gesetzgeber tätig. Die Aussage, dass man nur tätig werde, wenn es unbedingt erforderlich sei, trifft nicht zu. Sie zeugt davon, dass die EU-Kommission wesentliche Gefahren einfach nicht erkannt hat. Angesichts der schlimmen Folgen, die fragwürdige Ratings im Zusammenhang mit der Verbriefung von Kreditrisiken angerichtet hatten, betrachtete die EU-Kommission vieles anders und sah Ratings kritischer.[33] Da war es aber bereits zu spät. Man muss es deutlich sagen: Der blinde Glaube an Ratings war auch ein ganz konkretes Ergebnis der Politik der EU-Kommission.
Man könnte den vorgenannten Beispielen noch viele hinzufügen, aber das Gemeinte dürfte deutlich geworden sein. Wenn die Harmonisierung auf einem Rechtsgebiet fehlschlägt, dann bedarf es auch einer Selbstkritik der EU und ihrer Organe. Der schlechte Zustand eines Rechtsgebiets lässt sich durch flankierendes Strafrecht nicht verbessern. Für Art. 83 Abs. 2 AEUV folgt daraus: Erst wenn wir wissen, dass der Weg der Harmonisierung richtig war und durch nachweisbare Kriminalität tatsächlich als gefährdet erscheint, sollte eine Harmonisierung durch strafrechtliche Mindestvorschriften erwogen werden. Alles andere erinnert an eine Politik des "Vorwärts immer, rückwärts nimmer", die unfähig ist, eigene Fehler zu erkennen.
Die hier interessierende Initiative der EU-Kommission zum Marktmissbrauch erscheint als Gesetzgebungsaktionismus, weil man meint, angesichts der schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten aktiv werden zu müssen. Gerade das Kapitalmarktstrafrecht ist dafür aber nicht das richtige Betätigungsfeld. Der heutige Zustand des Insiderrechts und des Rechts der Marktmanipulation ist aufgrund der verschachtelten EU-Vorgaben zwar nicht gut, aber man hat etwas daraus gemacht. In der Gesamtschau hat sich eine akzeptable Praxis etabliert, was sich am Beispiel Deutschlands belegen lässt. Das liegt aber nicht an den EU-Institutionen, sondern geht auf große Anstrengungen der Praxis zurück. Dazu zählt die deutsche Aufsichtsbehörde BaFin, die sich u. a. durch Leitfäden, praxisorientierte Tagungen und andere Hilfen immer wieder darum bemüht hat, den Betroffenen im Dschungel der in nationales Recht umgesetzten EU-Vorgaben eine gewisse Orientierung zu bieten. Auch börsennotierte Unternehmen und die viel gescholtenen Banken haben die Regeln über die Insidervergehen und Marktmanipulationen mit großem Aufwand implementiert. Ferner haben sich auch die Strafverfolgungsbehörden, einschließlich des Bundeskriminalamts, erkennbar und erfolgreich bemüht, das Kapitalmarktstrafrecht anzuwenden.
Solche Prozesse benötigen Zeit. Über ein Jahrzehnt brauchte es, bis sich das neue Recht etabliert hatte. Es ist rätselhaft, warum die EU-Kommission von diesem Zustand nunmehr abrücken will. Zwar dürfte sich im materiellen Recht bei einer Umsetzung des Vorhabens unter dem Strich nur wenig ändern. Allerdings wird das Recht einmal mehr durch verschachtelte Definitionen und komplizierte Verweisungen wie eine Schneekugel geschüttelt. Allein das ist ein kapitaler Fehler und sorgt für Desorientierung. Gerade komplexes Recht braucht Zeit. Es muss sich setzen. Nur dann, wenn neues Recht Zeit hat, kann es sich auch etablieren, um Rechtssicherheit stiften und präventiv wirken zu können.
Die EU-Kommission kann keine stichhaltigen Gründe für eine Harmonisierung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV anführen. Vielmehr zeigt das Bank- und Kapitalmarkrecht besonders eindrucksvoll, welche Blüten der Regulierungsaktionismus der EU-Kommission mittlerweile treibt. Trotz eines jahrzehntelangen Trommelfeuers mit immer wieder neuen EU-Vorgaben, kommt dieses Rechtsgebiet einfach nicht zur Ruhe. Ein solches Experimentierfeld sollte nicht den Bezugspunkt einer Angleichung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV bilden.
Als besonders bedenklich muss der Umgang der EU-Kommission mit dem Bestimmtheitsgrundsatz gelten. Nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 der Grundrechtecharta darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.
Art. 4 RiIM-E listet für die Marktmanipulationen auf, welche Handlungen in den Mitgliedstaaten Straftaten darstellen sollen. In Art. 4c RiIM-E heißt es dann: "Abschluss einer Transaktion, Erteilung eines Kauf- oder Verkaufsauftrags und jegliche sonstige Tätigkeit an Finanzmärkten, die den Kurs eines oder mehrerer Finanzinstrumente oder eines damit verbundenen Waren-Spot-Kontrakts beeinflusst, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder unter Verwendung sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung".
Das Beispiel dürfte ausreichen, um zu belegen, warum der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages in seinem Beschluss gleich mehrfach die Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes hervorhebt, dessen Einhaltung anmahnt und die EU-Kommission auffordert, unter Beachtung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes die tatbestandliche Beschreibung von Marktmanipulationen, die als Mindestvorschriften in nationales Strafrecht umzusetzen sind, zu prüfen und zu begründen.[34] Man darf gespannt sein, was die EU-Kommission darauf erwidert, denn sie meint doch tatsächlich, das alles schon geprüft zu haben. Art. 8 Abs. 1 lit. b MMVO-E enthält eine Art. 4c RiIM-E entsprechende Regelung, und im 39. Erwägungsgrund der MMVO-E heißt es: "Die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte und anerkannten Grundsätze gemäß dem AEUV, insbesondere [...]die Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte, die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden, werden in dieser Verordnung eingehalten."
Man kann der EU-Kommission an dieser Stelle nur raten, die Rechtsprechung des EuGH[35] und auch die der nationalen Verfassungsgerichte zur Kenntnis zu nehmen. Freilich bindet das Verfassungsrecht eines Mitgliedstaats die EU-Normgebung grundsätzlich nicht. Gleichwohl sollten alle Beteiligten auf EU-Ebene an dieser Stelle Fingerspitzengefühl beweisen, denn man läuft Gefahr, dass eine verschachtelte und zu weitreichende Rechtsangleichung auf dem Gebiet des Strafrechts in den Mitgliedstaaten als Zumutung und rechtsstaatlicher Rückschritt empfunden wird. Insbesondere dann, wenn sich in der Praxis eine dauerhafte Unzufriedenheit mit dem EU-Strafrecht einstellt, nagt das an der Akzeptanz der EU. Aber auch gegenüber dem durch Art. 103 Abs. 2 GG gebundenen Deutschen Bundestag wäre es eine Zumutung, wenn die Unerlässlichkeit der Angleichung nicht dezidiert begründet und der Tatbestand der Marktmanipulation dem Bestimmtheitsgebot nicht genügend formuliert wird. Die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber seine verfassungsrechtlichen Bindungen abstreifen kann, wenn eine Richtlinie nach Art. 83 Abs. 2 AEUV unbestimmte und Art. 103 Abs. 2 GG nicht genügende Definitionen von Merkmalen vorgibt, ist zwar wissenschaftlich reizvoll, weil man vertreten kann, dass eine solche EU-Vorschrift durch den EuGH an Art. 49 Abs. 1 der Grundrechtecharta zu messen ist. Diese Frage sollte sich aber auf dem Gebiet des Strafrechts in der Praxis der Gesetzgebung tunlichst nicht stellen. Die EU-Organe sollten diese Grenze nicht austesten, denn der strenge Gesetzesvorbehalt des Strafrechts hat in Deutschland eine eigene Geschichte und verträgt sich nicht mit einer devoten Rolle des Bundestags, in der dieser verunglückte EU-Vorgaben sklavisch übernimmt. Im Rahmen des Art. 83 Abs. 2 AEUV kann nur der innerstaatliche Gesetzgeber das sodann unmittelbar anwendbare Strafgesetz setzen und muss es vor der eigenen Verfassung verantworten können.
Freilich wird man sich sogar darüber streiten können, ob Art. 4c RiIM-E tatsächlich gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstößt.[36] Das ist indes eine zweite Frage, die hier nicht vertieft werden soll. Es liegt auf der Hand, dass die Formulierung des Art. 4c RiIM-E bedenklich weit geht. Die Europäisierung des Strafrechts auf der Grundlage des Art. 83 AEUV sollte von Anfang an nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass die Grenzen eines rechtsstaatlichen Strafrechts aufgeweicht werden. Genau das ist bei Art. 4c RiIM-E aber der Fall. Es liegt einzig
und allein in den Händen und in der Verantwortung der EU-Organe, diesen Eindruck im Zuge des Reformvorhabens zum Marktmissbrauch zu zerstreuen. Die Chance dazu ist da.
Der Verordnungsentwurf bemüht sich indes um eine gewisse Konkretisierung, indem "Anhang 1" der MMVO-E Umstände beschreibt, die als Indikatoren für manipulatives Handeln gelten sollen. Allerdings geht damit nicht die gewünschte Konkretisierung des tatbestandlichen Unrechts einher. Der Sache nach erinnert dieses Vorgehen an die deutsche Rechtslage, wo die MaKonV schon im heutigen Recht als ausführende Rechtsverordnung Anhaltspunkte nennt, die auf eine Marktmanipulation hindeuten.[37] Dieses Vorgehen ist jedoch wiederum heikel. Der Verordnungsentwurf sieht in Art. 8 MMVO-E eine Delegationsmöglichkeit vor, die die EU-Kommission ermächtigt, nähere Regelungen zu treffen. Das ist problematisch, weil sich die EU-Kommission nur im Rahmen der Ermächtigungsgrundlage bewegen darf. Ansonsten werden die Strukturen der europäischen Strafnormsetzung nach Art. 83 AEUV aufgebrochen und es droht eine Strafgesetzgebung durch die EU-Kommission. Das Ganze würde dann nämlich so aussehen, dass der Mitgliedstaat den wolkigen Art. 4c RiIM-E umsetzt und "jegliche sonstige Tätigkeit an Finanzmärkten, die den Kurs eines oder mehrerer Finanzinstrumente oder eines damit verbundenen Waren-Spot-Kontrakts beeinflusst, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder unter Verwendung sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung" als Unrechtstatbestand übernimmt. Da aber niemand so richtig weiß, was darunter alles zu verstehen ist, wäre auf den "Anhang 1" MMVO-E und die zukünftigen Rechtsakte der EU-Kommission zurückzugreifen, die diese auf der Grundlage des Art. 8 MMVO-E erlässt. Dann würde aber gerade nicht mehr die nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassene Richtlinie das Strafbare umschreiben, sondern letztlich ein Rechtsakt der EU-Kommission. Das Demokratiedefizit der EU wäre um eine Blüte reicher. In Deutschland wird daher darauf zu achten sein, ausführende Rechtsakte der EU-Kommission dem Verfahren nach Art. 83 Abs. 3 AEUV unter Anwendung des IntVG zu unterwerfen, um in den Fällen, in denen ein ausführender Rechtsakt die Ermächtigungsgrundlage verlässt, intervenieren zu können. Das zeigt einmal mehr, warum es geboten ist, die Ermächtigungsgrundlage und die Tatbestände, die seitens der EU-Kommission durch ausführende Rechtsakte weiter ausgekleidet werden sollen, möglichst klar zu umreißen.
Wie bedenklich es um die Europäisierung des Strafrechts bestellt ist, zeigt ein Blick in den "Bericht über den Vorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation", der aus der Feder des Ausschusses für Wirtschaft und Währung stammt und den Entwurf einer "legislativen Entschließung" enthält.[38]
Der bereits luftige Vorschlag der EU-Kommission nach Art. 4 RiIM-E soll nach dem Willen dieses Ausschusses nochmals großflächig erweitert werden. Ohne nähere Begründung sieht der Vorschlag vor, dass die Marktmanipulation zukünftig auch bei fahrlässiger Begehung eine Straftat darstellen soll. Die missverständliche Äußerung eines Verantwortlichen einer börsennotierten Aktiengesellschaft gerät damit in den Dunstkreis der informationsgestützten Marktmanipulation. Solche Fälle kommen allenfalls als Ordnungswidrigkeit in Betracht. Bei der handelsgestützten Marktmanipulation soll nach dem Willen des Ausschusses auch nicht mehr nur das "Aussenden falscher oder irreführender Signale", sondern zudem das "voraussichtliche Aussenden" erfasst werden. Ebenso soll für die Strafbarkeit der handelsgestützten Marktmanipulation nicht mehr die Beeinflussung des Kurses eines Finanzinstruments erforderlich sein, sondern bereits die "voraussichtliche Beeinflussung" genügen. In Verbindung mit der vorgesehenen Fahrlässigkeitsstrafbarkeit würde der Tatbestand nochmals an Bestimmtheit verlieren.
Der fragwürdige Vorschlag der EU-Kommission wurde also nicht etwa zum Anlass genommen, um einen besseren Vorschlag einzufordern oder selbst zu unterbreiten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die unbestimmten Merkmale ("Kunstgriffe") werden durchgewinkt, um das Ganze nochmals zu verschärfen und mit einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu unterlegen. Zwar ist nicht zu erwarten, dass ein solcher Vorschlag im Rat eine Mehrheit findet. Das Beispiel zeigt aber, dass es einigen EU-Institutionen für eine Angleichung des Strafrechts noch an der erforderlichen Sensibilität fehlt und belegt die Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten ihre Aufgabe im Rat wahrnehmen. Dazu gehört auch, das Vetorecht nach Art. 83 Abs. 3 AEUV zu aktivieren und im Ernstfall die Notbremse zu ziehen.
Immerhin handelt es sich bei den Entwürfen der EU-Kommission (MMOV-E und RiIM-E) um eines der ersten Vorhaben zur Europäisierung des Strafrechts nach Art. 83 Abs. 2 AEUV. Das Ergebnis ist einstweilen als trostlos zu bezeichnen. Die Befürchtungen derjenigen, die der Verlagerung von Strafrechtssetzungskompetenzen auf die EU skeptisch gegenüber stehen, wurden bei Weitem übertroffen. Als besonders enttäuschend muss das Verhalten des EU-Parlaments gelten, wenn ein Ausschuss der Parlamentarier allen Ernstes einen europaweiten (!) Tatbestand vorschlägt, der als Marktmanipulation den "Abschluss einer Transaktion, Erteilung eines Kauf- oder Verkaufsauftrags und jegliche sonstige Tätigkeit oder Handlung an Finanzmärkten, die den Kurs eines oder mehrerer Finanzinstrumente oder eines damit verbundenen Waren-Spot-Kontrakts beeinflusst, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder unter Verwendung sonstiger Kunstgriffe oder Formen der Täuschung"
erfasst wissen will. Gewiss steht ein Ausschuss nicht für das gesamte EU-Parlament. Es bedarf aber offenbar noch längerer Zeit, bevor Vorschriften wie Art. 49 Abs. 1 der Grundrechtecharta von den EU-Institutionen verinnerlicht werden.
Bei einer Umsetzung des Vorhabens der EU-Kommission könnte es in den Mitgliedstaaten zu Folgeproblemen kommen, die sich aus der Verzahnung unmittelbar anwendbaren EU-Rechts mit dem nationalen Strafrecht ergeben. Um diese schwierigen Rechtsfragen im Detail zu prüfen, muss man freilich die endgültigen EU-Rechtsakte abwarten. Sollte sich die EU-Kommission mit ihrem Vorhaben tatsächlich durchsetzen, werden einige Voraussetzungen der Marktmanipulation in einer EU-Verordnung abschließend geregelt. Dann besteht eine Option des deutschen Gesetzgebers darin, dass ein nationales Strafgesetz im Wege der Blankettstrafgesetzgebung auf einzelne Vorschriften der EU-Verordnung zur Marktmanipulation verweist. Die EU-Verordnung birgt die in einzelnen Artikeln formulierten Verhaltensnormen, die der innerstaatliche Gesetzgeber mittels der Strafgesetze, die den Anforderungen aus der EU-Richtlinie genügen müssen, in Bezug nimmt. Dabei handelt es sich allerdings um ein Gesetzgebungsmodell, das sehr fehleranfällig ist. EU-Verordnungen unterliegen häufigen Änderungen. Dabei muss es sich nicht einmal um inhaltliche Änderungen handeln, möglich sind auch redaktionelle Überarbeitungen. Der nationale Gesetzgeber ist gehalten, solche Änderungen sorgfältig zu beobachten, weil er das Strafgesetz zeitgleich anpassen muss. Schafft er das nicht oder übersieht er eine Änderung im EU-Recht, kann es passieren, dass das Strafgesetz auf eine nicht mehr gültige und deshalb falsche Vorschrift verweist. Gelingt eine Anpassung nicht, verliert die strafrechtliche Regelung jedenfalls grundsätzlich ihre gesetzliche Bestimmtheit. An sich tatbestandsmäßige Handlungen sind dann bis zur Anpassung an die neue EU-Rechtslage straflos, weil dem innerstaatlichen Strafgesetz gleichsam die in Bezug genommene EU-Norm abhandengekommen ist. Das ist keineswegs eine nur temporäre Erscheinung, denn es liegt immer auch ein Fall nach § 2 Abs. 3 StGB bzw. § 4 Abs. 3 OWiG vor.[39] Nach diesen Vorschriften ist das mildeste Gesetz anzuwenden, wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert wird.[40] Blankettausfüllende Vorschriften sind davon nicht ausgenommen.[41] Dies führt zu kuriosen Ergebnissen, denn die mildeste aller Rechtslagen kann – infolge einer nicht mehr einschlägigen und deshalb falschen Verweisung auf eine EU-Verordnung – die Straflosigkeit sein. Sie kommt über § 2 Abs. 3 StGB auch dem Täter zugute, der die Tat begangen hat, als die Verweisung noch intakt war. Dabei handelt es sich keineswegs um eine theoretische Annahme. Man kann an dieser Stelle auf zahlreiche Entscheidungen verweisen, die sich diesem Problem widmen.[42]
Diese Fragen sollen hier nicht im Einzelnen vertieft werden. Es dürfte allerdings deutlich geworden sein, dass mit Verweisungen auf unmittelbar anwendbare EU-Vorschriften ungeheuer komplexe Regelungen erzeugt werden, wenn man den innerstaatlichen Gesetzgeber dazu zwingt, auf unmittelbar anwendbare Artikel im Sinne des MMVO-E zu verweisen.
Dieser Zwang führt noch zu einem weiteren Problem. Wenn man den europarechtlichen Grundsatz, dass ein Mitgliedstaat im nationalen Recht nicht mehr auf abschließende Regelungen in EU-Verordnungen zurückkommen darf, im Fall des Marktmissbrauchsrechts zu Ende denkt, dann bleibt z. B. Deutschland der Weg der zuvor beschriebenen Verweisungstechnik auf einzelne Artikel der MMVO. Betrachtet man diesen Weg aus strafrechtlicher Perspektive von der Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnormen her, dann würde die Verhaltensnorm abschließend europäisiert. Das führt zu Problemen, wenn sich Deutschland oder ein anderer Staat der Umsetzung der Richtlinie unter Berufung auf Art. 83 Abs. 3 AEUV widersetzt und zur Begründung etwa anführt, dass Regelungen zur Marktmanipulation zu weit gehen, die sich aber in der EU-Richtlinie und der EU-Verordnung finden. Das Problem liegt darin, dass über die unmittelbar geltende EU-Verordnung eine als mit der nationalen Strafrechtsordnung nicht vereinbar empfundene Regelung eben doch im nationalen Recht anwendbar sein würde, denn diese unmittelbare Anwendbarkeit liegt gerade im Wesen der EU-Verordnung. In diesem Fall muss es möglich sein, dass ein Mitgliedstaat auf dem Gebiet des Strafrechts eigene und strafrechtlich engere Regelungen trifft, weil ansonsten Art. 83 Abs. 3 AEUV leer laufen würde.
Ob es solche Schnittmengen zwischen EU-Verordnungen im Sinne von Verhaltensnormen und EU-Richtlinien geben wird, bleibt abzuwarten. Die Vorschläge zum Marktmissbrauch steuern aber auf dieses Problem zu. Wenn das EU-Marktmissbrauchsrecht in einer EU-
Verordnung und in einer Richtlinie nach Art. 83 Abs. 2 AEUV eine Regelung enthält, die grundlegende Aspekte der Strafrechtsordnung eines Mitgliedstaats berührt, muss es diesem Mitgliedstaat im Lichte des Art. 83 Abs. 3 AEUV möglich sein, das nationale Strafrecht von einer solchen Regelung abzuschotten. Das würde allerdings bedingen, dass nationales (Straf-)Recht auf einen scheinbar vom EU-Recht abschließend geregelten Sachverhalt zurückkommt. Aber das ist kein Verlust, sondern letztlich im Vertrag von Lissabon angelegt und dient der Wahrung des Primärrechts.
Kompetenzrechtlich wirkt das ganze Vorhaben und Vorgehen der EU-Kommission ohnehin als zweifelhaft. Wenn in zeitlich parallel laufenden Gesetzgebungsverfahren mittels einer EU-Verordnung die Verhaltensnormen abschließend formuliert und vorgegeben werden, verzahnt sich eine darauf aufsetzende Richtlinie nach Art. 83 Abs. 2 AEUV mit der Regelungsmaterie derart, dass am Ende von "Mindestvorschriften" im Sinne des Art. 83 AEUV kaum noch die Rede sein kann. Letztlich werden nämlich die Tatbestände und Rechtsfolgen weitgehend harmonisiert. Unterschiede in den oberen Bereichen einzelner Strafrahmen mag es zwar noch geben, entscheidend ist aber, dass mittels dieser Verzahnung von EU-Verordnung und EU-Richtlinie eine Quasi-Vollharmonisierung eintritt. Ob das dem Bild des Art. 83 Abs. 2 AEUV und damit dem Willen des Vertrages von Lissabon entspricht, kann bezweifelt werden.
Die EU-Kommission sollte sich gut überlegen, ob sie diese Art von "europarechtlicher Zange" auch in Zukunft ausfahren will. Jedenfalls bedarf es dafür überzeugenderer Gesetzgebungsinitiativen. Die Möglichkeit des Vetos nach Art. 83 Abs. 3 AEUV darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass mit der nationalen Strafrechtsordnung unvereinbare Regelungen (im Sinne von blankettausfüllenden Verhaltensnormen) über den Umweg der EU-Verordnung letztlich doch Einzug halten.
Wer sich mit dem europäisierten Bank- und Kapitalmarktstrafrecht beschäftigt, kennt europäisierte Strafvorschriften, die in aberwitzige Verweisungsketten führen oder sich in verqueren Formulierungen verstricken. Als Beleg sei nur ein Beispiel genannt: Im geltenden Recht stellen die §§ 20a Abs. 1, 38 Abs. 2 WpHG die Marktmanipulation unter Strafe. Gemäß § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WpHG darf man keine unrichtigen oder irreführenden Angaben über Umstände machen, die für die Bewertung eines Finanzinstruments erheblich sind. Der Begriff "Finanzinstrument" ist eine Wortschöpfung, die in § 2 Abs. 2b WpHG definiert wird. Der Leser erfährt dort u. a., dass Finanzinstrumente Wertpapiere und Geldmarktinstrumente sind. Wer nicht weiß, was ein Finanzinstrument ist, wird allerdings auch mit der Vokabel Geldmarktinstrument hadern. Also blättert man weiter und gelangt irgendwann zu § 2 Abs. 1a WpHG, der den Begriff "Geldmarktinstrumente" definiert. Dort liest man, dass Zahlungsinstrumente keine Geldmarktinstrumente sind. Was nun wiederum unter dem Begriff "Zahlungsinstrumente" zu verstehen ist, bleibt offen. Das ist nicht nur sprachlich verquast, sondern gedanklich schief und unfertig.
Man könnte dem zahlreiche Beispiele hinzufügen, bei denen es noch viel schlimmer und konfuser zugeht. Das Beispiel der Finanzinstrumente eignet sich jedoch besonders gut, weil es zu den Entwürfen der EU-Kommission zurückführt. Nach Art. 2 Abs. 1 RiIM-E soll hinsichtlich des Merkmals "Finanzinstrument" wiederum auf andere Rechtsakte der EU verwiesen werden, die abermals weiter verweisen. Das Strafrecht kann durch aberwitzige Verweisungsketten jedoch buchstäblich aus den Nähten platzen. Strafrechtliche Regelungen müssen aus Gründen der Rechtssicherheit aber nicht nur konzeptionell und sprachlich möglichst klar formuliert sein. Sie dürfen auch nicht Gegenstand ständiger Gesetzesänderungen sein.
Die Entwürfe der EU-Kommission enthalten in den kapitalmarktstrafrechtlichen Details so viele Ungereimtheiten, dass hier nur einige Punkte angesprochen werden können. Der Rechtsausschuss des Bundestages übt an dieser Stelle große Nachsicht, da er nur wenige der heiklen Punkte anspricht. Seine Frage an die EU-Kommission, warum in Zukunft die Weitergabe einer Insiderinformation durch einen Sekundärinsider (!) eine Straftat darstellen soll, bedarf in der Tat einer Antwort durch die EU-Kommission. Es handelt sich um einen glatten Fall von Überkriminalisierung.
Die Ungereimtheiten sind an anderer Stelle aber noch viel größer. Widmet man sich den Details der Entwürfe, so bietet sich ein chaotisches Bild. Gefestigte Strukturen werden ohne Not aufgebrochen, Strafbarkeitslücken reißen auf, als geklärt scheinende Auslegungsfragen werden sich neu stellen. Man kann das Durcheinander in einem Aufsatz kaum ordnen. Um das Gemeinte an konkreten Beispielen zu belegen, seien nachfolgend aber wenige Punkte doch angesprochen:
Art. 3 RiIM-E widmet sich den "Insider-Geschäften". Dort sind die Fälle nachzulesen, in denen die Mitgliedstaaten für den Fall der vorsätzlichen Begehung sicherstellen müssen, dass entsprechende Handlungen eine Straftat darstellen. Das Ergebnis ist überraschend. Erwähnung findet zunächst der klassische Insiderhandel. Genannt wird die "Nutzung von Insider-Informationen zum Erwerb oder zur Veräußerung von Finanzinstrumenten, auf die sich die Informationen beziehen, durch Personen, die sich im Besitz dieser Informationen befinden, für eigene oder fremde Rechnung". Sodann will Art. 3 RiIM-E auch "die Änderung oder Stornierung eines Auftrags in Bezug auf das Finanzinstrument, auf das sich die Informationen beziehen, wenn der Auftrag vor Erlangen der Insider-Informationen erteilt wurde" erfasst wissen. Damit soll eine gleich bei Inkrafttreten des Insiderrechts erkannte Lücke geschlossen werden,[43] welche die EU-Kommission bisher aber nicht weiter
gestört hat und die die Unerlässlichkeit nach Art. 83 Abs. 2 AEUV nicht begründen kann.
Ferner erfasst der Entwurf die "Weitergabe von Insider-Informationen an Dritte, soweit dies nicht rechtmäßig im Rahmen der beruflichen oder geschäftlichen Pflichterfüllung erfolgt". Damit wird das bisher geltende Weitergabeverbot abgedeckt. Warum aber das in den §§ 38 Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr. 3 WpHG erfasste Empfehlungsverbot sogar für Primärinsider (!) von der EU-Kommission nicht genannt wird, Sekundärinsider jedoch bei Weitergabe einer Insider-Information nach dem Willen der EU-Kommission zukünftig "ins Gefängnis wandern" können, ist schlicht nicht nachvollziehbar. Der Ausschuss des EU-Parlaments schlägt wiederum vor, auch das Empfehlungsverbot strafrechtlich zu erfassen.
Aus dem Kreis der informationsgestützten Marktmanipulationen will Art. 4 lit. d RiIM-E folgende Handlung als Straftat gewertet wissen: "Die Verbreitung von Informationen, die falsche oder irreführende Signale hinsichtlich Finanzinstrumenten oder mit diesen verbundenen Waren-Spot-Kontrakten aussenden, sofern die betreffenden Personen durch die Verbreitung dieser Informationen einen Vorteil oder Gewinn für sich selbst oder für Dritte erzielen." Damit wird der subjektive Tatbestand der strafbaren Marktmanipulation mit etwas versehen, was man grob als Bereicherungsabsicht bezeichnen kann. Der Bericht des Ausschusses des EU-Parlaments verzichtet wiederum auf diese subjektive Anforderung. Sollte sich die EU-Kommission durchsetzen, wird dieses Rechtsgebiet um Jahrzehnte zurückgeworfen. Insbesondere in Fällen organisierten Vorgehens wird es für die Strafverfolgungsbehörden sehr schwierig werden, demjenigen, der die Information verbreitet hat, auch nachzuweisen, dass er einen auf Vorteils- oder Gewinnerzielung für sich oder einen Dritten bezogenen Vorsatz gebildet hatte. Bei arbeitsteiligem Vorgehen müssen diejenigen, die die unrichtigen Informationen verbreiten, gerade nicht auch diejenigen sein, die die betroffenen Finanzinstrumente handeln. Aus den äußeren Tatumständen kann dann nicht auf den Vorsatz geschlossen werden. Freilich können Mitgliedstaaten im vorliegenden Fall der Mindestharmonisierung von dem Vorschlag abweichen. Man fragt sich aber gleichwohl, ob die EU-Kommission von den einschlägigen Taten eine hinreichende Vorstellung hat.
Einen weiteren Fehler dürfte die EU-Kommission damit begehen, dass sie in dem MMVO-E abschließende Regelungen trifft, aber für die Anwendung des Kapitalmarktstrafrechts elementare Auslegungsregeln aufgibt, die in den Erwägungsgründen der Insiderhandelsrichtlinie und der Marktmissbrauchsrichtlinie noch enthalten waren. So ist es kaum zu begründen, warum in den Entwürfen der EU-Kommission der 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/6/EG nicht mehr vorkommt. Die Vorschrift repräsentiert den Klassiker der richtlinienkonformen Auslegung im Insiderrecht.[44] Da dem Erwerb oder der Veräußerung von Insiderpapieren eine entsprechende Entscheidung der Person vorausgehen muss, die erwirbt bzw. veräußert, soll die Tatsache dieses Erwerbs oder dieser Veräußerung als solche nicht als Verwendung von Insiderinformationen gelten. Allerdings besteht an dieser Stelle eine gewisse Hoffnung, da das EU-Parlament bereits auf diesen Fehler hingewiesen hat.
Verwirrung gibt es auch um Art. 7 und 8 RiIM-E. Art. 7 RiIM-E sieht eine Verantwortlichkeit von juristischen Personen vor. Voraussetzung ist nach Art. 7 Abs. 1 RiIM-E, dass eine in den Art. 3 bis Art. 5 des Entwurfs (Insiderstraftaten und Marktmanipulation) genannten Straftaten zugunsten der juristischen Person "von einer Person begangen wurde, die entweder allein oder als Teil eines Organs der juristischen Person gehandelt hat" und aufgrund der folgenden Befugnisse eine leitende Stellung innerhalb der juristischen Position einnimmt: eine Befugnis der Vertretung der juristischen Person, die Befugnis, Entscheidungen im Namen der juristischen Person zu treffen oder eine Kontrollbefugnis innerhalb der juristischen Person.
Nach Art. 7 Abs. 2 RiIM-E treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass juristische Personen zur Verantwortung gezogen werden können, wenn mangelnde Überwachung oder Kontrolle einer Person mit Leitungsaufgaben es einer ihr unterstellten Person ermöglicht hat, eine der in den Art. 3 und 5 des Entwurfs genannten Straftaten zugunsten der juristischen Person zu begehen.
Gemäß Art. 7 Abs. 3 RiIM-E schließt die Verantwortlichkeit juristischer Personen nach den Absätzen 1 und 2 die strafrechtliche Verfolgung natürlicher Personen als Täter, Anstifter oder Gehilfen bei in den Art. 3 bis 5 RiIM-E genannten Straftaten nicht aus. Dieser Regelungsmechanismus bildet in der Sache die §§ 30, 130 OWiG ab. Auch dort kann die Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG die Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG auslösen.[45]
Schließlich verpflichtet Art. 8 RiIM-E die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass gegen die im Sinne von Art. 7 des Entwurfs verantwortlichen juristischen Personen "wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen" verhängt werden können. Spezifisch strafrechtliche Sanktionen sind damit nicht zwingend gefordert.
Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang aber der 14. Erwägungsgrund im RiIM-E. Danach sollten im Interesse einer wirksamen Durchführung der mit dem MMVO-E vorgegebenen europäischen Maßnahmen zur Sicherung der Integrität der Finanzmärkte "die Mitgliedstaaten die Verantwortlichkeit auf juristische Personen ausweiten, was weitestmöglich auch für die strafrechtliche Verantwortlichkeit gelten sollte". Die Vokabel "weitestmöglich" wird so zu verstehen sein, dass Staaten, die bisher kein Unternehmensstrafrecht im engeren Sinne kennen, es dabei belassen können. Der deutsche Weg nach §§ 30, 130 OWiG wird nicht nur den unionsrechtlichen Vorgaben
gerecht,[46] sondern könnte zum europäischen Vorbild werden.[47]
Art. 7 und 8 RiIM-E stehen aber nicht allein. Art. 26 Abs. 1 MMVO-E sieht eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Unternehmen vor. Genannt werden in Art. 26 Abs. 1 lit. k MMVO-E "Geldbußen, die bis zur zweifachen Höhe der erzielten Gewinne oder vermiedenen Verluste gehen können, sofern diese sich beziffern lassen".
Art. 26 Abs. 1 lit. m MMVO-E lehnt sich gedanklich an das EU-Kartellbußgeldrecht an und lässt "im Falle einer juristischen Person Geldbußen von bis zu 10 % des jährlichen Gesamtumsatzes des Unternehmens im vorangegangenen Geschäftsjahr" zu. Handelt es sich bei der juristischen Person um die Tochtergesellschaft einer Muttergesellschaft im Sinne der Art. 1 und 2 der Richtlinie 83/349/EWG, ist der jährliche Gesamtumsatz des vorangegangenen Geschäftsjahrs im konsolidierten Abschluss der führenden Muttergesellschaft gemeint.
Anstatt die Reform des EU-Marktmissbrauchsrechts aufzugeben, treibt die EU-Kommission das Vorhaben weiter voran.[48] Die Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten geben sich in Arbeitsgruppen alle Mühe, um zu retten, was noch zu retten ist. Sie haben aber offenbar nicht die Kraft gefunden, sich diesem Irrweg auf der EU-Ebene entgegen zu stellen. Damit ist jedoch nichts entschieden. Es bleibt fraglich, ob diese Angleichung des Strafrechts nicht doch an einigen Mitgliedstaaten scheitert. Auch Deutschland könnte dazu gehören, was allerdings erst anhand der endgültigen Fassung beurteilt werden kann.
Die EU wäre gut beraten, das Projekt aufzugeben. Das mittlerweile chaotisch wirkende Reformvorhaben könnte sich zu einem weiteren Beispiel für den Zerfalls- und Erosionsprozess des Unionsrechts entwickeln.[49] Das zeigt sich schon daran, dass im Punkt der Angleichung des Strafrechts die ersten Mitgliedstaaten aussteigen. Das Vereinigte Königreich und Dänemark haben bereits angekündigt, die Richtlinie nicht umzusetzen.[50]
Es wirkt im Lichte des Art. 83 Abs. 2 AEUV befremdlich, wenn die Angleichung des Strafrechts nach Auffassung der EU-Kommission geradezu "unerlässlich" für die wirksame Durchführung der Politik der Union sein soll, aber einzelne Mitgliedstaaten resignieren und abwinken.
Das gesamte Projekt ist Ausdruck eines Irrwegs internationaler Rechtsangleichung, der in rechtsstaatlich bedenklichen Regelungen münden wird.[51] Soweit sich Deutschland dafür entscheidet, im Strafrecht die Regelungen der neuen Verordnung zum Marktmissbrauch durch Verweise in Bezug zu nehmen, könnte das die Praxis (Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte) bei der Bekämpfung der Marktmanipulation um Jahre zurückwerfen. Die Compliance-Abteilungen von börsennotierten Unternehmen und Kreditinstituten werden sich wieder einmal mit neuem EU-Recht auseinandersetzen müssen. Daran zeigt sich, dass sich die EU-Regulierung der Finanz- und Kapitalmärkte selbst ersticken könnte. Das komplexe EU-Kapitalmarktrecht läuft Gefahr, sich selbst zu fressen, weil es zwar geltendes, aber in der Praxis kaum noch anwendbares Recht darstellt. Geht das so weiter, wird diese Art internationaler Rechtsangleichung zur Gefahr für Europa und seine Finanzmärkte.
[1] Vorschlag der Europäischen Kommission vom 20.10.2011, KOM (2011), 651 endgültig in der geänderten Fassung vom 25.07.2012, KOM (2012), 421 final.
[2] Vorschlag der Europäischen Kommission vom 20.10.2011, KOM (2011), 654 endgültig in der geänderten Fassung vom 25.07.2012, KOM (2012), 420 final.
[3] Unmittelbar nach der Vorstellung des Entwurfs bereits Veil/Koch WM 2011, 2297 ff.; siehe ferner Barta DZWir 2012, 178 ff.; Hellgardt AG 2012, 154 ff.; Viciano-Gofferje/Cascante NZG 2012, 968 ff., alle mit weiteren Nachweisen.
[4] Schröder, in: Festschrift für Achenbach (2011), S. 491, 495 f.; Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen (2012), S. 39 ff.
[5] Insbesondere EuGH, Urt. v. 23.10.2007 – Rs. C-440/05, Kommission/Rat, Slg. 2007, I-9097 (Rn. 66, 70 f.); kritisch BVerfGE 123, 267, 411; Kubiciel ZIS 2010, 742, 744. Überblick bei Hecker, Europäisches Strafrecht, 4 . Aufl. (2012), § 8 Rn. 2 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2011), § 9 Rn. 3 8 ff. ; Schröder, a.a.O. (Fn. 4), S. 491, 495; Schützendübel, a.a.O. (Fn. 4), S. 39 f.
[6] Ausführlich Schützendübel, a.a.O. (Fn. 4), S. 41 ff.
[7] BT-Drucks. 17/9770 vom 23.05.2012, S. 3 ff., dazu bereits Schröder, Europa in der Finanzfalle: Irrwege internationaler Rechtsangleichung (2012), S. 92 ff.
[8] Europäischer Rat, Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger (2010/C 115/01), ABl. C 115/1 vom 04.05.2010, S. 1 ff.
[9] RiIM-E, a.a.O. (Fn. 2), S. 3.
[10] RiIM-E, a.a.O. (Fn. 2), S. 3.
[11] RiIM-E, a.a.O. (Fn. 2), S. 3 f.
[12] RiIM-E, a.a.O. (Fn. 2), S. 3.
[13] Vogel in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 46. Erg.-Lfg. (2011), EU-Arbeitsweisevertrag Art. 83 Harmonisierung, Rn. 83; Schützendübel, a.a.O. (Fn. 4), S. 40.
[14] Ähnlich Vogel, a.a.O. (Fn. 13), Rn. 82.
[15] RiIM-E, a.a.O. (Fn. 2), S. 3 f.
[16] Zu dieser Entscheidung Schützendübel, a.a.O. (Fn. 4), S. 39 ff.
[17] BVerfGE 123, 267, 412.
[18] Treffend Vogel, a.a.O. (Fn. 13), Rn. 83.
[19] Kubiciel ZIS 2010, 742, 745.
[20] BT-Drucks. 17/9770, S. 3 f.
[21] Schröder, a.a.O. (Fn. 4), S. 491, 495 f.
[22] Ausführlich Schröder, a.a.O. (Fn. 7), S. 15 ff., 75 ff.
[23] Schröder, a.a.O. (Fn. 7), S. 81 ff. (zur Dot.Com-Blase), zur fragwürdigen Rolle der EU-Kommission im Vorfeld der Staatsschuldenkrise siehe S. 53 ff.
[24] LG München NStZ 2004, 291, sowie LG München BKR 2006, 465 ("Vielzahl von Ad-hoc-Mitteilungen").
[25] BGH NZG 2005, 132, 133.
[26] LG Augsburg NStZ 2005, 109 (mit lesenswerter Schilderung einzelner Ad-hoc-Mitteilungen).
[27] Schröder, a.a.O. (Fn. 7), S. 81 ff.
[28] Richtlinie 79/279/EWG des Rates vom 05.03.1979 zur Koordinierung der Bedingungen für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse, ABl. L 66 vom 16.03.1979, S. 21 ff.
[29] Hellwig NJW-Beilage 2010, 94; Kasiske, in: Schünemann (Hrsg.), Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität (2010), S. 13; Schröder, Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. (2010), Rn. 1080 ff.
[30] Dazu bereits Schröder (Fn. 7), S. 42 ff.
[31] Abrufbar im Internet: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=REPORT&reference=A5-2004-0040&language=DE (Stand: 28.05.2013).
[32] Abrufbar im Internet: http://ec.europa.eu/internal_market/securities/docs/agencies/communication_de.pdf (Stand: 28.05.2013).
[33] Zusammenfassend Möllers/Wecker ZRP 2012, 106 ff.
[34] BT-Drucks. 17/9770, S. 5 f.
[35] EuGH, Urt. v. 12.12.1996 – verb. Rs. C-74/95 und C-129/95, Strafverfahren gegen X, Slg. 1996, I-6609 ff.; dazu Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (2002), S. 32 ff.
[36] Die Verfassungswidrigkeit der "sonstigen Täuschungshandlungen" im geltenden Recht stellen bereits in Frage Altenhain, in: Hirte/Möllers (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpHG (2007), § 38 Rn. 21; Raabe, Der Bestimmtheitsgrundsatz bei Blankettstrafgesetzen am Beispiel der unzulässigen Marktmanipulation (2007), S. 174 ff.; Schmitz ZStW 115 (2003), 501, 528; Vogel, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), WpHG, 6. Aufl. (2012), § 20a Rn. 207; zusammenfassend Sorgenfrei, in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, 3. Aufl. (2013), Teil 3 Kap. 4 Rn. 186 ff.; dagegen Schröder, a.a.O. (Fn. 29), Rn. 546 (noch verfassungsgemäß aufgrund der dort erläuterten Auslegungsmethodik); Waschkeit, Marktmanipulation am Kapitalmarkt (2007), S. 248 f.
[37] Siehe die Verordnung zur Konkretisierung des Verbotes der Marktmanipulation (Marktmanipulations-Konkretisierungsverordnung – MaKonV) vom 01.03.2005, BGBl. I 2005, S. 515, abgedruckt auch bei Schröder, a.a.O. (Fn. 29), Textanhang V.
[38] Europäisches Parlament, Ausschuss für Wirtschaft und Währung, Bericht über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), (COM(2011)0654-1 – C7-0358/2011 – 2011/0297(COD), vom 19.10.2012, A 7- 0344/2012.
[39] Schröder, in: Deutscher Anwaltsverein (Hrsg.), Anwälte und ihre Geschichte (2011), S. 967, 974 ff.; ders. ZLR 2004, 265, 268 ff.; ders., in: Festschrift für Mehle (2009), S. 597, 601 ff.; Schützendübel, a.a.O. (Fn. 4), S. 77 ff.; ferner Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. (2007), § 2 Rn. 59 f.; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. (2011), § 2 Rn. 18.
[40] Ähnliche Fragen stellen sich in anderen Rechtsordnungen der EU, statt vieler nur EuGH, Urt. v. 23.02.1995 – verb. Rs. C-358/93 und C-416/93 (Bordessa), Slg. 1995, I-361 ff.; dazu Schröder, a.a.O. (Fn. 34), S. 265 ff.
[41] BGHSt 20, 177, 181; Schröder ZStW 112 (2000), 44, 57 ff.
[42] BayObLGSt 1992, 121 ff.; OLG Köln NJW 1988, 657 ff.; OLG Stuttgart NJW 1990, 657 f.; OLG Koblenz NStZ 1989, 188 f.; OLG Düsseldorf NJW 2008, 930 ff.; OLG Koblenz NJW 2007, 2344, zum Ganzen BVerfG NJW 2008, 3769 f.; kritisch dazu Schröder, in: FS Mehle (Fn. 39), S. 597 (601 ff.); ders., in: Deutscher Anwaltsverein (Fn. 39), S. 975 ff.; Lösungsmodell für dieses Anpassungsproblem bei Schützendübel, a.a.O. (Fn. 4), S. 226 ff., 235 ff., 321 ff.
[43] Schröder, Aktienhandel und Strafrecht (1994), S. 139 f.; ders., a.a.O. (Fn. 29), Rn. 358.
[44] Schröder, a.a.O.(Fn. 29), Rn. 205, 224, ergänzend Rn. 149.
[45] Achenbach, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, 1. Teil Kap. 2 Rn. 7; ders. NZWiSt 2012, 321, 323.
[46] Wie hier Hohn, in: Momsen/Grützner (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 1. Aufl. (2013), 6. Kap. B. Fn. 4.
[47] Zur Frage, ob ein Unternehmensstrafrecht eingeführt werden soll, Kindler, Das Unternehmen als haftender Täter, 2008, passim; kritisch etwa Schork/Reichling StraFo 2012, 125, 127 f.; Sorgenfrei, a.a.O. (Fn. 35), Teil 3 Kap. 4 Rn. 46; Veil/Koch WM 2011, 2297, 2306, jeweils m.w.N.; siehe auch Achenbach NZWiSt 2012, 321 ff.
[48] Lesenswert dazu Parmentier BKR 2013, 133 ff.
[49] Schröder (Fn. 7), S. 11 f., 48 ff.
[50] Parmentier BKR 2013, 135 mit Nachweisen in Fn. 21.
[51] Schröder (Fn. 7), S. 75 ff.