HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2013
14. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

46. BGH 1 StR 391/12 – Beschluss vom 21. November 2012 (Frankfurt am Main)

Irrelevante Kenntnis der Finanzbehörde bei der Steuerhinterziehung (Täuschung; Unkenntnis; objektive Zurechnung: eigenverantwortliche Selbstgefährdung; notwendige Mitwirkung der Steuerbehörden und Zulassung der Vollendung zu Ermittlungszwecken); Bedeutungslosigkeit des Beweisantrages (Zustimmung zur Erstattung von Umsatzsteuer auf Grund von ermittlungstaktischen Erwägungen; Klarstellungsobliegenheit zur Erhaltung der Verfahrensrüge); kein Anspruch des Straftäters auf Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden zur Beendigung der Tat (Strafzumessung); Besorgnis der Befangenheit und Vorbereitung der Verständigung im Zwischenverfahren.

§ 370 AO; § 168 AO; Vor § 13 StGB; § 266 StGB; § 46 StGB; § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO; § 24 Abs. 2 StPO; § 202a StPO; § 338 Nr. 3 StPO

1. Der Tatbestand der Steuerhinterziehung in der Variante des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO setzt keine gelungene Täuschung voraus. Im Gegensatz zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ist bei § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht auf eine Kenntnis oder Unkenntnis der Finanzbehörden abzustellen oder das ungeschriebene Merkmal der „Unkenntnis“ der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt in den Tatbestand hineinzulesen (BGH NJW 2011, 1299). Selbst wenn der zuständige Veranlagungsbeamte und die zuständige Finanzbehörde von allen für eine zutreffende Besteuerung bedeutsamen Tatsachen Kenntnis haben und im Besitz aller hierfür erforderlichen Beweismittel sind, kann dies einer Tatvollendung nicht entgegen stehen.

2. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn erst das hieran anknüpfende Handeln der Finanzbehörden die zum Taterfolg führende Steuerfestsetzung bewirkt. Da § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AO nicht nur auf den unzuständigen Beamten anzuwenden ist, kann auch die Kenntnis aller Tatumstände beim zuständigen Finanzbeamten (etwa demjenigen, der von ihm für seinen Zuständigkeitsbereich selbst gefertigte falsche Steuererklärungen bearbeitet) einer Tatvollendung nicht entgegenstehen, gleich ob er kollusiv mit dem Erklärenden zusammenwirkt oder nicht. In dem aus Sicht des Täters erwartungsgemäß eingetretenen Taterfolg realisieren sich stets der durch Abgabe einer unrichtigen Erklärung in Gang gesetzte Kausalverlauf und die von § 370 AO rechtlich missbilligte Gefährdung des Steueraufkommens. Es liegt auch keine eigenverantwortliche Selbstschädigung vor.

3. Die Finanzbehörden dürfen bei der Gefahr, den Erfolg äußerst umfangreicher Ermittlungen zur Aufdeckung und Zerschlagung eines groß angelegten Umsatzsteuerhinterziehungssystems zu vereiteln, der Ermittlungstaktik Vorrang vor der Verhinderung einer einzelnen Tatvollendung durch Ablehnung der Zustimmung gemäß § 168 Satz 2 AO geben. Denn Straftäter haben keinen Anspruch darauf, dass die Finanz- oder die Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen sie einschreiten, um den Eintritt des Taterfolgs zu verhindern (BGH NJW 2011, 1299).

4. Weder die materielle Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung noch die behaupteten „ermittlungstaktischen Gründe“ stellen einen Nichtigkeitsgrund i.S.v. § 125 AO dar. Ein Verwaltungsakt ist nicht allein deswegen nichtig, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt oder die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet worden sind. Die zur Nichtigkeit führende besondere Schwere eines Fehlers liegt nur vor, wenn er die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen (BFH DStR 2010, 2400). 5. Es kann einen Täter auch in der Strafzumessung regelmäßig nicht entlasten, dass Ermittlungsbehörden nicht rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um den Eintritt des Taterfolgs zu verhindern, oder ihm laufende Ermittlungen nicht offenbart werden (BGH NJW 2011, 1299). Das gilt jedenfalls dann, wenn Umstände, die einen über eine bloße Mitursächlichkeit hinausgehenden konkreten Einfluss auf die Tatausführung gehabt (hierzu vgl. BGH NStZ-RR 2009, 167) oder ein Einschreiten der Finanz- und Ermittlungsbehörden unabweisbar geboten hätten (dazu vgl. BGH NJW 2005, 763) und die daher Einfluss auf die Strafzumessung hätten haben können, nicht vorliegen.

6. Einer Rüge der fehlerhaften Ablehnung eines Beweisantrages könnte der Erfolg in der Revision schon deswegen zu versagen sein, weil nach dem Hinweis in der Erklärung des Vorsitzenden und den Gründen des Ablehnungsbeschlusses offensichtlich war, dass die ablehnende Strafkammer dem Beweisantrag eine möglicherweise der Bedeutungslosigkeit des Beweisantrages entgegenstehende, nicht naheliegende Bedeutung nicht beizumessen vermochte, und es die Verteidigung gleichwohl unterlassen hat, diesem aus ihrer Sicht bestehenden Fehlverständnis entgegenzuwirken (zu diesem Rechtsgedanken vgl. BGH NStZ-RR 2008, 382; BGH NStZ 2009, 171).

7. § 202a StPO umfasst neben einer bloßen Strukturierung des weiteren Verfahrens auch die Vorbereitung einer verfahrensbeendenden Absprache. Hierbei kann auch eine Strafober- und eine Strafuntergrenze angegeben werden (vgl. § 257c StPO). § 202a StPO begründet für das Gericht weder eine Pflicht, verfahrensfördernde Ge-

spräche zu führen, noch eine solche, bei einem Gespräch bezüglich der Straferwartung zu schweigen. Eine Bindungswirkung entfaltet die Erörterung des Verfahrensstandes nach § 202a StPO nicht.


Entscheidung

47. BGH 1 StR 407/12 – Beschluss vom 25. September 2012 (LG Detmold)

Umsatzsteuerhinterziehung (unberechtigter Vorsteuerabzug nach abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen; Scheinrechnung; Mittäterschaft ohne eigene Erklärungen; Steuerverkürzung im großen Ausmaß: Bedeutung tatsächlicher Auszahlung und der Saldierung bei der Umsatzsteuer; Strafzumessung: Bedeutung von Serientaten, der Haftung und des hohen Alters); Abgrenzung Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag (Zulässigkeit der Verfahrensrüge).

§ 370 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO; § 71 AO; § 25 Abs. 2 StGB; § 15 UStG; § 16 UStG; § 18 UStG; § 244 Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Täuscht der Täter steuermindernde Umstände vor, indem er nicht bestehende Vorsteuerbeträge geltend macht, liegt ab einem Betrag von 50.000 Euro eine Steuerverkürzung großen Ausmaßes (§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO) vor. Hierbei kommt es nicht auf Auszahlungen in Höhe von mehr als 50.000 Euro, sondern auf die Summe der zu Unrecht anerkannten oder geltend gemachten Vorsteuerabzugsbeträge an. Die Frage, ob und in welcher Höhe es zu Auszahlungen gekommen ist, sagt nichts über die Höhe der verkürzten Steuern aus. Auch wahrheitsgemäße Angaben können auf die Höhe des durch falsche Angaben zu anderen Vorgängen verursachten Schadens keinen Einfluss haben.

2. § 71 AO hat Schadensersatzcharakter und ist keine zusätzliche Strafsanktion für steuerunehrliches Verhalten. Allein die gesetzliche Pflicht, den schuldhaft (mit)verursachten Schaden ersetzen zu müssen, kann sich jedenfalls regelmäßig nicht strafmildernd auswirken. Eine strafmildernde Berücksichtigung der möglichen Heranziehung gemäß § 71 AO käme allenfalls dann in Betracht, wenn der Angeklagte nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls tatsächlich mit seiner Heranziehung „rechnen muss“ (BGH, Urteil vom 24. Oktober 2002 – 5 StR 600/01) und dies eine besondere Härte darstellen würde (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 2007 – 5 StR 461/06).

3. Im Alter von 60 und 61 Jahren begangene Steuerhinterziehungen im Rahmen eines hierfür selbst geschaffenen komplexen Systems sprechen gegen einen für das Maß der Schuld und damit die Strafzumessung bedeutsamen Altersabbau. Dies gilt umso mehr bei einem Angeklagten, der gleichartige Taten auch schon früher begangen hat.

4. Ein Straftäter hat keinen Anspruch darauf, dass staatliche Stellen rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um seine Taten zu verhindern. (Vorwerfbares) Verhalten des Steuerfiskus kann regelmäßig allenfalls dann zu einer milderen Beurteilung von Steuerhinterziehung führen, wenn es das Täterverhalten unmittelbar beeinflusst hat und die Tatgenese den staatlichen Entscheidungsträgern vorzuwerfen ist.

5. Eine strafmildernde Berücksichtigung serienmäßiger Tatbegehung kann vor allem dann zu erwägen sein, wenn die einzelnen Taten räumlich, zeitlich oder sonst besonders eng verschränkt sind. Im Übrigen kann sich das Vorliegen einer Vielzahl gleichartiger Taten je nach den Umständen des Falles auf die Strafzumessung unterschiedlich auswirken. Allein die zunehmende Gewöhnung an die Begehung gleichartiger Straftaten wäre nicht strafmildernd.

6. Der Unwertgehalt von Steuerstraftaten wird maßgeblich auch durch die Höhe des Steuerschadens bestimmt. Da serienmäßige Tatbegehung bei Steuerstraftaten zu höherem Steuerschaden führt, hat sie regelmäßig strafschärfende Bedeutung.

7. Der Stand eines Verfahrens gegen einen anderen Tatbeteiligten hat für die Strafzumessung keine Bedeutung. Es gilt nichts anderes als hinsichtlich der Strafzumessung gegen Tatbeteiligte in anderen Urteilen.

8. Auch dann, wenn der Angeklagte Tatbeiträge lediglich im Vorfeld falscher Steuererklärungen erbringt, kann er Mittäter sein, soweit ihm wegen seiner Tatbeiträge eine „Schlüsselstellung“ für gemeinschaftlich geplante Taten zukam.


Entscheidung

10. BGH 5 StR 328/12 – Urteil vom 28. November 2012 (LG Kiel)

Vermögensschaden bei Betrug und Vermögensnachteil bei Untreue (Schädigung durch Bewirken des rechtlichen Untergangs einer werthaltigen Forderung; Möglichkeit eines Schadenseintritts trotz späterer Erfüllung); Kognitionspflicht.

§ 263 StGB; § 266 StGB; § 264 StPO

Der rechtliche Untergang einer werthaltigen Forderung führt zum Eintritt eines Vermögensschadens i.S.d. §§ 263, 266 StGB zum Nachteil des Gläubigers dieser Forderung. Dem steht es nicht zwingend entgegen, dass die Forderung zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich erfüllt wird.


Entscheidung

93. BGH 4 StR 142/12 – Beschluss vom 25. September 2012 (LG Halle)

Einschleusen von Ausländern (Genehmigungswirkung eines Visums; Aufenthaltsgenehmigung bei visumsfreier Einreise und Aufnahme einer Erwerbstätigkeit; keine Aufenthaltsgenehmigung bei Aufnahme einer rechtswidrigen Tätigkeit).

§ 92a Abs. 1 AuslG a.F.;§ 92 AuslG Abs. 1 Nr. 1 a.F; Art. 1 EUVisaVO; Art. 4 Abs. 3 EUVisaVO; § 3 Abs. 1 Satz 2 AuslG a.F. i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 12 DVAuslG a.F.; Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 5 SDÜ

1. Bei der Frage, ob sich ein Ausländer im Tatzeitraum durch die Aufnahme einer Arbeit nach damaliger Rechtslage wegen unerlaubten Aufenthalts gemäß § 92 AuslG – und wer ihm hierbei behilflich war, als Gehilfe gemäß § 92a AuslG– strafbar gemacht hat, ist zunächst danach zu unterscheiden, ob der Ausländer über ein formell gültiges Visum verfügte oder nicht. War ein solches erteilt, entfaltete es Tatbestandswirkung unabhängig von seiner materiell-rechtlichen Richtigkeit; der Aufenthalt

war daher auch dann erlaubt, wenn das Visum den Aufenthalt zum Zwecke der Erwerbstätigkeit nicht umfasste oder rechtsmissbräuchlich erlangt worden war (vgl. BGHSt 50, 105).

2. In Fällen, in denen der Ausländer für die Einreise kein Visum benötigte, solange er keine Erwerbstätigkeit aufnimmt, kann er sich durch die Arbeitsaufnahme wegen unerlaubten Aufenthalts strafbar machen (vgl. BGHSt 50, 105, 116). Ob die Erwerbstätigkeit des Ausländers zu einem unerlaubten Aufenthalt und damit zur Strafbarkeit führt, hängt dabei davon ab, ob er einem Positivstaat im Sinne der EU-Visa-VO und der DVAuslG angehört und damit zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ein Visum benötigt. Dies ist gesondert nach Maßgabe der – insoweit nicht deckungsgleichen – Anlagen zur EU-Visa-VO und denen zur DVAuslG zu prüfen.

3. Wegen des allgemeinen unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im Fall der Kollision zwischen nationalem und Unionsrecht (st. Rspr.; vgl. nur EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1253, 1269 – Costa/ENEL; Urteil vom 22. Oktober 1998 – Rs. C-10/97 bis C-22/97, NJW 1999, 200 – IN.CO.GE.’90 u.a.; BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 – Solange II) gehen die Bestimmungen der EU-Visa-VO dem inzwischen aufgehobenen AuslG wie auch dem an seine Stelle getretenen AufenthG vor.


Entscheidung

60. BGH 2 StR 410/12 – Beschluss vom 6. November 2012 (LG Koblenz)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (für die Eigennützigkeit erforderliche Feststellungen).

§ 29 BtMG

1. Eigennützig handelt der Täter, dem es auf einen persönlichen Vorteil, insbesondere auf die Erzielung von Gewinn ankommt. Sein Handeln muss vom Streben nach Gewinn geleitet sein oder er muss sich sonst irgendeinen persönlichen Vorteil von ihm versprechen, durch den er materiell oder immateriell besser gestellt wird (st. Rspr.).

2. Zwar kann grundsätzlich ein relevanter Vorteil darin liegen, durch Hingabe von Betäubungsmitteln im Rahmen einer bestimmten wertmäßigen Anrechnung von einer bestehenden Geldverbindlichkeit befreit zu werden, doch ist auch insoweit die Feststellung einer Gewinnerzielungsabsicht erforderlich. Wer Rauschgift einkauft, um es ohne Gewinn zum gleichen Preis weiterzugeben, handelt nicht eigennützig (vgl. BGH StV 1992, 420). Gleiches muss gelten, wenn der Verrechnung auf bestehende Schulden lediglich der Einkaufspreis der erworbenen Betäubungsmittel zugrunde gelegt wird.