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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2012
13. Jahrgang
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Von Dr. Christoph Burchard, LL.M. (NYU), LMU München
" … an unannounced entry may provoke violence in supposed self-defense by the surprised resident." Dieser wenig überraschende Gemeinplatz könnte, wäre er nicht auf Englisch, aus dem "Rocker"-Urteil des zweiten BGH-Strafsenats v. 2.11.2011 - 2 StR 375/11, HRRS 2012 Nr. 153[1] - stammen. Karl-Heinz B., ein nicht vorbestraftes Mitglied der "Hells Angels", hatte Manuel K., ein Mitglied eines Sondereinsatzkommandos (SEK), im Rahmen einer auch im unmittelbaren Vorfeld nicht angekündigten, mit einem überraschenden Eindringen geplanten Hausdurchsuchung[2] mit einer rechtmäßig besessenen Waffe erschossen. Der BGH sprach den Angeklagten B. wegen aller Straftaten gegen das Leben (Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung) frei. B. habe in "strafloser Putativnotwehr", nämlich aufgrund eines unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtums, gehandelt. Er sei fälschlicherweise, aber unvermeidbar davon ausgegangen, Mitglieder der rivalisierenden Motorradgang der "Bandidos" würden seine Wohnung stürmen und sein Leben bedrohen, wobei dem B. in seiner konkreten Kampf- und Vorstellungslage weder Flucht noch ein Warnschuss anzusinnen war.
In Wahrheit stammt das Eingangszitat aus dem Jahre 2006 und geht auf den US Supreme Court zurück.[3] In den USA wird seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten über das häufig verhängnisvolle Zusammenspiel von unangekündigten (überraschenden) Hausdurchsuchungen und "schneidiger" Notwehr diskutiert, judiziert und legisliert. Dieser - positive wie negative - Erfahrungsschatz kann, wie in diesem Beitrag rechtsvergleichend darzustellen sein wird, auch die deutsche Notwehrdogmatik befruchten.[4] Eine Rechtsvergleichung mit den USA verspricht sowohl eine noch pointiertere Sensibilisierung für tatsächliche Probleme als auch noch differenziertere Vorschläge für dogmatische Problemlösungen. Denn wie in 2
StR 375/11 stehen in den USA zwei Problemkreise im Fokus: Die strafprozessuale Rechtmäßigkeit von unangekündigten Hausdurchsuchungen (sog. no-knock raids) einerseits und die Grenzen der Notwehr in kriminellen Milieus andererseits.[5]
Zunächst sollen daher einige Erfahrungen mit unangekündigten Hausdurchsuchungen in Deutschland und den USA vorgestellt werden; dabei sind nicht nur der Sachverhalt und die Entscheidungsgründe von 2 StR 375/11 in Erinnerung zu rufen, sondern es gilt auch anekdotisch darüber zu berichten, dass unangekündigte Hausdurchsuchungen eine polizeiliche "Standard"praxis zu sein scheinen (unten I.). Der zweite Teil widmet sich der verfassungs- und einfachrechtlichen Zulässigkeit unangekündigter Hausdurchsuchungen nach US-amerikanischen und deutschem Recht; dabei werde ich zur Diskussion stellen, dass die Nichtankündigung einer Hausdurchsuchung grundsätzlich mit Art. 13 Abs. 2 GG, §§ 102 ff. StPO vereinbar ist (unten II.). Der dritte und letzte Teil thematisiert abermals rechtsvergleichend die Spielräume und Grenzen "schneidiger"[6] Notwehr in kriminellen Milieus; insofern werde ich vertreten, Notwehrbefugnisse dogmatisch einzuschränken, wenn die Notwehr im kriminellen Milieu geübt wird, und der Notwehrübende sich zuvor hätte staatlichen Schutzes vergewissern können, dies aber nicht getan hat, z.B. um "selbst Krieg zu führen" (unten III.).
Dutzende Parallelfälle in den USA illustrieren, dass die polizeiliche Praxis Hausdurchsuchungen unangekündigt und in den frühen Morgenstunden vorzunehmen (in den USA sog. no-knock raids, da man weder anklopft noch sich ankündigt), unheilschwanger ist. Immerhin werden Bewohner zunächst bewusst im Unklaren darüber gelassen, ob nun Einbrecher oder Polizisten - oder allegorischer: "Räuber" oder "Gendarmen" - ihre Wohnung stürmen. Von der Warte der Bewohner erscheint es durchaus nachvollziehbar, sich gegen die unbekannten "Eindringlinge" zur Wehr zu setzen, während diesbezügliche Irrtümer von der Warte eines Strafverfolgungsapparates, der auf unangekündigte Durchsuchungen setzt, bewusst in Kauf genommen werden. Im Folgenden werden zunächst der Sachverhalt und die Entscheidungsgründe von 2 StR 375/11 rekapituliert (unten 1.), um dann ausgewählte US-amerikanische Parallelsachverhalte vorzustellen und deren Vergleichbarkeit zu eruieren (unten 2.). Abschließend kann anekdotisch über die Verbreitung unangekündigter Durchsuchungen in Deutschland berichtet werden (unten 3.).
Der zweite Strafsenat legte seiner hier zu besprechenden Entscheidung folgenden Sachverhalt zu Grunde:[7]
Der Angeklagte Karl-Heinz B., ein nicht vorbestraftes und führendes Mitglied des Motorradclubs "Hells Angels", war aufgrund konkreter Vorkommnisse davon überzeugt, dass ein Mitglied des konkurrierenden Clubs "Bandidos" einen Angriff auf ein Mitglied der "Hells Angels" plane. Zeitgleich erließ das AG in einem u.a. gegen den Angeklagten geführten Ermittlungsverfahren einen Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung. Weil der Angeklagte als gewaltbereit eingeschätzt wurde und mit behördlicher Erlaubnis über Schusswaffen verfügte, beschloss das Landeskriminalamt, dass ein Spezialeinsatzkommando (SEK) eingesetzt werden solle, um gewaltsam in das Haus des Angeklagten einzudringen, diesen im Schlaf zu überraschen, eine "stabile Lage" herzustellen und eine ungestörte Durchsuchung zu ermöglichen.
Am 17. März 2010 versuchte das SEK kurz nach 6.00 Uhr morgens die Tür des Wohnhauses des Angeklagten aufzubrechen. Der Angeklagte erwachte durch die Geräusche an der Eingangstür, bewaffnete sich mit einer Pistole, die mit acht Patronen geladen war, und begab sich ins Treppenhaus, wo er das Licht einschaltete. Er erblickte von einem Treppenabsatz aus durch die Teilverglasung der Haustür eine Gestalt, konnte diese aber nicht als Polizisten erkennen. Vielmehr nahm er an, es handle sich um schwerbewaffnete Mitglieder der "Bandidos", die ihn und seine Verlobte töten wollten. Er rief: "Verpisst Euch!" Hierauf sowie auf das Einschalten des Lichts reagierten die vor der Tür befindlichen SEK-Beamten nicht, obschon sie über die Hörsprecheinrichtung ihrer Helme die Meldung "Licht" erhalten hatten; sie gaben sich nicht zu erkennen und fuhren fort, die Türverriegelungen aufzubrechen.
Da bereits zwei von drei Verriegelungen der Tür aufgebrochen waren und der Angeklagte in jedem Augenblick mit dem Eindringen der vermeintlichen Angreifer rechnete, schoss er ohne weitere Warnung, insb. ohne einen Warnschuss abzugeben, nun gezielt auf die Tür, wobei er
billigend in Kauf nahm, einen der Angreifer tödlich zu treffen. Das Geschoss durchschlug die Verglasung der Tür, drang durch den Armausschnitt der Panzerweste des an der Tür arbeitenden Polizeibeamten ein und tötete diesen. Nun rief ein anderer Beamter: "Sofort aufhören zu schießen. Hier ist die Polizei." Der Angeklagte legte die Waffe sofort weg, lief zum Fenster und rief: "Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt? Wieso gebt ihr euch nicht zu erkennen?"
Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den B. zunächst wegen (Heimtücke‑ und Verdeckungs‑)Mordes.[8] Das Landgericht Koblenz bewertete die Handlung des Angeklagten hingegen als Totschlag. Es habe keine Notwehrlage vorgelegen, weil von einem insgesamt und durchgehend rechtmäßigen Polizeieinsatz auszugehen sei. Der Angeklagte sei auch keinem Erlaubnistatbestandsirrtum erlegen, so dass kein Fall strafloser Putativnotweht (§§ 32, 16 StGB) vorgelegen habe. Denn auch als vermeintliche Notwehrhandlung sei der sofortige Schusswaffeneinsatz gegen einen Menschen nicht geboten gewesen; zuvor hätte ein Warnschuss abgegeben werden müssen. Einen möglichen Verbotsirrtum habe der Angeklagte vermeiden können.
Dieser rechtlichen Wertung tritt der zweite Strafsenat in zweierlei Hinsicht entgegen.
Zunächst meldet er - obiter dictum - Bedenken an, ob der Polizeieinsatz in seiner konkreten Gestalt rechtmäßig war, namentlich ob den Beamten in den §§ 102 ff. StPO überhaupt eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für eine nicht offen ausgeführte Hausdurchsuchung zur Seite stand. Bei Durchsuchungen handele es sich um eine "grundsätzlich offen durchzuführende Maßnahme". § 164 StPO erlaube ein Einschreiten nur gegen eine tatsächlich vorliegende oder konkret bevorstehende Störung der Durchsuchung. Ob präventiv-polizeirechtliche Regeln das Verfahren der strafprozessualen Durchsuchung abändern können, sei fraglich.
Wohl um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, ließ der BGH diese Fragen dahinstehen.[9] Der Angeklagte habe sich jedenfalls in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden, der zum "Wegfall der Vorsatzschuld" führe. [10] Auf der Grundlage der (irrigen, aber offensichtlich glaubhaften) Vorstellungen des Angeklagten war - so der BGH - insbesondere die Abgabe eines Warnschusses nicht erforderlich gewesen. Zwar sei ein Notwehrübender in der Regel bei einem Schusswaffeneinsatz gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen oder vor einem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Einsatz zu versuchen. Die Notwendigkeit eines Warnschusses könne aber nur dann angenommen werden, wenn ein solcher Schuss auch dazu geeignet gewesen wäre, den Angriff endgültig abzuwehren. Hier war - so der BGH weiter - aus Sicht des Angeklagten zu erwarten, dass die hartnäckig vorgehenden Angreifer ihrerseits gerade dann durch die Tür schießen würden, wenn sie durch einen Warnschuss auf die Abwehrbereitschaft des Angeklagten aufmerksam gemacht worden wären. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang müsse sich ein Verteidiger nicht einlassen. Daher waren beide Schüsse, die der Angeklagte durch die Tür abgegeben hat, so der Schluss des zweiten Strafsenates, aus seiner Sicht erforderliche Notwehrhandlungen.
Dass der Tod des SEK-Beamten im internationalen Vergleich leider kein Einzelfall ist, und wie verhängnisvoll unangekündigte Hausdurchsuchungen enden können, verdeutlichen etliche Parallelsachverhalte aus den USA. Eine vom libertären "Cato Institute" im Jahre 2006 veröffentlichte Studie dokumentiert dutzende Fälle, in denen im Zusammenhang mit verdeckten Hausdurchsuchungen Beamte, Durchsuchte oder unbeteiligte Dritte schwer verletzt oder gar getötet wurden;[11] angesichts der Tatsache, dass - so zumindest die von Kraska[12] angegebene Größenordnung - allein in 2006 um die 50.000 no-knock raids in den USA durchgeführt wurden, überrascht das nicht weiter. Die besagten Sachverhalte lesen sich mitunter wie schlechte "Justizkrimis" und werfen ein trübes Bild auf die US-amerikanischen Kriminaljustizwesen. Um nur eine sehr kurze Auswahl vorzustellen:
Ein Vergleich zwischen diesen Sachverhalten und 2 StR 375/11 scheitert nicht an den je unterschiedlichen kulturellen, faktischen und rechtlichen Unterschieden. Das gilt selbst dann, wenn man plakativ und vereinfachend annehmen wollte, dass in den USA Eskalationsgefahren besonders intensiv sind, weil no-knock raids häufig - zumal im Kontext des notorischen war on drugs - von militärisch hochgerüsteten SWAT[16]-Teams durchgeführt werden, die einer waffenstarrenden Zivilbevölkerung gegenübertreten, in der verfassungsrechtlich gewährleisteter Waffenbesitz zum guten Ton gehört und in der die begründete Furcht besteht, dass bei Einbrüchen Gewalt geübt wird, gegen die es sich mit Waffengewalt zu wehren gilt. Solche "amerikanischen Verhältnisse" müssen gar nicht beschworen werden, um die strukturelle Vergleichbarkeit der US-Sachverhalte mit jenem von 2 StR 375/11 zu erkennen. Denn als rote Linie zieht sich durch die große Vielzahl der in den USA dokumentieren Einzelfälle, dass die Betroffenen einer no-knock-Hausdurchsuchung - prima vista durchaus nachvollziehbar - angeben, in den entscheidenden ersten Momenten die Eindringlinge nicht identifizieren zu können und deshalb zu (Verteidigungs‑)Waffen gegriffen zu haben. Sobald die Bewohner feststellen, dass man nicht "Räubern", sondern "Gendarmen" gegenübersteht, legen sie in der Regel die Waffen nieder.
Zwei Besonderheiten charakterisieren die US-Sachverhalte, die kein unmittelbares Pendant in 2 StR 375/11 finden, aber trotzdem eine kurze Erwähnung wert sind, da sie sich so oder so ähnlich auch in Deutschland zutragen könnten: Zum Ersten stellt sich in den USA mitunter das forensische und auch das beweisrechtliche[17] Nachweisproblem, ob sich die Beamten nun angekündigt und die Bewohner z.B. durch Anklopfen vorgewarnt haben. Hier steht nicht selten Aussage gegen Aussage, wobei Schutzbehauptungen von Seiten der Bewohner ebenso wenig ausgeschlossen sind wie eine Mauer des Schweigens (blue code of silence) hinsichtlich polizeilichem (Durchsuchungs‑)Fehlverhalten. [18] - Zum Zweiten ist in den USA das Phänomen zu beobachten, dass Kriminelle unter der Vorgabe, Repräsentanten der Staatsgewalt zu sein, Zutritt zu Wohnungen suchen und auch finden.[19] US-Bürger müssen und dürfen sich also nicht notwendigerweise darauf verlassen, dass eine - ggf. nur sehr kurzfristige ("Anklopfen und Eintreten" bzw. knock-and-enter) - Identifikation als Polizei oder als federal agent etc. der Wahrheit entspricht. Mit Blick auf 2 StR 375/11 stelle man sich nur vor, dass der Todesschütze dem Zuruf "Polizei" keinen Glauben schenkt und in der Annahme, die rivalisierenden "Bandidos" wollten ihn täuschen, weiter feuert und weitere Beamte verletzt.
Ob und in welchem Ausmaße die deutschen Polizeibehörden unangekündigte Hausdurchsuchungen durchführen, ist, soweit ersichtlich, rechtstatsächlich noch nicht erforscht. Insofern besteht großer Forschungsbedarf, wobei sich auch bundeslandspezifische Unterschiede
ergeben könnten. Einige wenige anekdotische Hinweise aus der Mitte der Polizei, die für diesen Beitrag eingeholt wurden, lassen vermuten, dass unangekündigte Durchsuchungen wesentlich häufiger vorkommen, als es der deutschen Strafrechtswissenschaft bekannt und lieb sein mag. So hört man, gerade im Bereich der Drogen- (Stichwort: Beweisvernichtung) und Kapitaldelikte sowie bei vermuteter Gewalt- oder Fluchtbereitschaft oder vermutetem Waffenbesitz des Bewohners werde "in der Regel" vor dem Eindringen nicht angeklopft; eine vorherige Anmeldung sei eher die Ausnahme. Das gelte umso mehr, wenn SEKs hinzugezogen würden; diese würden sich "sicherlich" nicht in Gefahr bringen, indem sie sich ankündigten. Die eingeholten Hinweise lassen vermuten, dass Nichtankündigungen generell praktiziert werden, wenn die Polizei anderenfalls einen taktischen Nachteil erwartet. Insofern werden die verschiedensten Wege beschritten, um ein Überraschungsmoment sicherzustellen (mitunter wird unter einer "Legende", z.B. als Postbote, geklingelt und einfach der Fuß in die Tür gestellt; im anderen Extrem werden Türen mitunter auch aufgesprengt). Diese Praktiken werden als "vernünftig" bezeichnet, weil sie den größten Erfolg bei geringstem Risiko und allemal eine erhöhte Erfolgswahrscheinlichkeit versprächen. - Es darf überdies vermutet werden, dass es sich dabei rechts(tatsachen)historisch nicht um eine neue und plötzliche Entwicklung handelt. Vielmehr könnte sich in der polizeilichen Praxis jene vorkonstitutionelle Ansicht des Reichsgerichts perpetuiert haben, dass die mit der "Vollziehung der Maßnahme beauftragten Beamten sich den Zugang in die zu durchsuchenden Räume mit Gewalt gegen Personen und Sachen erzwingen" [20] dürfen. Das stellt nachdrücklich in Frage, ob es sich bei der angekündigten Durchsuchung wirklich um den "Normalfall" handelt, dem die unangekündigte Durchsuchung als "Skandalfall" gegenüberzustellen ist. Darauf ist nunmehr näher einzugehen.
Durfte der Todesschütze B. Notwehr üben? Vor-, freilich nicht letztentscheidend ist insofern, ob die unangekündigte Durchsuchung rechtmäßig war, also kein rechtswidriger Angriff gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung des B vorlag. Um die Antwort vorweg zu nehmen: Die Durchsuchung war rechtswidrig, weil die Nichtankündigung nicht durch den Richter angeordnet wurde. Allerdings war die Verteidigung des B. gegen den rechtswidrigen Angriff auf die Unverletzlichkeit seiner Wohnung bei objektiver Betrachtung nicht erforderlich.
2 StR 375/11 wirft ein Schlaglicht auf eine polizeiliche Praxis, die bis dato im deutschen strafprozessualen Schrifttum nur wenig Beachtung fand: Eben die Praxis, Durchsuchungen unangekündigt auszuführen, um potentiell gewaltbereite Bewohner zu sichern, bevor diese Gewalt gegen die eindringenden Beamten üben zu können, sowie um Bewohnern die Möglichkeit zu nehmen, Beweismittel zu vernichten. Über die Legalität und Legitimität dieser polizeilichen Praxis entzünden sich heute, im Zuge von 2 StR 375/11, erste Kontroversen: Erb macht "rechtsstaatlich untragbare Praktiken" aus;[21] die Polizei teilt - was nicht weiter überraschen muss - diese Einschätzung nicht.[22]
In vielerlei Hinsicht vergleichbare Kontroversen finden sich in den USA, in denen heftig über Sinn bzw. Unsinn sowie über die verfassungs- und einfachrechtliche Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit von no-knock raids diskutiert wird. Diese Diskussionen werden im Anschluss in aller Kürze zusammengetragen (unten 1.), um darauf aufbauend die deutsche Rechtslage näher zu untersuchen bzw. weiterzuentwickeln (unten 2.). Insofern werde ich vertreten:
Die rechtliche Bewertung von no-knock raids erfolgt in den USA aus drei Stoßrichtungen: Ausgangspunkt ist die bedingte (bundes‑)verfassungsrechtliche Rechtmäßigkeit von unangekündigten Durchsuchungen, insbesondere die bedingte Vereinbarkeit mit dem vierten Zusatzartikel zur Bundesverfassung (s. unten a.).[23] Durchaus aufschlussreich ist die einfachrechtliche (Nicht‑)Ausgestaltung im einfachen Bundesstrafprozessrecht (s. unten b.). Als
Addendum ist zu erwähnen: Im Falle einer Verletzung des "Richtervorbehalts" für eine unangekündigte Durchführung der Durchsuchung soll kein Beweiseinführungsverbot (exclusionary rule) gelten (s. unten c.).
Der US Supreme Court musste in seiner langen und wechselvollen Geschichte häufig zu den bundesverfassungsrechtlichen Spielräumen und Grenzen von Hausdurchsuchungen Stellung beziehen. Umso überraschender ist es, dass der US Supreme Court erst im Jahre 1995 in Wilson v. Arkansas[24] in einer einstimmigen Entscheidung die bundesverfassungsrechtlichen Grundlagen von no-knock-Durchsuchungen herausgearbeitet hat. Diese Entscheidung erging zum vierten Zusatzartikel zur US-Bundesverfassung, der vorsieht:
"[T]he right of the people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures, shall not be violated, and no Warrants shall issue, but upon probable cause, supported by Oath or affirmation, and particularly describing the place to be searched, and the persons or things to be seized."
In Wilson v. Arkansas wurde klargestellt, dass das knock-and-announce-Prinzip des traditionellen Common Law Bestandteil des vierten Zusatzartikels ist, d.h. eine angemessene Durchsuchung (reasonable search and seizure) regelmäßig offen durchgeführt werden und ein Beamter sich regelmäßig z.B. durch Anklopfen ankündigen muss. Zustimmend werden insofern die blumigen Worte des englischen Semayne's Case aus dem 1603 zitiert, wonach die Staatsgewalt ("the sheriff") vor dem Eindringen in jemandes Wohnung (a man's house as "his castle of defence and asylum")
"ought to signify the cause of his coming, and to make request to open doors[…], for the law without a default in the owner abhors the destruction or breaking of any house (which is for the habitation and safety of man) by which great damage and inconvenience might ensue to the party, when no default is in him; for perhaps he did not know of the process, of which, if he had notice, it is to be presumed that he would obey it."[25]
Im Lichte dieser - in den USA überaus wichtigen - historischen Auslegung des vierten Zusatzartikels (der 1793 als Teil der sog. Bill of Rights Einzug in die US-Bundesverfassung fand) gilt in den USA folglich ein Grundsatz der angekündigten Durchführung von Durchsuchungen.
An anderer Stelle hat der US Supreme Court die tragenden (teleologischen) Gründe für diesen Grundsatz benannt. Nämlich Schutz der Privatheit der Bewohner einerseits sowie die Sicherheit von Bewohnern und Durchsuchenden andererseits ("privacy and security"[26] ):
Zum Schutz der Privatheit wurde bereits in Boyd v. US aus dem Jahre 1886 betont, dass der Schutz des vierten Zusatzartikels gelte für
"all invasions on the part of the government and its employe[e]s of the sanctity of a man's home and the privacies of life. It is not the breaking of his doors, and the rummaging of his drawers, that constitutes the essence of the offence; but it is the invasion of his indefeasible right of personal security, personal liberty and private property."[27]
Dies hat Justice Brennan - in einem abweichenden Minderheitsvotum aus dem Jahre 1963 - für jene (praktisch durchaus vorkommenden) Fälle weiterentwickelt, in denen die Durchsuchung auf einer Verwechslung beruht oder Unschuldige betroffen werden:
"[P]ractical hazards of law enforcement militate strongly against any relaxation of the requirement of awareness. First, cases of mistaken identity are surely not novel in the investigation of crime. The possibility is very real that the police may be misinformed as to the name or address of a suspect, or as to other material information. That possibility is itself a good reason for holding a tight rein against judicial approval of unannounced police entries into private homes. Innocent citizens should not suffer the shock, fright or embarrassment attendant upon an unannounced police intrusion."[28]
Diese pragmatische Herangehensweise trägt auch den zweiten Grund, warum Durchsuchungen in den USA regelmäßig offen auszuführen sind, nämlich um der Sicherheit von Bewohnern und auch der Durchsuchenden wegen. Wie Justice Brennan seinen oben bereits aufgerissenen Gedankengang fortführt:
"[T]he requirement of awareness also serves to minimize the hazards of the officers' dangerous calling. We expressly recognized[…] that compliance with the federal notice statute ‚is also a safeguard for the police themselves who might be mistaken for prowlers and be shot down by a fearful householder.' Indeed, one of
the principal objectives of the English requirement of announcement of authority and purpose was to protect the arresting officers from being shot as trespassers, ‚for if no previous demand is made, how is it possible for a party to know what the object of the person breaking open the door may be? He has a right to consider it as an aggression on his private property, which he will be justified in resisting to the utmost.'"[29]
Der plausibel begründete Grundsatz der offenen Durchführung von Durchsuchungen soll jedoch nicht rigide und ausnahmslos gelten. Vielmehr erlaubt, worauf Wilson v. Arkansas das Augenmerk lenkt, der vierte Zusatzartikel zur US-Bundesverfassung no-knock raids, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Die Rechtfertigungsgründe für eine ausnahmsweise zulässige no-knock‑Durchsuchung sind dabei, wie Kritiker monieren, so vielgestaltig und so sehr mit Rücksicht auf die Begehrlichkeiten der Exekutive formuliert, dass die Ausnahme zur Regel verkehrt wird. Bündig zusammengefasst soll gelten:
"This Court has fleshed out the notion of reasonable execution on a case-by-case basis, but has pointed out factual considerations of unusual, albeit not dispositive, significance. The obligation to knock and announce before entering gives way when officers have reasonable grounds to expect futility or to suspect that an exigency, such as evidence destruction, will arise instantly upon knocking."[30]
Zur besseren Einordnung lässt sich hierzu festhalten: Die eigentlichen Rechtfertigungsgründe (vermutete Sinnlosigkeit einer offenen Durchsuchung; Durchführung einer unangekündigten Durchsuchung wegen drohender Beweisvernichtung oder Gewaltbereitschaft des Bewohners) leuchten durchaus ein und stellen legitime Ziele dar. Die Umkehrung oder besser: die Relativierung von Regel (angekündigte Durchsuchung) und Ausnahme (nicht angekündigte Durchsuchung) erfolgt jedoch dadurch, dass die Exekutivorgane vor Ort handlungsaktuell sowie ex ante beurteilen dürfen, ob "ausnahmsweise" der "vernünftige Verdacht" (reasonable suspicion) besteht, dass der Verzicht auf eine vorherige Ankündigung zulässig und notwendig wird - bzw. in deutscher Terminologie: ob insofern Gefahr in Verzug besteht. [31]
Wie weit dies gesponnen und wie weit damit die Autorität richterlicher Anordnungen unterminiert wird, illustrieren Richards v. Wisconsin (1997) und U.S. v. Banks (2003). In beiden Fällen wurde "richterlich" eine knock-and-announce-Durchsuchung angeordnet, in Richards sogar eine no-knock-Durchsuchung ausdrücklich versagt. Ein einstimmig entscheidender US Supreme Court maß dem aber keine Bedeutung zu:
"Because the evidence in this case establishes that the decision not to knock and announce was a reasonable one under the circumstances, the officers' entry[…]did not violate the Fourth Amendment. That the magistrate had originally refused to issue a no knock warrant means only that at the time the warrant was requested there was insufficient evidence for a no knock entry. However, the officers' decision to enter the room must be evaluated as of the time of entry."[32]
Die Polizei hörte diese Signale und trug in Banks vor:
"Although the police concededly arrived at Banks's door without reasonable suspicion of facts justifying a no-knock entry, they argue that announcing their presence started the clock running toward the moment of apprehension that Banks would flush away the easily disposable cocaine, prompted by knowing the police would soon be coming in."[33]
Wohlweislich hat sich der US Supreme Court in U.S. v. Banks dieser Argumentation nicht explizit angeschlossen, wiewohl weitgehend in ihrem Geiste entschieden. In Banks war darüber zu befinden, ob eine Durchsuchung gemäß dem vierten Zusatzartikel rechtmäßig ist, wenn die Polizei nach dem Anklopfen nur 15 bis 20 Sekunden zuwartet, bevor sie sich gewaltsam Zutritt verschafft. In einer abermals einstimmigen Entscheidung bejahte der US Supreme Court die Rechtmäßigkeit, und zwar mit der Begründung, dass im Falle eines längeren Zuwartens die begründete Gefahr einer Beweisvernichtung (hier Entsorgung von Drogen in der Toilette) bestand.
"[I]t is imminent disposal, not travel time to the entrance, that governs when the police may reasonably enter."[34]
Dieser kleine und auf den ersten Blick unscheinbare Satz hat es in sich: Nicht der Schutz der Privatheit, sondern der Schutz der Beweissicherung steht im Vordergrund, wenn zwischen einer angekündigten und einer unangekündigten Durchsuchung zu wählen ist. Denn:
"The standards bearing on whether officers can legitimately enter after knocking are the same as those for requiring or dispensing with knock and announce altogether."[35]
Die bedingte bundesverfassungsrechtliche Zulässigkeit von no-knock- sowie knock-and-enter-Durchsuchungen gibt noch keine Auskunft über deren einfachrechtliche Ausgestaltung in den Polizei- und Strafprozessrechten des Bundes und der Bundesstaaten. Hierzu fällt auf: Während einige Bundesstaaten die richterliche Anordnung
sowie die polizeiliche Durchführung von no-knock raids einfachrechtlich geregelt haben, ist dies auf Bundesebene nicht (mehr[36]) der Fall. Bedarf es jedoch einer expliziten einfachrechtlichen Ermächtigungsgrundlage (express statutory authorization)?[37] Die (US-Bundes‑)Justizpraxis verneint dies, obwohl eine gewisse Rechts- und Restunsicherheit nicht bestritten wird:[38]
(i) Hinsichtlich der richterlichen Anordnung einer no-knock-Durchsuchung wird die allgemeine Rule 41 Federal Rules of Criminal Procedures herangezogen. Diese sei hinreichend flexibel, um zur Anordnung einer unangekündigten Wohnungsdurchsuchung zu ermächtigen.[39] In Rule 41 (b) (1) heißt es ganz allgemein und ohne weitergehende Qualifikation:
"Authority to Issue a Warrant. At the request of a federal law enforcement officer or an attorney for the government … a magistrate judge with authority in the district - or if none is reasonably available, a judge of a state court of record in the district - has authority to issue a warrant to search for and seize a person or property located within the district".
(ii) Verschaffen sich Beamte ohne einen entsprechenden no-knock warrant (Durchsuchungsbeschluss) vor Ort gewaltsam Zutritt zum zu durchsuchenden Objekt, ohne sich anzukündigen oder ohne abzuwarten, bis ihnen geöffnet wird, wird 18 U.S.C. § 3109 bundesverfassungskonform ausgelegt bzw. teleologisch reduziert. Dort ist geregelt:
"Breaking doors or windows for entry or exit: The officer may break open any outer or inner door or window of a house, or any part of a house, or anything therein, to execute a search warrant, if, after notice of his authority and purpose, he is refused admittance or when necessary to liberate himself or a person aiding him in the execution of the warrant."
Hierzu wurde zunächst in U.S. v. Ramirez (1997) und später in U.S. v. Banks (2003) vom US Supreme Court klargestellt:
"Because § 3109 implicates the exceptions to the common law knock-and-announce requirement that inform the Fourth Amendment itself, § 3109 is also subject to an exigent circumstances exception, which qualifies the requirement of refusal after notice, just as it qualifies the obligation to announce in the first place."[40]
Das knock-and-announce-Prinzip als verhaltensanleitende oder Hart'sche Primärnorm ist nur so stark, wie seine Befolgung in der Strafverfolgungspraxis durch Sanktions- oder Hart'sche Sekundärnormen abgesichert ist. Eine der strafprozessual schärfsten Sanktionen bestünde im einem Beweismittelausschluss: Gemäß der sog. exclusionary rule könnten all jene Beweismittel ausgeschlossen werden[41], die im Zuge einer Durchsuchung aufgefunden werden, die ihrerseits gegen das knock-and-announce-Prinzip verstößt, die also hätte offen und angekündigt stattfinden hätte müssen und die nicht ausnahmsweise im Wege einer no-knock oder knock-and-enter raid hätte durchgeführt werden dürfen.
Bekanntlich gelten die USA bzw. die Rechtsprechung des US Supreme Court als Heimstätte des Beweismittelausschlusses. Dabei wird jedoch gerne übersehen, dass die exclusionary rule in der jüngeren Rechtsprechung des US Supreme Court (insbesondere von der konservativen Richtermehrheit) zusehends beschnitten und der effektiven Strafverfolgung der Vorrang eingeräumt wird. Paradigmatisch dafür ist die Entscheidung Hudson v. Michigan (2006). Eine knappe Mehrheit (vier plus eine gegen vier Stimmen) lehnte es ab, bei Verstößen gegen das knock-and-announce-Prinzip einen Beweismittelausschluss bundesverfassungsrechtlich vorzuschreiben. Das von Justice Scalia verfasste Mehrheitsvotum führte hierfür insofern im Wesentlichen zwei materielle[42] Argumente ins Feld.
Zum Ersten seien die sozialen Kosten (social costs) eines Beweismittelausschlusses im Vergleich zu den zu erwartenden Abschreckungseffekten (deterrence) zu groß, wobei die notwendige Disziplinierung der Polizei durch anderweitige Maßnahmen hinreichend verbürgt sei. Zu diesen sozialen Kosten werden insbesondere gezählt: die Gefahr, gefährliche Kriminelle im Falle einer Beweismittelausschlusses zurück in die Gesellschaft zu entlassen; die drohende Überlastung der Justiz, die einen konstanten Strom von Rügen zu vermeintlichen Durchsuchungsfehler zu bewältigen habe; sowie eine "Überabschreckung" (over-deterrence), so dass Beamte Durchsuchungsobjekte nicht mehr rechtzeitig betreten werden, sondern sich zu viel Zeit lassen. - Zudem seien zivile (Schadensersatz‑)Klagen sowie die internen Disziplinierungsmöglichkeiten hinreichend, um die Einhaltung des knock-and-announce-Prinzips sicherzustellen. Wörtlich heißt es:
"Another development over the past half-century that deters civil-rights violations is the increasing professionalism of police forces, including a new emphasis on internal police discipline. Even as long ago as 1980
we felt it proper to ‚assume' that unlawful police behavior would ‚be dealt with appropriately' by the authorities[…], but we now have increasing evidence that police forces across the United States take the constitutional rights of citizens seriously."[43]
Letzteres muss aufhorchen lassen, weil damit der exclusionary rule der argumentative Boden entzogen wird. In seinem zustimmenden Sondervotum bekräftigte - der häufig als swing vote charakterisierte - Justice Kennedy, dass gerade kein "pattern of knock-and announce violations"[44] demonstriert worden sei.
Zum Zweiten berief sich die Mehrheit in Hudson v. Michigan auf das zunächst etwas krude anmutende Argument, dass im Falle einer ansonsten rechtmäßigen Durchsuchung, die jedoch das knock-and announce-Prinzip verletzt, der Verfassungsverstoß nicht kausal (but-for cause) für die anschließende Gewinnung von (ggf. bemakelten) Beweismitteln sei. Bei naturalistischer Betrachtung weiß das, wie im abweichenden Minderheitsvotum auch eloquent vorgetragen wird, nicht zu überzeugen. Denn dringt die Polizei unter Verletzung dieses Prinzips in eine Wohnung ein und findet Beweismittel, kann das Eindringen in seiner konkreten Gestalt nicht hinweggedacht werden, ohne dass auch die Beweismittel "entfielen". Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass die Mehrheit nicht naturalistisch argumentiert, sondern implizit - die explizite Berufung auf das but-for war durch entsprechende Präjudizien präjudizert - einer Schutzzwecklehre folgt. Wörtlich:
"The interests protected by the knock-and-announce requirement[…]do not include the shielding of potential evidence from the government's eyes.[…]What the knock-and-announce rule has never protected, however, is one's interest in preventing the government from seeing or taking evidence described in a warrant. Since the interests that were violated in this case have nothing to do with the seizure of the evidence, the exclusionary rule is inapplicable."[45]
Im Sinne dieser "policy related variant of the causal connection theme"[46] hatten auch die Vereinigten Staaten in einer amicus curiae-Stellungnahme vorgetragen.[47] Ein Beweismittelausschluss komme nur, aber immerhin dann in Betracht, wenn der Bewohner in einem intimen oder kompromittierenden Moment angetroffen werde oder er aus Überraschung eine (belastende) Spontanäußerung mache.
Tragend für diese Argumentation ist eine Reduktion des Schutzzwecks des knock-and-announce-Prinzips, also des Grundsatzes, dass das Eindringen in eine zu durchsuchenden Wohnung angekündigt durchzuführen ist. Ist die Durchsuchung ansonsten rechtmäßig, insbesondere weil und wenn ihr ein gültiger richterlicher Durchsuchungsbefehl zugrunde liegt, so schützt das knock-and-announce-Prinzip die Privatheit der Bewohner nur noch in der zeitlich begrenzten Phase zwischen Ankündigung (z.B. Anklopfen) und rechtmäßigem Eindringen (sei es, dass den Beamten nach dem Anklopfen freiwillig Zutritt gewährt wird, sei es, dass sie sich nach hinreichendem Zuwarten gewaltsam Zutritt verschaffen).
Es ist genau diese Schutzzweckreduktion, die von der Minderheit in Hudson v. Michigan kritisiert wurde:
"[The knock-and-announce requirement]does help to protect homeowners from damaged doors; it does help to protect occupants from surprise. But it does more than that. It protects the occupants' privacy by assuring them that government agents will not enter their home without complying with those requirements (among others) that diminish the offensive nature of any such intrusion."[48]
Diese Debatte über den Schutzzweck des knock-and-announce-Prinzips und seiner Reichweite könnte, nach der notwendigen begrifflichen und verfassungsrechtlichen Umstellung, auch in Deutschland zu führen sein.
Der BGH hat in 2 StR 375/11 prima vista bereits den Stab des deutschen (Strafprozess‑)Rechts über die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit unangekündigter Hausdurchsuchungen gebrochen:
"Ob sich für das konkrete Vorgehen der Polizei in den §§ 102 ff. StPO eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage ergibt, kann zweifelhaft sein. § 164 StPO erlaubt ein Einschreiten nur gegen eine tatsächlich vorliegende oder konkret bevorstehende Störung der Durchsuchung. Ob präventiv-polizeirechtliche Regeln das Verfahren der strafprozessualen Durchsuchung abändern können, ist fraglich."
Da dieser Befund jedoch obiter dicta erfolgt ist, verstehe ich ihn als Appell an die deutsche Rechtswissenschaft, die Rechtmäßigkeit von unangekündigten Durchsuchungen näher zu untersuchen. Insofern möchte ich eine vermittelnde Position begründen und zur Diskussion stellen: Die unangekündigte (Strafverfolgungs‑)Durchsuchung stellt einen besonders schweren Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung dar (Art. 13 Abs. 1 GG), der allerdings gemäß Art. 13 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, wenn die Nichtankündigung für den Eigenschutz der Durchsuchungsbeamten oder zum Zwecke der Beweissicherung notwendig wird. Eine unangekündigte Durchsuchung kann, wie eine mit dem Bestimmtheits- und Wesentlichkeitsgrundsatz vereinbare extensive Auslegung der §§ 102 ff. StPO er-
gibt, im Rahmen des bestehenden Strafprozessrechts angeordnet werden. Die Anordnung muss im Regelfall durch den Richter erfolgen (Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 Abs. 1 StPO), der vollumfänglich sowohl die Gründe für die Nichtankündigung als auch die polizeiliche Einsatztaktik nachzuprüfen hat; dabei sind, gerade im Lichte von 2 StR 375/11 sowie der US-amerikanischen Erfahrungen, auch die Gefahren abzuwägen, die eine Nichtankündigung für Durchsuchende, Bewohner und Dritte mit sich bringt. Begehrt die Polizei überdies - neben der Nichtankündigung der Durchsuchung - die präemptive Sicherung des zu überraschenden Bewohners zum Zwecke des Eigenschutzes, so bieten zwar nicht die Strafprozessordnung, wohl aber die Polizeigesetze die einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen für eine kurzfristige Freiheitsbeschränkung des Bewohners (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG). - Kern dieser Ansicht ist, dass die unangekündigte Strafverfolgungsdurchsuchung im Prinzip und in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig ist, dabei aber der vollen Überprüfungspflicht des Richters unterworfen wird; polizeirechtliche Regelungen, die allein für die Eigensicherung der Durchsuchungsbeamten herangezogen werden, ändern die strafprozessuale Durchsuchung also nicht im eigentlichen Sinne ab, sondern flankieren diese nur.
Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt ist eine Bestimmung der rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriffe. Welche Eingriffe in welche grundrechtlichen Schutzbereiche sind im Rahmen einer unangekündigten Durchsuchung überhaupt rechtfertigungsbedürftig?
Insofern ist vom worst-case-Szenario auszugehen: Beim Eindringen soll - so die einsatztaktische Planung - die Substanz der Wohnung beschädigt, z.B. Türen aufgebrochen, und der Bewohner überrascht werden. Sodann soll er in eine "stabile Lage" gebracht bzw. durch Fesselung gesichert, d.h. in seiner Freiheit vorrübergehend beschränkt werden. Er wird aber - aller Einsatzplanung zum Trotz - im Laufe des Einsatzes erschossen, weil er sich - aus welchen Gründen auch immer - gegen die Durchsuchung zur Wehr setzt. Die Anordnung einer unangekündigten Durchsuchung ist in solchen Szenarien vornehmlich an Art. 13 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG zu messen, da in deren Schutzbereiche zurechenbar eingegriffen wird:
Zerlegt man das Geschehen wie soeben beschrieben, so wird deutlich: Die Sicherung des überraschten Bewohners ist sowohl als Eingriff in die Freiheit der Person gem. Art. 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG als auch als Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 GG zu rechtfertigen. Zudem ist das unangekündigte und überraschende Eindringen als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG zu werten und damit nach Maßgabe der Art. 13 Abs. 2 bis 7 GG rechtfertigungsbedürftig.
In das Recht auf Freiheit der zu durchsuchenden und zu sichernden Person darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Eine entsprechende Eingriffsermächtigung findet sich zwar nicht in der StPO, nach hier vertretener Ansicht jedoch in den Polizeigesetzen der Länder, soweit die Sicherung der zu durchsuchenden Person zum Eigenschutz der Durchsuchungsbeamten, d.h. nur bei Gelegenheit der Strafverfolgung, notwendig ist:
Entgegen der vormals herrschenden, letztlich vorkonstitutionelles Gedankengut fortschreibenden Ansicht[51] enthält die Strafprozessordnung keine positive Ermächtigung zur präemptiven Sicherung, d.h. zur präemptiven Freiheitsbeschränkung des Bewohners im Zuge einer Durchsuchung, und zwar weder zum Zwecke der Beweissicherung[52] noch des Eigenschutzes der Durchsuchungsbeamten. Zwar kann eine Durchsuchung (als ungeschriebene Annexkompetenz zu §§ 102 ff. StPO) mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden, [53] wenn sich der Bewohner der Amtshandlung widersetzt; allerdings muss der Widerstand aktuell, nicht lediglich potentiell sein. Aus entsprechenden Gründen kommt auch ein Rückgriff auf § 164 StPO nicht in Betracht; dort wird vorausgesetzt, dass eine Person eine amtliche Tätigkeit tatsächlich und vorsätzlich stört.
Mit Blick auf diese (teils nur konkludenten) Befugnisnormen kommt eine extensive Auslegung bzw. Analogiebildung nicht in Betracht, um eine präemptive Freiheitsbeschränkung eines potentiellen Störers strafprozessrechtlich zu rechtfertigen. Zur Begründung, dass die StPO keine Ermächtigungsgrundlage für einen präemptiven Eingriff in Freiheit einer zu durchsuchenden Person parat hält, wird allerdings ein simpler Verweis auf das allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot[54] sowie auf rechtsmethodische Grundsätze (Stichwort: Kann potentieller mit aktuellem Widerstand im Wege der Auslegung oder Analogie gleichgesetzt werden?) nicht ausreichen. Vielmehr wird zu differenzieren sein. Erstens: Eingriffe in die Freiheit des Beschuldigten zur Verhinderung der Gefahr, dass Beweise vernichtet werden, sind in §§ 112 Abs. 2 Nr. 3 lit. a, 127 Abs. 2 StPO weitgehend abschließend geregelt; die StPO kennt mit anderen Worten lediglich die Freiheitsentziehung, nicht aber die zeitlich beschränkte Freiheitsbeschränkung, um der potentiellen Beweisvernichtung und damit Gefahren für die Strafverfolgung entgegenzuwirken.[55] Zweitens: Gefahren für die Strafverfolger sind (noch) nicht sedes materiae des Strafprozessrechts.[56] Die Abwehr solcher strafprozessual veranlassten [57] Gefahren ist polizeirechtlich durchzuführen; weder die StPO noch § 6 EGStPO[58] enthalten nach hier vertretener Ansicht eine Sperrklausel, die eine polizeirechtliche Abwehr straf-
prozessual veranlasster Gefahren für die Strafverfolger verbietet.
Wird die Freiheit einer Person im Zuge einer unangekündigten Durchsuchung zum unerlässlichen Eigenschutz der Durchsuchenden präemptiv beschränkt, so findet dies eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage in den polizeirechtlichen Generalklauseln[59] in Verbindung mit polizeirechtlichen Bestimmungen über unmittelbaren Zwang. Zwar ist bekanntermaßen umstritten, ob und in welchem Ausmaße Polizeirecht neben Strafprozessrecht parallel anwendbar sein kann. [60] Kritiker warnen dabei zu Recht davor, dass das Polizeirecht - das weiterhin einer Gefahrenabwehrlogik verschrieben ist, Personen zu Störern degradiert und diese als "black box" auffasst - die schützenden Formen des Strafprozessrechts nicht unterminieren dürfe. Dazu gesellt sich, dass die Strafprozessordnung bundesweit einheitliche Geltung verlangt und nicht, gleichsam im Widerstreit mit der Kompetenzordnung des GG, durch die je unterschiedlichen Polizeirechte der Länder modifiziert werden darf. - Ganz abgesehen davon, dass die Grenzen zwischen Prävention und Repression brüchig werden und dass die Rechtsprechung die oben geäußerten Bedenken bis dato nicht immer für durchschlagend erachtet hat, kann salvatorisch formuliert werden, dass ein Rückgriff auf Polizeirecht zumindest solange möglich ist, wie der Primat des Strafprozessrechts gewährleistet bleibt. Polizei- darf Strafprozessrecht samt der dort vorgesehenen Zwangsmaßnahmen also nicht abändern, sehr wohl jedoch flankieren und komplementieren. Eine Komplementarität von Polizei- und Strafprozessrecht gilt insbesondere für die Abwehr strafprozessual veranlasster Gefahren für die Strafverfolger.[61] So liegt es nach hier vertretener Ansicht bei der unangekündigten Strafverfolgungsdurchsuchung. Dient die Sicherung der zu durchsuchenden Person dem Eigenschutz der Durchsuchungsbeamten und ist der Eingriff in die Freiheit der zu durchsuchenden Person seinerseits verhältnismäßig, stellen die polizeirechtlichen Generalklauseln in Verbindung mit polizeirechtlichen Bestimmungen über unmittelbaren Zwang die Ermächtigungsgrundlage für den entsprechenden Grundrechtseingriff dar.
Die von Art. 13 Abs. 1 GG proklamierte Unverletzlichkeit der Wohnung wird nicht schrankenlos garantiert. Sie findet vielmehr ihre Schranken in den Abs. 2 bis 7 und den dort näher beschriebenen (Gesetzes‑)Vorbehalten.
Worin liegt nun aber bei der unangekündigten Durchsuchung der rechtsfertigungsbedürftige Hoheitsakt? Im unangekündigten Eindringen sowie dem anschließenden Durchsuchen der Wohnung oder aber in einer einheitlichen unangekündigten Durchsuchung, die aufgrund ihrer Nichtankündigung einen besonders intensiven Grundrechtseingriff darstellt? Anders gefragt: Bildet das unangekündigte Betreten mit der im Anschluss stattfindenden Strafverfolgungsdurchsuchung eine Sinneinheit (die "unangekündigte Durchsuchung" als besonders intensive Beeinträchtigung der räumlichen Privatheit)? Oder muss von zwei separaten Hoheitsakten die Rede sein (das überraschende polizeilich-präventive Eindringen in die Wohnung einerseits sowie deren Durchsuchung zum Betreiben des Strafverfahrens andererseits)? Im ersten Falle wäre eine "unangekündigte Durchsuchung" nur in den Schranken des Art. 13 Abs. 2 GG zulässig; im zweiten Falle käme für die Rechtfertigung der Nichtankündigung Art. 13 Abs. 7 GG ins Spiel, während Art. 13 Abs. 2 GG erst später und mit Blick auf das eigentliche Suchen nach Beweismitteln etc. in der Wohnung relevant würde. Im Ergebnis sprechen die besseren Argumente für einen einheitlichen Rechtfertigungsbedarf des Gesamtgeschehens nach Abs. 2.
Trotzdem sollte das Gegenmodell nicht vorschnell abgetan werden. Mit dem Wortlaut und der Systematik des Art. 13 Abs. 7 GG scheint eine grundrechtsdogmatische Abschichtung des unangekündigten Eindringens vom späteren Durchsuchen zumindest vereinbar. Der Eingriff in eine geschützte Sphäre räumlicher Privatheit, der sich durch das nicht angekündigte, gewaltsame Eindringen in eine Wohnung sowie das Überwältigen des Bewohners realisiert, ist in dieser Lesart allein polizeilich motiviert und allein an der sehr weiten, tw. verfassungsunmittelbaren (d.h. keiner einfachrechtlichen Umsetzung bedürftigen) Vorbehaltsklausel des Abs. 7 zu messen. In diesem Sinne verstehe ich Basten, der aus der Sicht der Polizei gegen das obiter dictum des zweiten Strafsenats einwendet: "Der BGH trennt nicht zwischen dem Überraschungseffekt bei Eindringen zur Durchsuchung und deren Beginn, um Gefahren durch erwarteten Widerstand des Rockers zu minimieren[,]und der Durchsuchung selbst[…]."[62] Verfassungsrechtlich übersetzt bedeutet das: Das überraschende Eindringen dient nicht dem "zweckgerichteten Suchen nach etwas Verborgenen" (so die verfassungsrechtliche Definition des Durchsuchungsbegriffs in Abs. 2). Vielmehr dient der Eingriff dazu, um eine "Lebensgefahr für eine einzelne Person" abzuwehren (um den Wortlaut des Art. 13 Abs. 7 aufzugreifen). Dass diese Lesart Abs. 7 über die typischerweise diskutieren Fälle (z.B. Bombensuche etc.) hinaus ausdehnt, muss nichts heißen. Immerhin sollte Abs. 7 als "Auffangvorbehalt" weit ausgelegt werden, erfasst er doch "alle Schutzbereichsverletzungen, welche sich nicht als Durchsuchung oder Einsatz technischer Mittel darstellen[…]."[63]
Diese grundrechtsdogmatische Trennung von unangekündigtem Eindringen einerseits und Durchsuchen andererseits ist gleichwohl aus mindestens vier Gründen zurückzuweisen. Erstens: Ein solches "Sekundenstrafprozess- bzw. -polizeirecht" entstellte den sozialen und auch grundrechtlichen Sinngehalt des tatsächlichen Geschehens. Das eine kann und darf nicht vom anderen getrennt werden. Das unangekündigte Eindringen dient dem Schutz der Beamten, allerdings nur, um eine strafprozessuale Durchsuchung zu ermöglichen. Entfiele das Durchsuchungsmotiv, dürfte überhaupt kein Zutritt zur Wohnung gesucht werden. Es entstünde somit auch kein Bedarf, das Leben von Durchsuchungsbeamten (allein der Begriff spricht hier schon Bände) zu schützen. Auch die unangekündigte Durchsuchung ist und bleibt eine Durchsuchung im (Verfassungs‑)Rechtssinne, weil es letztlich allein "um die Suche nach Personen oder Sachen oder die Ermittlung eines Sachverhalts in einer Wohnung geht." [64] Dies auch deshalb, weil die Durchsuchung regelmäßig nicht erst mit dem eigentlichen "Suchen" in der Wohnung beginnt, sondern bereits "mit dem Erscheinen der Durchsuchungsbeamten am Durchsuchungsort." [65] - Zweitens: Auch systematisch weiß es nicht zu überzeugen, die Nichtankündigung des gewaltsamen Eindringens in eine Wohnung von deren anschließender Durchsuchung eingriffsdogmatisch abzuschichten. Denn dies gelingt argumentativ nur für die Nichtankündigung zum Zwecke des Eigenschutzes, nicht aber für jene zum Zwecke der Beweissicherung. Der (mögliche oder befürchtete) Beweismittelverlust muss im Rahmen der (Regel‑ oder der Eil‑)Kompetenzen der Strafverfolgungsbehörden diskutiert werden, also im Rahmen des Durchsuchungsbegriffs
von Art. 13 Abs. 2 GG.[66] - Drittens: Abs. 2 erhebt den Richtervorbehalt bei Durchsuchungen in Verfassungsrang und verleiht überdies den einfachgesetzlich "vorgeschriebenen Formen" der Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG) verfassungsrechtliche Dignität. Beides, Richter- und Formvorbehalt, dient dem prozeduralen Willkürschutz des Grundrechtsträgers.[67] Um einer Kontrollverflachung entgegenzutreten und Legitimitätsgewinne durch (richterliche Kontroll‑)Verfahren mitzunehmen, ist - auch und insbesondere bei grundrechtsschonender bzw. meistbegünstigender Auslegung des GG - davon auszugehen, dass staatliche Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung eher Art. 13 Abs. 2 GG denn Abs. 7 genügen müssen.[68] - Viertens und letztens: Eine eindeutige Einordnung der "unangekündigten Durchsuchung" als rechtfertigungsbedürfte Maßnahme nach Art. 2 GG löst auch Kompetenzschwierigkeiten, die sich ansonsten aufgrund der repressiv/präventiven Doppelfunktion der Polizei ergeben würden. [69] Nur so kann verhindert werden, dass (wie der BGH zu Recht kritisch hervorhebt) "präventiv-polizeirechtliche Regeln das Verfahren der strafprozessualen Durchsuchung abändern".
Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten: Die "unangekündigte Durchsuchung" stellt einen einheitlichen Hoheitsakt dar. Dieser ist als besonders intensiver Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung insgesamt gem. Art. 13 Abs. 2 GG zu rechtfertigen. Das strafprozessuale "Suchen nach Beweismitteln etc." ist ein Akt der Strafrechtspflege, so dass die Ermächtigung zu dieser besonders intensiven Störung der räumlichen Privatheit des Betroffenen einzig und allein durch die Strafprozessordnung erfolgen kann und darf (Art. 74 Abs. 1 GG). Die Polizeigesetze der Ländern haben bezüglich des Gesamteingriffs in Art. 13 Abs. 1 GG keinerlei Rechtfertigungspotential.
Bevor der Blick somit in die §§ 102 ff. StPO und zu der Frage schweift, ob diese Normen zu einer unangekündigten Durchsuchung ermächtigen, ist freilich klarzustellen, dass die Anordnung oder Durchführung einer unangekündigten Strafverfolgungsdurchsuchung verfassungsrechtlich überhaupt zulässig, d.h. überhaupt mit Art. 13 Abs. 2 GG vereinbar sein kann. Hierzu sei, gerade im Hinblick auf die oben gemachten rechtsvergleichenden Ausführungen, Folgendes zur Diskussion gestellt: Art. 13 Abs. 2 GG ist ein (rechtsprinzipiell schwacher und rechtsprozedural starker) Grundsatz der notwendigen Ankündigung der Strafverfolgungsdurchsuchung inhärent (Ankündigungsprinzip). Dieser Grundsatz ist freilich für sachliche Ausnahmen offen (deswegen auch: rechtsprinzipiell schwach), die ihrerseits jedoch die gestuften (Regel- und Eil‑)Anordnungskompetenzen des Abs. 2 nicht desavouieren (deswegen auch: rechtsprozedural stark).
Der besagte Grundsatz ergibt sich - was zunächst falsch klingen mag - aus einer beschränkten teleologischen Auslegung des Art. 13 Abs. 2 GG nach Maßgabe des traditionellen rechtswissenschaftlichen Verständnisses der §§ 102 ff. StPO. Dass den §§ 102 ff. StPO und dem normativ-rechtswissenschaftlichen Verständnis der Strafverfolgungsdurchsuchung eine verfassungsrechtliche Leitbildfunktion zukommen, erklärt sich daraus, dass die verfassungsrechtlich "[k]lassische Durchsuchung[…]die anhand althergebrachter, liberal-rechtsstaatlicher Forderungen geregelte Strafverfolgungsdurchsuchung" [70] ist.[71] Aus dem Leitbild der §§ 102, 105 StPO strömt daher ein Grundsatz der notwendigen Ankündigung der Strafverfolgungsdurchsuchung in ihrem unmittelbaren Vorfeld. Der Regelsatz ist letztlich auch Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das die größtmögliche Schonung des Bewohners bzw. Grundrechtsträgers postuliert.
Mehr als eine Leitbildfunktion kommt der "normalen" bzw. "klassischen" Strafverfolgungsdurchsuchung freilich nicht zu. Denn Art. 13 Abs. 2 GG ist - ein Verfassungsrechtler wäre versucht zu sagen: natürlich - unabhängig vom einfachen Recht, d.h. autonom und dynamisch zu interpretieren.[72] Auch die unangekündigte Durchsuchung kann eine Durchsuchung im Sinne des Verfassungsrechts darstellen.
Verfassungsrechtlich ist der Grundsatz der notwendigen Ankündigung der Strafverfolgungsdurchsuchung folglich für sachliche Ausnahmen offen. Allerdings muss die Nichtankündigung der Strafverfolgungsdurchsuchung, d.h. das überraschende Eindringen in eine Wohnung, einem legitimen Zweck dienen und ihre gesetzliche Regelung verhältnismäßig und hinreichend bestimmt sein. Bezweckt eine unangekündigte Durchsuchung entweder Gefahren für Leib oder Leben der Beteiligten abzuwehren oder einer möglichen Erschwerung des staatlichen Beweismittelzugriffs seitens des Bewohners entgegenzutreten,[73] so sind das legitime Ziele, die - in den strengen Grenzen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und je nach Einzelfall - einen überraschenden Totalzugriff auf den räumlichen Eigenbereich der Privatheit verfassungsrecht-
lich erlauben können. [74] Dass eine Durchsuchung in jedem Fall und ausnahmslos anzukündigen oder dem Bewohner gar im Vorfeld rechtliches Gehör zu geben ist, kann dem Durchsuchungsbegriff des Art. 13 Abs. 2 GG gerade nicht entnommen werden, zumal sich Grund und Grenzen des rechtlichen Gehörs nicht aus Art. 13 GG ergeben, sondern aus Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG.
Art. 13 Abs. 2 enthält einen Gesetzesvorbehalt für Durchsuchungen und normiert gleichzeitig einen präventiven Richtervorbehalt. "Im Unterschied zu Abs. 7 ist für Durchsuchungen immer eine einfachgesetzliche Rechtsgrundlage erforderlich."[75] Genügen nun die §§ 102 ff. StPO diesem Gesetzesvorbehalt in materieller Hinsicht? Können sie also als Ermächtigungsgrundlage für unangekündigte Durchsuchungen herangezogen werden? Im Ergebnis möchte ich darauf, entgegen der sich im Zuge von 2 StR 375/11 gebildeten Meinung im Schrifttum, vorsichtig mit "Ja" antworten. Nur im Ausgangspunkt ist dabei auf den Wortlaut der §§ 102 ff. StPO zu verweisen: Dieser ermächtigt zur Anordnung und Durchführung von Durchsuchungen, beschränkt diese nicht auf angekündigte und erfasst somit auch unangekündigte Durchsuchungen. Die §§ 102 ff. StPO taugen grammatikalisch als "Durchsuchungsgeneralklausel", der auch die unangekündigte Durchsuchung unterfällt. [76]
Methodisch führt diese sehr einfach klingende, formal am Gesetzeswortlaut festmachende Antwort freilich ins rechtstheoretische Dickicht von Analogie und extensiver Auslegung sowie von Normenklarheit und Normenbestimmtheit bei strafprozessualen Ermächtigungsnormen. Verfassungsrechtlich werden - gleichsam als Schranken-Schranken des Art. 13 GG - Analogiebildung und extensiver Auslegung durch den Bestimmtheits- und Wesentlichkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt. Die Folgen einer Regelung, hier also der §§ 102 ff. StPO, müssen bestimmt und für den Bürger vorhersehbar sein; der Verwaltung[77] sind angemessen klare Handlungsmaßstäbe vorzugeben, die wiederum eine hinreichende gerichtliche Kontrolle ermöglichen. [78] Gleichzeitig muss der Gesetzgeber das Wesentliche selbst regeln, um seinen gewaltenteilungs-, demokratie-, rechtsstaats- und grundrechtstheoretischen Aufträgen zu entsprechen; als Kehrseite davon dürfen sich Rechtsprechung und Lehre nicht durch extensive Rechtsfortbildungen zum Ersatzgesetzgeber aufschwingen. Das gebotene Maß an Bestimmtheit und Regelungsdichte ist jedoch nicht abstrakt bestimmbar; Grenzen werden erst in der Zusammenschau der verschiedensten (Abwägung‑ und Wertungs‑)Faktoren sichtbar. Spiegelbildliches gilt für die Spielräume von Auslegung und Analogie.
Mit Blick auf unangekündigte Durchsuchungen und ihre Erfassung durch §§ 102 ff. StPO sind folgende Faktoren besonders relevant:
Im Einzelnen:
Nach der (heute wohl vormals) herrschenden, vorkonstitutionelle Gesichtspunkte fortschreibenden Ansicht implizierte die konkludente "Ermächtigung zur Vornahme einer Durchsuchung die Befugnis zur Beeinträchtigung weiterer Rechtsgüter des Betroffenen." [80] Eine sol-
che Blankettermächtigung dürfte heute als zu weitgehend angesehen werden. Ob und welche (Begleit‑)Maßnahmen ergriffen werden und mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden dürfen, um eine Durchsuchungsanordnung zu vollstrecken, d.h. ob und wie das "Regelungsdefizit"[81] der §§ 102 ff. StPO ausgleichbar ist, ist je gesondert zu diskutieren.[82]
Dabei darf im Grundsatz nichtsdestoweniger weiterhin davon ausgegangen werden, dass der - vorkonstitutionelle wie konstitutionelle - Gesetzgeber nicht in Frage stellen wollte, dass die §§ 102 ff. StPO, auch und gerade als strafprozessuale Ermächtigungsnormen, einer extensiven Auslegung und in beschränkten Maße auch einer Analogie zugänglich sind. Das gilt - so die Formel der Rechtsprechung - insbesondere bei sog. unselbständigen oder typischen Begleitmaßnahmen, die dazu dienen, strafprozessuale Grundrechtseingriffe vorzubereiten oder durchzuführen.[83] Solche Begleitmaßnahmen sind durch die entsprechende strafprozessuale Primärnorm miterfasst.
Ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz geht damit nicht zwingend einher. Immerhin ist das verfassungsrechtliche Bestimmtheits- kein Maximierungs- wohl noch nicht einmal ein Optimierungsgebot.[84] Ein Höchstmaß an Bestimmtheit ist nicht zu fordern.[85] Gegenteiliges anzunehmen wäre lebensfremd und auch nicht mit der notwendigen Flexibilität und Dynamik der StPO vereinbar.[86] Ein hinreichendes Maß an Bestimmtheit reicht verfassungsrechtlich aus. Es hat sich daher zu Recht die Ansicht durchgesetzt, dass der Richter gem. §§ 102, 105 StPO auch - so die Formel der Lehre - "Modalitäten der Durchsuchung" [87] anordnen und in seinem Durchsuchungsbeschluss regeln darf bzw. ggf. auch regeln muss.
Es lässt sich nun trefflich darüber streiten, ob - um an die Formeln von Rechtsprechung und Lehre zu erinnern - das unangekündigte Eindringen eine unselbständige bzw. typische Begleitmaßnahme oder eine einfache Modalität der Strafverfolgungsdurchsuchung darstellt.[88] Das Schrifttum bestreitet das unter Hinweis auf die (im Vergleich zur "normalen"[89] angekündigten Durchsuchung) signifikant erhöhte Eingriffsintensität der unangekündigten Durchsuchung. Nach Wohlers dürfen auch typische Begleitmaßnahmen nur "geringfügig in den Rechtskreis des Betroffenen eingreifen,"[90] um in den konkludenten Ermächtigungsbereich der Primärnorm zu fallen; diese Geringfügigkeitsgrenze wäre hier wohl überschritten. Erb kommt zum selben Ergebnis, gibt jedoch implizit eine andere Erheblichkeitsschwelle an: Die Anordnung einer unangekündigten Durchsuchung einschließlich der überraschenden Sicherung des Betroffenen verleihe dem "Grundrechtseingriff im Vergleich zu den Belastungswirkungen, die von der Durchsuchung als solcher ausgehen, von vorneherein eine völlig neue Belastungswirkung."[91] Deswegen taugten die §§ 102 ff. StPO nicht zu Anordnung einer unangekündigten Durchsuchung.
Diese Ansichten können sich auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückziehen, wonach die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm mit ihrer Bedeutung sowie ihrer Eingriffsintensität
steigen.[92] Freilich kann dieser Rechtsprechung nur schwerlich eine positive Korrelation von notwendigem Bestimmtheits- und potentiellem Eingriffsmaß einer Norm entnommen werden. Alle Versuche einer positiven verfassungsrechtlichen Begründung des Bestimmtheitsmaßes werden rechtstheoretisch dadurch ad absurdum geführt, dass es verfassungsrechtlich ausreichen soll, dass sich mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für die Anwendung der Vorschrift gewinnen lasse.[93] "Entscheidend ist jeweils, dass die Norm hinreichend auslegungsfähig ist."[94]
Es überrascht daher nicht, dass der zweite Strafsenat apokryph eine andere Argumentationsfigur ins Felde geführt. Zur (Quasi‑)Begründung seiner Zweifel, ob sich für das konkrete Vorgehen der Polizei aus den §§ 102 ff. StPO eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage ergibt, wird auf Entscheidungen zur Unzulässigkeit der verdeckten, d.h. geheimen bzw. nicht offen ausgeführten bzw. heimlichen (Online‑)Durchsuchung verwiesen.
Hierzu ist verfassungsrechtlich anerkannt: Normenbestimmtheit und Normenklarheit sind "für den Schutz der Bürger besonders bedeutsam, wenn das Gericht schon vor Ergreifen der Maßnahme oder in ihrem Vollzug zur Kontrolle der Verwaltung eingeschaltet wird, während der Betroffene infolge der Heimlichkeit der Maßnahme noch davon ausgeschlossen ist, sich selbst für sein Recht einzusetzen."[95] Dieser Satz weist Begehrlichkeiten der Strafverfolgungsbehörden in rechtsstaatliche Grenzen: Liegt keine eindeutige und transparente, verfassungsgerichtlich überprüfbare Ermächtigungsgrundlage vor, ist der Staatsgewalt ein heimliches, polizeistaats- und geheimdiensttypisches "Schnüffeln" versagt. Einfachrechtlich hat sich all das in §§ 105 Abs. 2, 106, 107 StPO niedergeschlagen: Der Gesetzgeber geht von einem "offenen Vorgehen der Durchsuchungsbehörden aus."[96]
Allein, dieser Satz führt hier nicht weiter. Die - vom zweiten Strafsenat angedeutete - Gleichsetzung von unangekündigter und heimlicher Durchsuchung beruht(e) auf einem natürlichen wie auch rechtlichen Trugschluss. Denn auch im Falle ihrer Nichtankündigung wird die eigentliche Durchsuchung offen ausgeführt, ja, sie soll sogar - allen rechtsstaatlichen Bedenken zum Trotz - häufig offen ausgeführt werden, um einen besonders überraschten und ggf. auch verunsicherten Betroffenen zu belastenden Auskünften "zu verleiten".[97] Gegen die heimliche Online-Durchsuchung wurde vom BGH-Ermittlungsrichter zu Recht erinnert, dass sie "wegen ihrer erhöhten Eingriffsintensität eine Zwangsmaßnahme mit einem neuen, eigenständigen Charakter" darstelle.[98] Das leitete der BGH - wie auch schon das BVerfG[99] zuvor - wesentlich daraus ab, dass der Betroffene einer heimlichen Durchsuchung daran gehindert sei, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen oder mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren, um die Zwangsmaßnahme zu beenden.
Ein Totalausfall von Rechtsschutz- und Kooperationsmöglichkeiten ist im Falle einer unangekündigten Wohnungsdurchsuchung allerdings nicht zu verzeichnen.[100] Dass dem Betroffenen im Falle einer Nichtankündigung keinerlei rechtliches Gehör im Vorfeld der Durchsuchung gegeben wird, dieser also auch rechtschutzrechtlich in jeder Hinsicht unvorbereitet überrascht werden soll, ist verfassungsrechtlich nicht per se zu beanstanden. In der Praxis werden Durchsuchungen bereits heute ganz überwiegend ohne vorherige Anhörung des Betroffenen angeordnet, um den Vollstreckungserfolg nicht zu gefährden.[101] Ein solcher - nach der verfassungsrechtlichen Literatur zulässiger - "sofortiger Zugriff"[102] kann im Einzelfall notwendig sein, um ansonsten gefährdete Interessen zu sichern. Der Verweis auf eine nachträgliche Anhörung des Betroffenen ist in solchen Fällen auch deshalb mit Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG vereinbar, weil der Richtervorbehalt der Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 StPO präventiven Rechtsschutz verbürgt. Es liegt in der konsequenten Fortführung dieser Logik, wenn auch das Eindringen in die Wohnung nicht angekündigt, sondern ein richterlicher Durchsuchungsbefehl sofort und überraschend vollstreckt wird. Unter Rechtsschutz- und damit mittelbar auch Bestimmtheitsgesichtspunkten ist allein maßgeblich, dass der Betroffene sich während oder im unmittelbaren Nachgang gegen die ihn belastende Maßnahme rechtlich zu Wehr setzen kann. Wird im Vorfeld kein rechtliches Gehör gegeben, und dringen Durchsuchungsbeamte verdeckt in eine Wohnung ein, um ihr Eindringen daraufhin offenzulegen, findet folglich keine heimliche Maßnahme im Sinne des Verfassungsrechts statt. Deshalb kann die unangekündigte Durchsuchung weder begrifflich noch in der Sache mit heimlichen Eingriffen in die Unverletzlichkeit der Wohnung verglichen werden.[103]
Dass die unangekündigte Durchsuchung in §§ 102 ff. StPO eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage findet, ist abschließend unter Zusammenführung zweier Gedankengänge zu begründen: Zum einen stößt der Gesetzgeber hinsichtlich komplexer Risiko- und Abwägungsentscheidungen zunehmend an sachstrukturelle Grenzen der abschließenden Regelbarkeit; deshalb kann eine geringere Regelungsdichte durch ein hinreichend konkretisiertes Entscheidungsverfahren aufgewogen werden.[104] Zum anderen bestehen gegen grammatikalisch unbestimmte Vorschriften - wie die verwaltungsrechtlichen, u.a. polizeilichen Generalklauseln aber m.E. auch den regelungsdefizitären strafprozessualen Eingriffsnormen - "trotz ihrer Weite unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und des Parlamentsvorbehalts keine verfassungsrechtlichen Bedenken, weil sie in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt sind."[105]
Bei der Anordnung einer Strafverfolgungsdurchsuchung handelt es sich um eine vergleichbare Risiko- und Abwägungsentscheidung, die sich mit der notwendigen Flexibilität dem Einzelfall annehmen muss. Das Verfahren dieser Abwägungsentscheidung ist gesetzlich fast überhaupt nicht geregelt, sondern orientiert sich an allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen, die durch Rechtsprechung und Lehre konkretisiert und in verschiedene Fallgruppen systematisiert sind. In diesem Sinne ist es das dogmatisch hinreichend konkretisierte, theoretisch hinreichend missbrauchsresistente[106] richterliche Prüfungsverfahren, welches die §§ 102 ff. StPO unter Bestimmtheitsgesichtspunkten "rettet". Dabei zeigt sich die offen einzugestehende Dialektik des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Dessen Prozeduralisierung mutiert zwar nicht selbst zur Ermächtigungsgrundlage, legitimiert aber eine extensive Auslegung des strafprozessualen Zwangsmittelrechts.
Limitiert wird die dogmatische Konkretisierung des Anordnungsverfahrens durch positive Vorgaben des Gesetzgebers, also letztlich den Vorrang des Gesetzes. Dazu, dass die unangekündigte Durchsuchung offen und nicht heimlich auszuführen ist, wurde soeben bereits Stellung bezogen; die unangekündigte ist keine heimliche Durchsuchung. Zudem ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang der §§ 102 ff. StPO, dass der Gesetzgeber die Strafverfolgungsbehörden nicht zu allen Grundrechtseingriffen, sondern vorrangig zu Eingriffen in die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) im Rahmen des verfassungsrechtlichen Durchsuchungsbegriffs (Art. 13 Abs. 2 GG) ermächtigen wollte; diese Eingriffsbindung wird durch die Anordnung einer unangekündigten Durchsuchung allerdings nicht überstiegen, ist doch die unangekündigte Durchsuchung auch eine besondere intensive Störung der räumlichen Privatheit des Betroffenen.
Schließlich überzeugte auch der Einwand nicht, der Gesetzgeber habe alle Durchsuchungsmodalitäten abschließend geregelt, so dass für eine extensive Auslegung der §§ 102 ff. StPO kein Raum mehr sei; denn eine entsprechende gesetzgeberische Intention, die sich letztlich einem legislatorischen wie legislativen Totalvorbehalt verschriebe, ist nicht belegt. Insofern verfängt auch der Verweis auf § 104 StPO nicht, also auf die erfolgte Regelung der Durchsuchung zur Nachtzeit. Nicht nur, dass diese Norm "heute nicht mehr zeitgemäß, wahrscheinlich auch nicht mehr verfassungsgemäß"[107] ist und damit den Flexibilitäts- und auch Legitimationsverlust, den eine gesetzliche Überregulierung mit sich bringt, illustriert. Im Übrigen zeugt § 104 StPO allein von der Kompetenz des Gesetzgebers, bestimmte Verhältnismäßigkeits- und Abwägungsgesichtspunkte - wie eben die besonders grundrechtssensible Durchsuchung bei Nacht - einfachgesetzlich zu fixieren, während andere entscheidungsrelevante Faktoren - wie das Gewicht der Straftat, die Schwere des Tatverdachts, die Erforderlichkeit der Durchsuchung oder der Verzicht auf eine vorherige Anhörung - keine positive Regelung erfahren müssen.
Versteht man, wie hier vorgeschlagen, die unangekündigte Durchsuchung als grundsätzlich anordbare Strafverfolgungsdurchsuchung im Sinne der §§ 102 ff. StPO, so bedeutet das:
Nach Maßgabe dieser Grundsätze war das Vorgehen der Polizei in 2 StR 375/11 strafprozessual rechtswidrig, es lag also auch bei strafrechtlicher Wertung ein rechtswidriger Angriff gegen den späteren Todesschützen B. bzw. die Unverletzlichkeit seiner Wohnung und somit objektiv eine Notwehrlage für ihn vor, denn die Nichtankündi-
gung war nicht Bestandteil des richterlichen Durchsuchungsbeschlusses. [113] Die aufwendige einsatztaktische Vorbereitung einschließlich der Hinzuziehung eines SEK unterstreicht, dass für die Nichtankündigung keine Gefahr in Verzug vorlag. Auf die konkreten, nachgerade sorgfaltspflichtwidrigen Versäumnisse während des Einsatzes, namentlich der nicht erfolgten Identifikation im Anschluss an das Einschalten des Lichts, ist daher gar nicht, etwa im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, einzugehen. Die unangekündigte Durchsuchung war von Anfang an rechtswidrig und wurde es nicht erst, als der B. auf das SEK aufmerksam wurde und dessen Beamte die unangekündigte Öffnung der Tür ungerührt fortsetzten.
Bei objektiver Betrachtung war die konkrete Notwehrhandlung des B., also der sofortige Schusswaffengebrauch in Verteidigungsabsicht, jedoch nicht erforderlich, so dass eine Rechtfertigung gemäß § 32 StGB ausscheidet. Rotsch[114] und implizit auch Erb[115] haben diesen Schluss freilich mit beachtlichen Argumenten in Zweifel gezogen.
Der hier vertretenen Ansicht liegt die Formel zugrunde, dass die "Erforderlichkeit der Verteidigung[…]im Wege einer ex-ante Betrachtung zu bestimmen[ist]. Maßgebend ist, wie ein besonnener Dritter in der Lage des Angegriffenen die im Zeitpunkt des Angriffs gegebenen und objektiv erkennbaren Umstände beurteilt hätte."[116] Insofern kommt es nach verbreiteter Ansicht, der hier gefolgt wird, weder auf die subjektiven - ggf. irrigen - Vorstellungen des potentiellen Verteidigers[117] an, noch muss der besonnene Beobachter in die Rolle[118] des Verteidigers schlüpfen.[119] Vielmehr sind der Eignungs- und Schadensprognose einer ggf. erforderlichen Notwehrhandlung die zur Zeit der Handlung tatsächlich gegebenen - und deshalb unter Umständen erst nachträglich bekannt werdenden - Umstände[120] zugrunde zu legen. Die Formel "objektiv ex ante" ist also missverständlich, basiert sie doch auf einer ex post-Perspektive. Sie strebt keine Privilegierung des irrenden bzw. seine Verteidigungslage nicht vollends überschauenden Verteidigers an, sondern verbürgt allein, dass sich "der Angegriffene nicht auf das Risiko einer nur unzureichenden Abwehrhandlung und des Eintritts eines mehr als belanglosen Schadens an seiner körperlichen Unversehrtheit einlassen"[121] muss.[122]
Im objektiven Wissen um einen Polizeieinsatz und die konkrete "Kampfposition" des B. ist damit die entscheidende Frage, ob dieser mit einem Warnschuss dem rechtswidrigen Eindringen der Einsatzkräfte hätte Einhalt gebieten können. Erb hat insofern - wenn auch in einem leicht anderen Kontext - Zweifel daran gesät, ob der tödliche Schusswaffeneinsatz des Angeklagten B. in 2 StR 375/11 nicht doch erforderlich war. Denn hätte er nicht sofort geschossen, sondern "mit der Pistole in der Hand bis zum endgültigen Aufbrechen der Tür gewartet und bei den Beamten vielleicht noch just in diesem Moment durch einen Warnschuss den - wenn auch objektiv unzutreffenden - Eindruck erweckt[…], er wolle sich mit der Polizei eine Schießerei liefern[, so]wäre er mit erheblicher Wahrscheinlichkeit Sekundenbruchteile später von den SEK-Beamten niedergeschossen worden".[123] Das überzeugt(e) indes nicht. Die Erforderlichkeit ist nicht in einem hypothetisch nach hinten verlagerten (die Wohnungstür ist aufgebrochen), sondern im eigentlichen Zeitpunkt der Verteidigungshandlung (die Wohnungstür ist noch nicht geöffnet) zu prüfen. Die Tatsache, dass sich die Polizei im konkreten Tatsachverhalt nach dem
ersten Schuss zu erkennen gegeben hat, zeigt, dass - bei objektiver Bewertung - ein Warnschuss ein gleich effektives, milderes Mittel gewesen wäre, um ein rechtswidriges, unangekündigtes Eindringen von SEK-Beamten in die Wohnung zu verhindern.
Auf der Grundlage der irrigen Vorstellungen des B., er werde von den rivalisierenden "Bandidos" angegriffen, ist zu fragen: "Durfte"[124] B., ohne sich strafbar zu machen, im Rahmen eines Bandenkrieges sofort und ohne einen Warnschuss abzugeben auf die - vermeintlich - eindringenden "Bandidos" schießen, ohne diesem rechtswidrigen Angriff auszuweichen?[125] Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist, ob dem B. eine Ausweichpflicht und damit einhergehend die Beschränkung (s)eines schneidigen Notwehrrechts aufzuerlegen ist. Für den Fall, dass das Notwehrrecht des B. zu suspendieren oder zu beschränken ist, wäre die Tötung des SEK-Beamten nicht aufgrund eines Erlaubnistatbestandsirrtums entschuldigt gewesen; immerhin hätte sich B. keine Umstände vorgestellt, die, hätten sie tatsächlich vorgelegen, die Tatbestandsmerkmale des § 32 StGB verwirklich hätten. Um auch hierzu die Antwort vorwegzunehmen: Dogmatisch wird eine Suspendierung des Notwehrrechts des B. kaum in Betracht kommen. Allerdings waren die Notwehrrechte des B. eingeschränkt, weil er die tätliche Auseinandersetzung mit den Bandidos riskiert, nicht die für die Konfliktlösung zuständigen staatlichen Stellen einbezogen und damit das staatliche Gewaltmonopol unterminiert hat.
2 StR 375/11 bietet Grund und Anlass, um die deutsche Notwehrdogmatik und ihre "Schneidigkeit" beim Einsatz tödlicher Gewalt sowohl im Allgemeinen als auch im besonderen Rahmen krimineller Bandenkriege zu reflektieren. Engländer hat hierzu emphatisch an den Satz "Vor dem Gesetz sind alle gleich" erinnert, um einer differenzierten Rechtsanwendung in Fällen entgegenzutreten, in denen es sich beim "Täter um einen ‚Schurken' und beim Opfer um einen Polizisten handelt."[126] Auch der "Schurke", so darf Engländer verstanden werden, müsse nicht zurückweichen. Jäger hat sich hingegen für eine Notwehreinschränkung ausgesprochen, weil der Todesschütze den Bandenkrieg mit den rivalisierenden Bandidos gewaltsam ausfechten und keinen Schutz durch die Staatsgewalt in Anspruch nehmen wollte und daher den Angriff provoziert habe.[127]
Abermals finden sich in den USA ganz vergleichbare Kontroversen. Diese werden jedoch anders als in Deutschland nicht allein dogmatisch - durch die Auslegung des nach prominenter Ansicht "vorbildlich",[128] m.E. eher "unvorteilhaft" kurz geratenen § 32 StGB - ausgetragen. Vielmehr findet sich in den US-Strafrechtsordnungen (auf Bundes- und Bundesstaatenebene) eine verwirrende Vielfalt höchst ausdifferenzierter gesetzlicher Notwehr-Regelungen (s. unten 1.). Diese erlauben es nicht nur, die Prämissen des deutschen Notwehrrechts zu hinterfragen, sondern enthalten auch eine Reihe interessanter, rechtspolitisch bedenkenswerter Differenzierungen (s. unten 2.). Insofern möchte ich zur Diskussion stellen:
Es wäre verfehlt, von "dem" US-Notwehrrecht zu sprechen. [129] Vielmehr gibt es in den USA, namentlich auf Bundes- und Bundesstaatenebene, die verschiedensten, mitunter fundamental voneinander abweichenden Notwehrregelungen. Im Folgenden sollen nur einige, letztlich eklektisch zusammengetragene Bestimmungen sowie ihre zugrundeliegenden Prinzipien vorgestellt werden, die aufgrund ihrer Typologie für § 32 StGB und seine Dogmatik von Interesse sind. Beginnen werde ich jedoch damit, in aller Kürze Gemeinsamkeiten und Grundlagen[130] der US-Notwehrrechte herauszuarbeiten (s. unten a.), bevor ich auf die in den USA umstrittene retreat rule des klassischen englischen Common Law (s. unten b.) und die neueren sog. stand your ground-Gesetze zu spre-
chen komme, die den notwehrübenden Kriminellen bewusst diskriminieren (s. unten c.).
Den US-Notwehrrechten sind die - teilweise inhaltlich fundamental voneinander abweichenden - gesetzlichen Differenzierungen gemein. Der sich damit auch im Allgemeinen Teil hypostasierende Primat des Gesetzgebers führt zu langen und komplexen Notwehrregelungen, die Common Law-typisch prozessual konnotiert sind und regelmäßig die Irrtumsproblematik - durch das Abstellen auf einen reasonable-Standard - miterfassen. Differenziert wird u.a. sachlich (Womit wird Notwehr geübt?), örtlich (Wo wird Notwehr geübt?) und personal (Wer übt Notwehr gegen wen?). Personaler Ausgangpunkt ist dabei die Notwehr des Bürgers, also die "bürgerliche Notwehr", nicht aber die Notwehr durch Organe der Staatsgewalt bzw. die "polizeiliche" oder "obrigkeitliche" Notwehr. Zudem wird der Einsatz potentiell tödlicher Gewalt gesondert geregelt, so dass potentiell tödliche Notwehrgewalt durch den Bürger als eigenständige rechtliche Kategorie gedacht ist; da das Common Law, wie fast alle Rechtsordnungen dieser Welt, die Notwehr im Grundsatz an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung koppelt, kommt der Einsatz tödlicher Gewalt durch den Bürger nur bei der Gefährdung von Leib oder Leben in Betracht. Ein Beispiel mag all das verdeutlichen:
SEC. 97-3-15[Mississippi Code]. Homicide; justifiable homicide.
(1) The killing of a human being by the act, procurement, or omission of another shall be justifiable in the following cases:
(a) When committed by public officers, or those acting by their aid and assistance, in obedience to any judgment of a competent court;
(b) When necessarily committed by public officers, or those acting by their command in their aid and assistance, in overcoming actual resistance to the execution of some legal process, or to the discharge of any other legal duty;
(c) When necessarily committed by public officers, or those acting by their command in their aid and assistance, in retaking any felon who has been rescued or has escaped;
(d) When necessarily committed by public officers, or those acting by their command in their aid and assistance, in arresting any felon fleeing from justice;
(e) When committed by any person in resisting any attempt unlawfully to kill such person or to commit any felony upon him, or upon or in any dwelling house in which such person shall be;
(f) When committed in the lawful defense of one's own person or any other human being, where there shall be reasonable ground to apprehend a design to commit a felony or to do some great personal injury, and there shall be imminent danger of such design being accomplished;[…]
Dass den Angegriffenen eine allgemeine Pflicht trifft, vor einem (Gegen‑)Angriff zurückzuweichen, wird in Deutschland bekanntlich unter emphatischen Hinweis auf das Rechtsbewährungsprinzip ("Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen!") sowie einen überkommenen, ggf. auch falsch verstanden und allemal machistisch geprägten Ehrbegriff ("Schimpfliche Flucht ist dem Angegriffenen nicht zumutbar!") abgelehnt. [131] Als Gegenmodell gilt die sog. retreat rule des klassischen englischen Common Law, die das Rechtsdenken in den USA weiterhin stark beeinflusst, obwohl sie heute in der Mehrheit der US-Bundesstaaten nicht mehr angewandt wird. [132] Die Gründe für und gegen die retreat rule sind es wert, auch in der deutschen Diskussion und gerade mit Blick auf 2 StR 375/11 bedacht zu werden.
Das klassische englische Common Law begegnete dem Vorbringen, dass die "bürgerliche" Tötung eines anderen Menschen aus Notwehr geboten war, mit gesunder Skepsis. Begrenzt wurden die "bürgerlichen" Notwehrrechte durch die sog. retreat rule. [133] In den Worten Blackstones:
"[I]f the slayer hath not begun to fight, or (having begun) endeavours to decline any farther struggle, and afterwards being closely pressed by his antagonist, kills him to avoid his own destruction, this is homicide excusable by self-defence. For which reason the law requires, that the person, who kills another in his own defence, should have retreated as far as he conveniently or safely can, to avoid the violence of the assault, before he turns upon his assailant; and that, not fictitiously, or in order to watch his opportunity, but from a real tenderness of shedding his brother's blood. And though it may be cowardice, in time of war between two independent nations, to flee from an enemy; yet between two fellow-subjects the law countenances no such point of honour: because the king and his courts are the vindices injuriarum, and will give to the party wronged all the satisfaction he deserves."[134]
In der retreat rule vereinen sich drei teilweise gegensätzliche Begründungsansätze, ein (neuerer) humanistischer, ein (traditionellerer) etatistischer sowie ein pragmatischer Ansatz:
Das humanistische Ideal der retreat rule betont den Eigenwert des Angreifers, der sich durch seinen rechtswidrigen Angriff zwar auf die Seite des Unrechts gestellt haben
mag, sich damit aber nicht seiner Würde begibt. Aus der spiegelbildlichen Warte des Angegriffenen hat Beale bereits im Jahre 1903 die zeitlose Sentenz geprägt:
"A really honorable man, a man of truly refined and elevated feeling, would perhaps always regret the apparent cowardice of a retreat, but he would regret ten times more, after the excitement of the contest was past, the thought that he had the blood of a fellow-being on his hands. It is undoubtedly distasteful to retreat; but it is ten times more distasteful to kill."[135]
Dieses "idealistische" Plädoyer für eine - soweit mögliche - gewaltfreie Lösung eines rechtswidrigen Angriffs (namentlich durch ein Zurückweichen vor ihm) darf die rechtshistorisch wohl maßgebliche, [136] etatistische Teleologie der retreat rule nicht verbergen: Die - weitest mögliche - Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols bei der Bewältigung sozialer Konflikte durch die Begrenzung von bürgerlicher Selbstjustiz im Gewande der Notwehr. Das kann im Kern auf ein etatistisches Staatsverständnis zurückgeführt werden, weil die Verteidigung des Rechts im Regelfall allein dem Staate zufällt und nicht vom Einzelnen wahrgenommen werden darf. Bezeichnend und auch entlarvend sind insofern abermals die Worte Beales:
"The law does not ordinarily secure the enjoyment of rights; it grants redress for a violation of rights. Sometimes, to be sure, equity by injunction or decree attempts to protect rights rather than to redress wrongs, but this is extraordinary. Still less frequently the law permits one to protect his own rights, but in no case may he do this unless in accordance with the interests of the state."[137]
"Bürgerliche" Notwehr und staatliches Gewaltmonopol stehen hier nicht in einem sich gegenseitig ergänzenden Komplementärverhältnis, wie es gerne in deutschen Lehre angenommen wird (der notwehrübende Bürger als Hilfspolizist des Staates), sondern bilden Widerparte: Je weniger die Bürger die Verteidigung ihrer Rechte in die eigenen Hände nehmen dürfen, umso mehr verwirklicht sich die Ausschließlichkeit souveräner Staatsgewalt (und vice versa). Das gilt insbesondere, wie sich mit Blick auf 2 StR 375/11 bereits hier formulieren lässt, für "bürgerliche" Notwehr in staatsgelösten, kriminellen Milieus.
Eine pragmatische Erklärung hat schließlich Epps[138] geliefert. Die retreat rule mache eine aufwendige forensische Identifikation der "Mitschuld" des Verteidigers beim Entstehen der Notwehrlage - zumindest, wie man ergänzen wird dürfen, im Rahmen der Strafbegründung - entbehrlich. Denn die Notwehrrechte des Verteidigers seien per se eingeschränkt, ohne Rücksicht darauf, ob er den Angriff durch sein Verhalten provoziert oder mitverschuldet hat oder nicht. Die retreat rule generalisiere also den Provokations- oder Mitverschuldensgedanken als notwehreinschränkendes Moment.[139]
Die retreat rule des klassischen Common Law galt nie absolut. Vielmehr findet sie ihre sachliche Grenze in der sog. to the wall doctrine (an der Wand stehend ist ein weiteres Zurückweichen nicht mehr gefordert). Zudem lässt die sog. castle doctrine die retreat rule im eigenen Heim gar nicht zur Geltung kommen (in den eigenen vier Wänden besteht keine Pflicht zum Zurückweichen, auch und gerade nicht beim Einsatz tödlicher Gewalt). Obwohl Querverbindungen zwischen beiden Doktrinen nicht zu bestreiten sind und sich beide mitunter gegenseitig bedingt oder verstärkt haben mögen, sind sie rechtshistorisch wie rechtstheoretisch anderen Zielen und Ideologien verschrieben.
Die to the wall doctrine beschreibt den Möglichkeitshorizont des Zurückweichens.[140] Ist ein Zurückweichen nicht (mehr) möglich, stellt die Tötung eines anderen Menschen im sozialen Raum zwar immer noch ein soziales Übel dar, konterkariert sie doch das staatliche Gewaltmonopol. Die durch Notwehr gebotene Tötung ist aber - in der Logik des klassischen Common Law - entschuldbar (excusable). Abermals in den Worten Blackstones:
"Homicide in self-defense, or se defendendo, upon a sudden affray, is also excusable rather than justifiable, by the English law […]. The party assaulted must[…]flee as far as he conveniently can, either by reason of some wall, ditch, or other impediment; or as far as the fierceness of the assault will permit him: for it may be so fierce as not to allow him to yield a step, without manifest danger of his life, or enormous bodily harm; and then in his defense he may kill his assailant instantly. And this is the doctrine of universal justice, as well as of the municipal law. And, as the manner of the defense, so is also the time to be considered:[…]
if A upon a sudden quarrel assaults B first, and upon B's returning the assault, A really and bona fide flees; and, being driven to the wall, turns again upon B and kills him; this may be se defendendo according to some of our writers".[141]
Die castle doctrine begrenzt die retreat rule hingegen örtlich, lässt letztere also im eigenen Heim gar nicht zur Geltung kommen und erlaubt somit - im Prinzip - eine Tötung von Eindringlingen ohne vorheriges Zurückweichen. Hier zeigt sich die ureigene, rechtshistorisch nicht zu unterschätzende Bedeutung des geflügelten Wortes "my home is my castle", das der große Sir Edward Coke in seinem Bericht über den oben bereits zitierten Semayne's Case schon Anfang des 17. Jahrhunderts geprägt hat:
"That the house of every one is to him as his castle and fortress as well for defence against injury and violence, as for his repose; and although the life of man is precious and favoured in law; so that although a man kills another in his defence, or kill one per infortun', without any intent, yet it is felony, and in such case he shall forfeit his goods and chattels, for the great regard which the law has of a man's life; But if thieves come to a man's house to rob him, or murder, and the owner or his servants kill any of the thieves in defence of himself and his house, it is no felony, and he shall lose nothing[. E]very one may assemble his friends or neighbours to defend his house against violence: But he cannot assemble them to go with him to the market or elsewhere to keep him from violence: Aand the reason of all the same is, because domus sua cuique est tutissimum refugium."[142]
Im anglo-amerikanischen Rechtsdenken ist das Heim als mit aller Waffengewalt verteidigbarer Rückzugsort tief verwurzelt. Dem liegt letzten Endes ein archaisches Verständnis der Heim- als physische Schutzstätte zugrunde: [143] Mit dem Übergriff in das Heim eines anderes begibt sich der Eindringling, wie die Worte Cokes verdeutlichen, seines Schutzes durch die Rechtsordnung; dessen Leben wird eben nicht mehr favoured by law. Auch scheint, anders als im sozialen Raum (in den Worten Cokes: the market), das staatliche Gewaltmonopol bei der Verteidigung des eigenen Heims außer Kraft gesetzt zu sein; nicht ohne Grund erklärt Coke das Heim zum tutissimum refugium, d.h. zur sichersten Zufluchtsstätte des Individuums. Erst in dieser Zusammenschau mit der castle doctrine ergibt sich die ursprüngliche Bedeutung der retreat rule, die die Regulierung des sozialen Zusammenlebens etatistisch dem Staate vorbehalten, dabei aber dem Einzelnen das eigene Heim als örtlich radizierten Rückzugs- und Verteidigungsort erhalten wollte. Die retreat rule und die castle doctrine sind somit bei näherer Betrachtung nicht Regel und Ausnahme, sondern verlangen in zwei trennscharf voneinander geschiedenen Räumen Geltung; das eine begrenzt das andere in einem ursprünglich-räumlichen Sinne, was an die enge historische, heute häufig in Vergessenheit geratene Verbindung von Raum und Recht erinnert.
Der US Supreme Court hat die Bedeutung dieser unterschiedlichen Notwehrräume in den 1890igern in zwei nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Entscheidungen bestätigt. In Beard kam er 1895 zu dem Schluss:
"The defendant was where he had the right to be, when the deceased advanced upon him in a threatening manner, and with a deadly weapon; and if the accused did not provoke the assault, and had at the time reasonable grounds to believe, and in good faith believed, that the deceased intended to take his life, or do him great bodily harm, he was not obliged to retreat, nor to consider whether he could safely retreat, but was entitled to stand his ground, and meet any attack made upon him with a deadly weapon, in such way and with such force as, under all the circumstances, he, at the moment, honestly believed, and had reasonable grounds to believe, were necessary to save his own life, or to protect himself from great bodily injury." [144]
Nur ein Jahr später wurde in Allen hingegen eine jury instruction mit folgendem Inhalt gebilligt:
"If[the defendant]is attacked by another in such a way as to denote a purpose to take away his life, or to do him some great bodily harm from which death or permanent injury may follow, in such a case he may lawfully kill the assailant. When? Provided he use all the means in his power otherwise to save his own life or prevent the intended harm, such as retreating as far as he can, or disabling him without killing him, if it be in his power."[145]
Obwohl dort eine Ausweichpflicht verneint und hier bejaht wurde, war dies alles andere als in sich widersprüchlich. Beard war - wenn auch nicht in seinem Haus, so doch - auf seinem Grundstück angegriffen worden; sein Refugium wurde gleichsam darauf erstreckt. Allen hatte seinen Angreifer hingegen im öffentlichen Raum getötet.
Die Kombination aus retreat rule und castle doctrine wurde, wenn auch mit mancher Änderung im Detail, bis vor kurzem durch eine "starke Minderheit"[146] der US-Bundesstaaten beibehalten. Auch der Model Penal Code (MPC) enthält eine entsprechende, paradigmatische Regelung:
§ 3.04. Use of Force in Self-Protection.
"The use of deadly force is not justifiable[if]the actor knows that he can avoid the necessity of using such force with complete safety by retreating or by surrendering possession of a thing to a person asserting a claim of right thereto or by complying with a demand that he abstain from any action that he has no duty to take, except that[…]the actor is not obliged to retreat from his dwelling or place of work, unless he was the initial aggressor or is assailed in his place of work by another person whose place of work the actor knows it to be."
Eine Mehrheit der US-Bundesstaaten lehnt die retreat rule demgegenüber seit langem ab. Bereits im 19. Jahrhundert hatten US-Gerichte eine gegenläufige no duty to retreat auch für tödliche Notwehr im sozialen Raum etabliert. Die Gründe dafür sind ebenso Legion wie deren Interpretationen. Aus diesem Motiv- und Interpretationsbündel stechen zwei Begründungsansätze heraus, die den klassischen Grundsatz (die retreat rule) gleichsam von innen heraus und durch die Entgrenzung seiner Schranken (to the wall und castle doctrine) destruiert haben:
Zum Ersten wurde die retreat rule durch eine weitgehende Generalisierung der to the wall doctrine negiert, indem zumutbares Ausweichen in den Bereich des Unmöglichen verschoben wurde. Bedeutsam wurde dabei nicht nur eine abstrahierende Besinnung auf die konkrete Kampfsituation (in den berühmten Worten des noch berühmteren Oliver Wendel Holmes, Jr.: "Detached reflection cannot be demanded in the presence of an uplifted knife."[147] ). Zudem ließ die zunehmende Verbreitung von Schusswaffen Flucht als unrealistisch erscheinen. Im Diktum des Minnesota Supreme Court:
"The doctrine of 'retreat to the wall' had its origin before the general introduction of guns ... . It would be good sense for the law to require in many cases, an attempt to escape from hand to hand encounter with fists, clubs, and even knives...while it would be rank folly to so require when experienced men, armed with repeating rifles, face each other in an open space, removed from shelter, with intent to kill or do great bodily harm."[148]
Zum Zweiten wurde die retreat rule in vielen US-Bundesstaaten durch eine räumliche Ausdehnung sowie eine rechtsphilosophische Umformulierung der castle doctrine zu Fall gebracht. Dem hinterliegt ein - im Vergleich zu England - anderes Verständnis über das - rechtlich konstruierte und konstruierbare - Bürger-Staat-Verhältnis. In US-Gerichtsentscheidungen des 19. Jahrhunderts wurde die Eigenverantwortlichkeit des ehrenhaften und wahren US-Amerikaners betont, der sich nicht wie der "feige"[149] Engländer zurückziehen muss, sondern dort, wo er sein darf [150], d.h. auch im sozialen Raum, seinen Mann stehen darf; damit wurde gleichsam die Rolle des Staates bei der Sicherung des sozialen Zusammenlebens zurückgedrängt. Besonders wirkmächtig waren insofern zwei "Glanzstücke" gerichtlicher Rhetorik:
"It is true that all authorities agree that the taking of life in defense of one's person can not be either justified or excused, except on the ground of necessity; and that such necessity must be imminent at the time; and they also agree that no man can avail himself of such necessity if he brings it upon himself. The question, then, is simply this: Does the law hold a man who is violently and feloniously assaulted responsible for having brought such necessity upon himself, on the sole ground that he failed to fly from his assailant when he might have safely done so? The law, out of tenderness for human life and the frailties of human nature, will not permit the taking of it to repel a mere trespass, or even to save life, where the assault is provoked; but a true man, who is without fault, is not obliged to fly from an assailant, who, by violence or surprise, maliciously seeks to take his life or do him enormous bodily harm."[151]
"Indeed, the tendency of the American mind seems to be very strongly against enforcement of any rule which requires a person to flee when assailed."[152]
Diese wertungsoffenen Begriffe (true man und American mind) sind augenscheinlich einer traditionellen Geschlechterlogik verschrieben.[153] Sie verströmen bei kulturkritischer Deutung überdies eine gewisse "Wild-West-Mentalität"[154] und stilisieren unterschwellig den Verteidiger zum Beschützer des Gemeinwesens.[155] Bevor jedoch allein deshalb Bezugnahmen auf den "wahrhaften Mann" oder "den amerikanischen Geist" mit Schimpf und Schande belegt werden, sei daran erinnert, dass auch die deutsche Rechtsprechung und Lehre mit ganz ähnlichen Emphasen[156] samt ihrer impliziten Annahmen operiert. Rechtsphilosophisch unterstreicht der true man-Ansatz die Sonderrolle der Notwehr - im Vergleich zum Notstand - unter Bezug auf die natürlichen Rechte der Bürger.[157] Insbesondere das natürliche Recht, sich im öffentlichen Raum frei bewegen zu dürfen, sowie das
"göttliche Recht, sich selbst verteidigen zu dürfen" ("divine right of self-defense"[158]).[159]
Erst im Lichte der wechselvollen Geschichte der retreat rule sowie der castle doctrine erklären sich (einige) der jüngeren Entwicklungen auf dem Gebiete der Notwehrregelungen in den USA: die von der mächtigen National Rifle Association (NRA) propagierte Einführung von sog. stand your ground-Gesetzen. Seit Florida im Jahre 2005 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hat, haben sich viele weitere US-Bundesstaaten angeschlossen und ihre Notwehrregelungen zugunsten der Angegriffenen verschärft: Diese haben nun das Recht, sofort und ohne Zurückweichen tödliche Notwehr zu üben, wenn sie sich vernünftigerweise (reasonably) im öffentlichen Raum angegriffen fühlen.[160] Die stand your ground-Gesetze nehmen die castle doctrine in sich auf, erweitern aber deren Anwendungsbereich in den öffentlichen Raum. Für 2 StR 375/11 von Interesse sind nicht nur die Schneidigkeit, sondern auch die Hintergründe sowie die personalen Differenzierungen dieser stand your ground-Gesetze.[161] Am Beispiel des Vorreiters Florida:
Section 776.013 Florida Statutes. Home protection; use of deadly force; presumption of fear of death or great bodily harm.
(1) A person is presumed to have held a reasonable fear of imminent peril of death or great bodily harm to himself or herself or another when using defensive force that is intended or likely to cause death or great bodily harm to another if:
(a) The person against whom the defensive force was used was in the process of unlawfully and forcefully entering, or had unlawfully and forcibly entered, a dwelling, residence, or occupied vehicle, or if that person had removed or was attempting to remove another against that person's will from the dwelling, residence, or occupied vehicle; and
(b) The person who uses defensive force knew or had reason to believe that an unlawful and forcible entry or unlawful and forcible act was occurring or had occurred.
(2) The presumption set forth in subsection (1) does not apply if:
[…]
(c) The person who uses defensive force is engaged in an unlawful activity or is using the dwelling, residence, or occupied vehicle to further an unlawful activity; or
(d) The person against whom the defensive force is used is a law enforcement officer[… ]who enters or attempts to enter a dwelling, residence, or vehicle in the performance of his or her official duties and the officer identified himself or herself in accordance with any applicable law or the person using force knew or reasonably should have known that the person entering or attempting to enter was a law enforcement officer.
(3) A person who is not engaged in an unlawful activity and who is attacked in any other place where he or she has a right to be has no duty to retreat and has the right to stand his or her ground and meet force with force, including deadly force if he or she reasonably believes it is necessary to do so to prevent death or great bodily harm to himself or herself or another or to prevent the commission of a forcible felony.
Hintergrund dieser stand your ground-Gesetze ist die Förderung und Bewahrung des verfassungsmäßigen Rechts auf Waffenbesitz in den USA<.[162] Diese Bewegung bedient sich heute einer starken Opferrhetorik.[163] Bei kultur- und
hier waffenkritischer Sicht wendet sie sich nicht mehr starken, sondern insbesondere schwachen, aber bewaffneten, "unbescholtenen und gesetzestreuen" Bürger,[164] der sich als Opfer von Gewaltkriminalität einzig mithilfe seiner Waffen zur Wehr setzen und Verbrechen verhindern kann.[165] Das ist eine bedeutende Rekonfiguration des true man des 19. Jahrhunderts mitsamt seiner "Wild-West-Romantik"; die notwehrübende true person des 21. Jahrhunderts ist im Rahmen der stand your ground-Gesetze ein schwaches, getriebenes Opfer.
Dogmatisch auffällig ist an der oben zitierten Modell-Vorschrift zweierlei: Zum Ersten die - auch in der deutschen Dogmatik vertretene - relative Privilegierung von Polizeibeamten. Gegen diese darf tödliche Notwehr de facto[166] nicht geübt werden, wenn sie in eine Wohnung eindringen; allerdings müssen sich die Beamten im Vorfeld als Polizeibeamte identifizieren. Zum Zweiten sticht die absolute Diskriminierung solcher Angegriffenen ins Auge, die in rechtswidrige Aktivitäten verwickelt sind. Diesen steht weder die Vermutung zur Seite, dass sie bei der bewussten Verteidigung des eigenen Heims um ihr Leben gebangt haben (Abs. 1, Abs. 2 lit. c), noch ist es ihnen erlaubt, ohne zurückzuweichen auf offener Straße tödliche Notwehr zu üben, auch wenn sie sich vernünftigerweise angegriffen fühlen (Abs. 3).
Das rechtliche - freilich nicht das tatsächliche - Risiko, als Beamter im Rahmen einer no knock-Durchsuchung von einem überraschten Bewohner in einer irrigerweise angenommenen Notwehrlage angegriffen wird, ist damit wie folgt verteilt: Erfolgt eine Identifizierung, darf gegen den Beamten keine Gewalt geübt werden, und zwar selbst dann nicht, wenn der Bewohner z.B. ein Anklopfen nicht wahrgenommen haben will. Erfolgt keine Identifizierung, dringt man also unangekündigt in eine Wohnung ein, tragen die Beamten ein Verwechslungs- und Fehlinformationsrisiko: Sind die Bewohner nicht in kriminelle Machenschaften verstrickt, stehen diesen die besonders schneidigen Notwehrrechte und gesetzlichen Vermutungen der stand your ground-Gesetze zu Gebote; das gilt freilich nicht, wenn der Bewohner kriminell ist oder die Wohnung kriminell nutzt.
Die damit gesetzlich vorgesehene Diskriminierung von Straftätern scheint in den USA so selbstverständlich zu sein, dass sie akademisch soweit ersichtlich nicht ernsthaft analysiert, geschweige denn in Zweifel gezogen wird. Wagt man sich von diesseits des Atlantiks an eine Erklärung, gilt es zunächst den guten Schuss "feindstrafrechtlichen" Populismus auszublenden, den man durch die NRA propagierten Gesetzen unterstellen muss. Erachtet man diesen Makel nicht für durchschlagend, ergeben sich in der Zusammenschau der retreat rule, castle doctrine und true man-Ideologie durchaus gute Gründe, die für eine relative Beschränkung von Notwehrrechten in kriminellen Kontexten sprechen und die - um an die Wortwahl Engländers zu erinnern - dem "Schurken" den Einsatz tödlicher Gewalt versagen, bis dieser sprichwörtlich an der Wand steht. Solche Notwehreinschränkungen leisten nämlich dem staatlichen Gewaltmonopol Vorschub, das auch und gerade in von Kriminellen genutztem Wohnraum Geltung verlangt, um keine staatsgelösten Räume zur Entstehung kommen zu lassen. Das gilt insbesondere, wenn der Notwehrübende nicht als true man die Rechtsordnung verteidigt, sondern als Krimineller außerhalb des staatlichen Gemeinwesens operiert (z.B. im Falle eines kriminellen Bandeskrieges) oder sich sogar gegen dieses stellt (z.B. im Falle der "Verteidigung" gegen einen polizeilichen Zugriff). In solchen Fällen wird unser prototypischer Kriminelle den Angriff - sei dieser nun rechtswidrig oder rechtmäßig - gegen seine Rechtsgüter im weitesten Sinne "mitverschuldet" haben, so dass er als true person auch keinen Opferstatus geltend machen kann.
All diese Erklärungsansätze tragen freilich nur eine relative, nicht aber eine absolute Diskriminierung des Straftäters, wie wir sie in vielen US-stand your ground-Gesetzen finden. Dass der "bescholtene Bürger", der als Straftäter unverschuldet Opfer eines gegen ihn gerichteten rechtswidrigen Angriffs wird, notwehrrechtlich gegenüber dem "unbescholtenen Bürger" schlechter gestellt ist, mag pragmatische Gründe haben (Stichwort: Abschneiden von Schutzbehauptungen; Generalisierung des Regel- unter Ausblendung des Ausnahmefalls). Nichtsdestoweniger: Diese absolute Diskriminierung von Straftätern trägt auch feindstrafrechtlich-populistische Züge. Diese sind jedoch eindeutig als solche identifizierbar, so dass eine relative Schlechterstellung des Kriminellen von einem entsprechenden feindstrafrechtlichen Vorwurf freigezeichnet ist; denn dieser Kriminelle wird nicht als Feind der Gesellschaft identifiziert, wohl aber als ein sich dem staatlichen Gewaltmonopol widersetzender Bürger, der nicht Opfer von krimineller Gewalt ist. Das ermöglicht es, auch in Deutschland über eine Beschränkung von Notwehrbefugnissen in kriminellen Kontexten, wie etwa kriminellen Bandenkriegen, vorurteilsfrei nachzudenken.
Die ästhetische Einfachheit des § 32 StGB zeugt bekanntlich nur vermeintlich von gesetzlicher und gesetzgeberischer Klarheit. In Wirklichkeit wird die Rigorosität des Gesetzes in Rechtsprechung und Lehre durch die feinsinnige und feinteilige Auslegung der "Gebotenheit" der Notwehr in vielfältiger Art und Weise durchbrochen. [167] Das geschieht letztlich im Auftrag und unter Billigung des Gesetzgebers, der mit dem Begriff "geboten" in § 32 Abs. 1 StGB ausdrücklich sicherstellen wollte, dass Notwehrbefugnisse sozialethischen Einschränkungen unterliegen.[168] Gerade die Rechtsprechung leitet diese sozialethischen Einschränkungen aus rechtsprinzipiellen Erwägungen zur Notwehr ab. Das mag zunächst stringent wirken und auch verfassungsrechtlich wünschenswert sein, weil judikative Rechtsfortbildung im Gewande der Rechtskonkretisierung vorhersehbar(er) wird. In Wahrheit ist jedoch - wie Rönnau/Hohn zu Recht betonen - noch keine befriedigende rechtsprinzipielle Begründung der lex lata vorgelegt worden,[169] die - so darf ergänzt werden - im Einzelfall manipulationsresistent ist. Nicht so sehr unter Bestimmtheits-, denn vielmehr unter Wesentlichkeitsgesichtspunkten bleibt somit nur der bis dato unerhört gebliebene Appell an den Gesetzgeber, das Recht der Notwehr gesetzlich auszudifferenzieren. Bis dies geschieht, sollen sich - wie man abermals Rönnau/Hohn erfährt - Rechtsprechung und Wissenschaft in Demut und Zurückhaltung üben; telelogische Reduktionen des § 32 StGB zur Begründung nicht mehr gebotener Notwehrhandlungen müssten auf bereits anerkannte Fallgruppen begrenzt werden.[170] Im Folgenden werde ich mich diesem Verdikt weitgehend beugen.[171] Aber auch unter diesen engen Vorgaben sind Beschränkungen von Notwehrbefugnissen in kriminellen Milieus rechtsprinzipiell tunlich und rechtsdogmatisch darstellbar, wenn der Angegriffene im Vorfeld ein ab- und vorhersehbaren rechtswidrigen Angriffs staatlichen Schutz hätte suchen können (unten b.). Dazu gilt es zunächst die Grundlagen des deutschen Notwehrrechts im Lichte anglo-amerikanischer Doktrinen zu präzisieren (unten a.).
"Das Notwehrrecht legitimiert private Gewalt und ist deshalb im Maß seiner Ausgestaltung von politischen Konzepten des Verhältnisses Staat-Bürger abhängig. Die Indikationen ‚politischer Grundanschauungen' sind dementsprechend deutlich."[172] Wie Recht Jakobs mit dieser Offenbarung hat, hat die kurze Darstellung der anglo-amerikanischen Notwehrdoktrinen bereits illustriert. Da dies jedoch in einer vermeintlich apolitischen deutschen Rechtsprechung gerne vernachlässigt wird, geben die besagten US-Doktrinen Anlass zu zwei dogmatischen Präzisierungen:
Zu präzisieren ist zunächst die in Rechtsprechung und Lehre herrschende dualistische Begründung der Notwehr, die neben dem individuellen Schutzprinzip (also dem Schutz der Rechtsgüter des Angegriffenen) auch auf einem überindividuellen Rechtsbewährungsprinzip basiert.[173] Mit der Notwehr setzt der Angegriffene nach überwiegender Ansicht ein überwiegendes Interesse durch, nämlich die Erhaltung seiner angegriffenen Rechtsgüter sowie die Geltungskraft des Rechts an sich. Bekanntlich wird letzteres, also das Rechtsbewährungsprinzip, herangezogen, um eine allgemeine Ausweichpflicht des Angegriffenen zu verwerfen. "Die Ausklammerung von Flucht und Ausweichen folgt[…]aus dem der Notwehr zugrundeliegenden Gedanken, wonach das (auf Seiten des Angegriffenen stehende) Recht dem (vom Angreifer verwirklichten) Unrecht nicht zu weichen braucht."[174] Der Angegriffene wird dabei, durchaus vergleichbar dem US-amerikanischen true man, zum Verteidiger einer "überpersönlichen Rechtsordnung" aufgebaut, womit - wie Roxin dies anschaulich darstellt - die "Ernennung des Bürgers zu einem freiwilligen Hilfspolizisten für ‚das Recht'"[175] einhergehen soll.
Mangels der Greif- oder Messbarkeit "des Rechts" ist es freilich für sich genommen entweder nur rhetorisches Stilmittel oder metaphysisches Konstrukt. Zwar ist "das Recht" im letzteren, metaphysischen Sinne entscheidend, um eine notwendige Verteidigung der (philosophisch ganz divergent begründbaren) staatlichen Friedensordnung gegen Angriffe etablieren zu können. Wer diese Verteidigung wie zu übernehmen hat, ist damit jedoch alles andere als präjudiziert. Wie die wechselvolle Geschichte der retreat rule illustriert, ist klar zwischen dem
Recht sowie der Ausübungsübungszuständigkeit bzw. zwischen der überpersönlichen Rechtsordnung sowie dem staatlichen Gewaltmonopol zu scheiden.[176]
Natürlich sind diese Unterscheidungen alles andere als unbekannt und haben ihren dogmatischen Niederschlag im Streit gefunden, ob private Notwehr gegenüber hoheitlicher Hilfe subsidiär ist. Die herrschende Meinung erkennt mittlerweile auf Subsidiarität, Roxin spricht gar von einem "Prinzip des Vorranges staatlicher Gewalt."[177] Allerdings wird all das ganz überwiegend als reines "Problem der Erforderlichkeit"[178] der Notwehrhandlung (miss‑)verstanden. Damit wird die übergreifende Bedeutung verkannt, die dem Verhältnis von Individuum, Bürger und Staat bzw. von privater, bürgerlicher und staatlicher Gewalt zukommt.[179] Wie die retreat rule, castle doctrine und stand your ground-Gesetze versinnbildlichen, steht und fällt die ganze Konzeption der Notwehr damit, ob sich Individuen privat gegen Angriffe verteidigen dürfen (castle doctrine) oder ob sich das staatliche Recht durch die direkt angegriffenen Bürger (stand your ground) bzw. durch den mittelbar angegriffenen Staat (retreat rule), jeweils als die vindices iniuriarum, hypostasieren soll. In den beiden letztgenannten Fällen bewährt sich das staatliche Recht, aber auf gänzlich unterschiedliche Weise. Das Rechtsbewährungsprinzip ist im rechtsvergleichenden Lichte folglich rechtsphilosophisch, kriminalpolitisch und auch rechtsdogmatisch alles andere als determiniert, sondern im höchsten Maße wertungsoffen.
Stellt man - ganz im Sinne der retreat rule - das Prinzip des Vorranges staatlicher Gewalt an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen, so kann auch ein schonendes, eine Ausweichpflicht postulierendes Notwehrrecht das Recht bewähren, nämlich indem in der konkreten Notwehrlage das Gewaltmonopol des Staates hochgehalten wird. Nur wenn dem Angegriffenen ein Zurückgreifen auf staatliche Stellen nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist, weil er sinnbildlich an der Wand steht, darf er sich selbst verteidigen und muss nicht auf staatliche Stellen zählen. Diese Art der Rechtsbewährung durch die Bewährung des Rechtsdurchsetzungsapparates mag in Gesetzgebung oder Rechtsprechung deshalb nicht offen diskutiert werden, weil § 32 StGB misslicherweise "bürgerliche" und "obrigkeitliche" Notwehr vermengt. Zwar ist bekanntlich umstritten, ob Hoheitsträger sich auf das Jedermanns-Recht der strafrechtlichen Notwehr berufen können.[180] Allerdings sollen nach vielen Polizeigesetzen der Länder die strafrechtlichen Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben;[181] und auch die Rechtsprechung wendet, weitgehend ungerührt von vereinzelter Kritik im Schrifttum, das strafrechtliche Notwehrrecht in Ergänzung polizeigesetzlicher Regelungen an.[182]
Es überrascht daher nicht weiter, dass die besondere "Schneidigkeit des Notwehrrechts" auch dem Schutze des staatlichen Herrschaftsapparates dient. So hatte der BGH erst 2004 einen Polizisten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, weil ihm
"nicht angesonnen werden[konnte], vor dem Angriff[…] zurückzuweichen. Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere Umstände sein Notwehrrecht einschränken, beispielsweise wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat. Etwas anderes gilt auch nicht für Polizeibeamte."[183]
Dass 2 StR 375/11 sich ausdrücklich auf diese Entscheidung beruft und damit die Gleichbehandlung von Bürgern und Staatsdienern bekräftigt, kann mit Engländer[184] als qualitativer Sieg des "vor-dem-Gesetz-sind-alle-gleich" gefeiert werden. Die Tatsache, dass die Polizei im Einzelfall in Schranken gewiesen wurde, vermag aber nicht die eigentliche notwehrrechtsprinzipielle Paradoxie zu verbergen: Die Erlaubnis, dem Angriff standhalten zu dürfen und nicht zurückweichen zu müssen, schützt und verletzt gleichermaßen die staatliche Polizei-Gewalt, abhängig davon, ob ein Bürger oder ein Repräsentant des Staates Notwehr übt. Aus der Dialektik ihrer Gleichbehandlung folgt zynischerweise, dass der zweite Strafsenat in 2 StR 375/11 die Straflosigkeit des Todesschützen "in Kauf nehmen" musste, um dessen Kolleginnen und Kollegen für die Zukunft ein schneidiges Notwehrrecht zu erhalten und sie vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Da in Deutschland die Polizei (fast) immer bewaffnet ist, die Bürger hingegen fast nie, geht mit der Absage an eine generelle Ausweichpflicht, die auch und gerade beim Einsatz potentiell tödlicher Waffengewalt nicht bestehen soll, in der Mehrzahl der Notwehrfälle eine unterschwellige Privilegierung der Polizei einher. Das ist gleichsam die quantitative Kehrseite des "vor-dem-Gesetz-sind-alle-gleich".
In der Sache mag diese quantitative Privilegierung der waffentragenden Polizei durchaus begründbar sein.[185] Rechtswirklich bekräftigt sie allemal das Prinzip des Vorranges staatlicher Gewalt, das über die Erforderlichkeitsprüfung hinaus Geltung erlangt. Eine ehrliche und auch machtkritische Dogmatik muss sich dieser Privilegierung stellen und darf insofern auch nicht davor zurückschrecken, die logischen Gegenbegriffe in den Mund zu nehmen: Nämlich Diskriminierung und relative Ungleichbehandlung, hier von anderen Gruppen von
Notwehrübenden. Denn vor dem Gesetz sind zwar alle gleich, allerdings ist es allemal verfassungsrechtlich nicht verboten, Ungleiches auch ungleich zu behandeln, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung finden lässt.[186]
Im Sinne der vorstehenden notwehrrechtsprinzipiellen Überlegungen spricht Vieles für Notwehreinschränkungen in kriminellen Kontexten bzw. genauer: für Einschränkungen der Notwehrbefugnisse bei bürgerlich-krimineller Notwehr, die den Vorrang des staatlichen Gewaltmonopols negiert und damit nicht Ausdruck des bürgerlichen Zustand ist, wie er im modernen Staatswesen Geltung verlangt. - Der Vorrang staatlicher Gewalt muss auch und gerade in kriminellen Kontexten gelten und dort rechtlich durchgesetzt werden, um staatsgelöste Räume bzw. durch Rechtsbruch und Gewalt wesentlich mitgeprägte Subkulturen weder zur Entstehung kommen zu lassen noch ihrer Perpetuierung Vorschub zu leisten. Dient das Rechtsbewährungsprinzip dem Schutz der staatlichen Friedensordnung, so muss es auch und gerade dem Schutze des Gewaltmonopols des Staates verschrieben sein, das synonym für den inneren Rechtsfrieden steht. Dient eine Notwehrhandlung also weder objektiv noch subjektiv der Förderung des bürgerlichen Zustand im modernen Staat und trägt sie vielmehr objektiv wie subjektiv dazu bei, eine unterhalb der staatlichen Herrschafts- und Vollzugsgewalt existierende normative Ordnung zu erhalten, so kann dem Notwehrübenden kaum "das Recht" zur Seite stehen und ihm ein besonders schneidiges Notwehrrecht garantieren. Das Rechtsbewährungsprinzip ist damit gleichsam im Hinblick auf die bürgerlich-kriminelle Notwehr suspendiert.
Das heißt freilich nicht, dass sämtliche bürgerlich-kriminellen Notwehrrechte suspendiert wären; es heißt lediglich, dass Notwehr mit krimineller, das staatliche Gewaltmonopol nicht beachtender Teleologie einzig auf der Grundlage des individuellen Schutzprinzips begründbar ist. Das Primat des staatlichen Gewaltmonopols wird erst dann nicht mehr in Frage gestellt, wenn der Notwehrübende sinnbildlich an der Wand stehend betroffen wird und er den Angriff auf seine Rechtsgüter nicht mehr anders als durch einen verhältnismäßigen Gegenschlag abzuwehren in der Lage ist. Die unvermeidliche wie unausweichliche bürgerlich-kriminelle Notwehr wirft den Angegriffenen aus seiner Warte in den Naturzustand zurück. Zwar handelt er aus der Warte der Rechtsordnung im bürgerlichen Zustand; allerdings kann von Rechts wegen nicht erwartet werden, dass der Einzelne sich um den Erhalt des Staats wegen aufopfert. Das gilt insbesondere, wenn das Leben des Angegriffenen ernstlich bedroht ist. Rechtsprinzipiell (wohlgemerkt nicht rechtsdogmatisch) heißt das: Da ihre Alleinstellungs- oder Qualifikationsmerkmale nicht gegeben sind, wird Notwehr in kriminellen Kontexten auf allgemeine Notstandserwägungen zurückgeworfen.[188]
Damit sind Notwehrbefugnisse in kriminellen Kontexten weitgehend zu beschränken, wenn und weil Notwehr mit einer staatsgelösten Teleologie geübt wird. Insbesondere sind weitgehende Flucht- oder Ausweichpflichten zu postulieren. Das gilt auch und insbesondere, wenn der Notwehrübende im eigenen Heim angegriffenen wird. Das staatliche Gewaltmonopol gilt eben nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in privaten Wohnungen. Insbesondere dient die Unverletzlichkeit der Wohnung nicht dazu, dem Einzelnen ein kriminelles Leben zu ermöglichen. Das Recht auf räumliche Privatheit gibt kein Recht zur Etablierung staatsgelöster krimineller Räume.
Es ist offen zuzugeben: Diese Argumentation führt zu einer Schlechterstellung des Straftäters, der Notwehr in kriminellen Kontexten und mit krimineller Teleologie übt. Das ist freilich kein Feindstrafrecht im eigentlichen Sinne, weil der Straftäter weiterhin als Bürger akzeptiert wird und ihm Notwehrrechte nicht per se versagt werden; ihm wird "nur" aufgegeben, vor einem rechtswidrigen Angriff zurückzuweichen.[189] Die Botschaft ist demnach nicht, um Neumanns Bedenken auf- und vorwegzunehmen, dass ein "Rocker[...]nicht straflos ausgehen[darf],
wenn er, unter welchen Umständen auch immer, einen Polizisten getötet hat."[190] Die Botschaft ist "lediglich", dass der Staat in einem "Rockerkrieg" erwartet, dass sich die "Rocker" nicht gegenseitig töten und tödliche Notwehr nur als ultima ratio geübt werden darf, d.h. nur dann, wenn alle vernünftigen, den Angegriffenen nicht in größere Gefahren bringenden Flucht- und Schutzwehrmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind.
Hier wurde der Vorrang staatlicher Gewalt bewusst in den Mittelpunkt der rechtsprinzipiellen Argumentation gestellt. Diese wurde mit anderen Worten bewusst weder mit idealistischen Überlegungen überhöht (Stichwort: der Angreifer als schützenswerter Mitmensch) noch mit "Mitverschuldensgesichtspunkten" angereichert. Dieser argumentative Reduktionismus gebietet jedweder, insbesondere von der Polizei gescheuter personalen Entgrenzung von Ausweichpflichten Einhalt: In "polizeilicher" Notwehr hypostasiert sich der Vorrang der staatlichen Friedensordnung quasi "von Amts wegen"; dass damit in Extremfällen "das Recht" Vorrang vor dem Leben des angreifenden Mitmenschen verlangt, ist dann jedoch in aller Deutlichkeit herauszustellen. Zudem droht keine "Entmündigung" des unbescholtenen Bürgers, dem insbesondere nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, sich überhaupt in den Sozialverkehr gewagt zu haben. Der unbescholtene Bürger kann also weiterhin zum Bewahrer des staatlichen Gemeinwesens stilisiert und mit schneidigen Notwehrrechten beliehen werden (Stichwort: true man). Ihm steht es frei, sich im öffentlichen Raum frei zu bewegen und sich als Kriminalitätsopfer sofort zu verteidigen.
Wie eingangs erwähnt (s. oben III.2.) müssen rechtsprinzipiell begründete Beschränkungen von Notwehrbefugnissen auf anerkannte dogmatische Fallgruppen oder Figuren zurückgeführt werden, um dem Bannstrahl einer verfassungswidrigen teleologischen Reduktion des § 32 StGB zu entgehen. Eine absolute rechtsprinzipielle Beschränkung von Notwehrbefugnissen in kriminellen Kontexten wird insofern dogmatisch kaum darstellbar sein. Dogmatisch sehr wohl einschränkbar sind die Notwehrrechte des Angegriffenen freilich dann, wenn dieser (1) nicht auf der Seite des staatlichen Gewaltmonopols steht und (2) sich nicht unter staatlichen Schutz begibt, obwohl ein ab- und vorsehbarer rechtswidriger Angriff dadurch hätte vermieden werden können.
Die Rechtsprechung arbeitet insofern mit der wertungsoffenen Formel, dass eine "sozialethisch zu missbilligende, vorwerfbare Herbeiführung der Notwehrlage durch den Angegriffenen[…]zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen[kann], wenn zwischen dem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht."[191] Dogmatisch tragend sind dabei letztlich (ihrerseits nicht minder wertungsoffene) objektive Zurechnungsmomente: Wurde durch ein nicht sozial adäquates Vorverhalten die nahe Gefahr eines vorhersehbaren Angriffs geschaffen oder zumindest erhöht? Dogmatischer Bezugspunkt ist somit das vorwerfbare (Mit‑)Verursachen der Notwehrlage (also des rechtswidrigen Angriffs) (sog. Notwehrprovokation oder besser Angriffsprovokation):
Deswegen soll nach überwiegender Ansicht mit Blick auf die sog. Abwehrprovokation[192] kein Raum für Notwehreinschränkungen sein, wenn sich der Angegriffene für einen von ihm erwarteten Angriff mit einem besonders gefährlichen Abwehrmittel rüstet, so dass er im Zeitpunkt des Angriffs auf keine alternativen, minder gefährlichen Verteidigungsmöglichkeiten zurückgreifen kann. Für 2 StR 375/11 im Besonderen und Notwehr in kriminellen Milieus im Allgemeinen kann in der Folge an "ein Aufrüsten" per se kein notwehreinschränkender Vorwurf geknüpft werden.[193] Das ist Ausfluss eines überspitzten Autonomie- und Rechtsbewährungsgedankens, weil der rechtswidrig Angreifende eigenverantwortlich das Risiko übernimmt, dass der Angegriffene mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln das Recht verteidigt.
Das dogmatische Erfordernis eines engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs zwischen Vorverhalten und Angriff verbietet überdies eine uferlose Rückverlagerung des notwehrrechtlichen Mitverschuldens. Für die Beschränkung von Notwehrbefugnissen in kriminellen Kontexten bedeutet dies, dass etwa ein Vorwurf krimineller Lebensführung dogmatisch nicht erhoben werden darf.[194]
Wie schon zuvor Jäger[195] betont hat, kann dem Angegriffenen jedoch der konkrete Vorwurf gemacht werden, keinen obrigkeitlichen Schutz in Anspruch genommen zu haben, obwohl ein ab- und vorsehbarer rechtswidriger Angriff dadurch hätte vermieden werden können. Die Inanspruchnahme obrigkeitlichen Schutzes zielte hierbei also auf die Vermeidung des rechtswidrigen Angriffs an sich und vereint damit Momente der Angriffs- und der Abwehrprovokation.
Das Schrifttum lehnt hingegen eine zugrundliegende Pflicht, die Präsenz hoheitlicher Hilfe herzustellen, ganz mehrheitlich ab.[196] Judikativer Bezugspunkt[197] ist insofern die sog. Schulhof-Entscheidung aus dem Jahre 1979, in der der BGH feststellte, dass der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Schüler, der sich mit mehreren Messerstichen gegen ihn verprügelnde Mitschüler zu Wehr gesetzt hatte, "die Hilfe von Lehrern und Mitschülern im
Individual- und im Rechtsbewährungsinteresse nicht in Anspruch zu nehmen" hatte.[198] - Indes: In 1993 wurde vom BGH auf den ersten Blick das Gegenteil entschieden.[199] Die aus dem Rotlichtmilieu stammenden Angeklagten hatten erfahren, dass eine rechtsextreme Gruppe unter der Führung des später von ihnen getöteten O eines ihrer Bordelle "stürmen und plattmachen" wolle. Eine (problemlos mögliche) Benachrichtigung der Polizei hatten sie unterlassen, um die "Sache selbst in die Hand zu nehmen" bzw. um selbst - so wörtlich - "Krieg führen" zu können. Der BGH führte dazu aus:
"O mag zwar überraschend in das Blickfeld der Angekl. getreten sein. Mit seinem Erscheinen aber mussten sie rechnen[…]. Wenn sich die Angekl. unter diesen Umständen auf einen offenen Kampf mit den Anhänger O's unter Ausschaltung der erreichbaren Polizei einließen, mussten sie sich auf die zu ihrem Schutz erforderliche Verteidigung beschränken."[200]
Wie zur Bestätigung der hier vorgeschlagenen personalen Differenzierungen sticht ins Auge, dass der BGH dort (im Schulhof-Fall) den Notwehrübenden als schwaches Opfer, der das Recht auf seiner Seite hat, zeichnete, während er hier (im Dresdner Rotlichtfall-Fall) den Notwehrübenden notwehrrechtlich benachteiligte, "weil sich der rechtswidrig Angegriffene planmäßig in eine tätliche Auseinandersetzung mit seinem Gegner eingelassen hat, um unter Ausschaltung der für die Konfliktlösung zuständigen und erreichbaren Polizei den ihm angekündigten Angriff mit eigenen Mitteln abzuwehren und die Oberhand über seinen Gegner zu gewinnen."[201] Dem unterliegt, dass der Staat keine tätlichen Konflikte außer- oder unterhalb seiner Zwangsgewalt zu dulden hat.[202] Obwohl dies nach Maßgabe der normativen Parallelordnungen krimineller Gruppierungen unrealistisch sein mag und in eine entsprechende individuelle Steuerungswirkung keine allzu großen Hoffnungen zu setzen sind, darf und muss der Staat - auch aus generalpräventiven Gründen -seine kriminellen Bürger dazu anhalten, Konflikte einzig in staatlich geordneten Bahnen und mithilfe der rechtlich vorgesehenen Institutionen auszutragen. Daraus folgt die Obliegenheit[203], den Schutz staatlicher Stellen in Anspruch zu nehmen, wenn konkrete Hinweise auf ab- und vorhersehbare rechtswidrige Angriffe durch kriminelle Gegner vorliegen. Eine entsprechende Obliegenheitsverletzung - also letztlich das Unterlassen, staatliche Stellen herbeizurufen, obwohl dies möglich und zumutbar war und dem Bedrohten die Sicherung seiner Rechtsgüter ermöglicht hätte - kann damit auch dogmatisch und unter Rückführung auf das anerkannte Institut der Notwehrprovokation zu Notwehreinschränkungen Anlass geben, weil der Angegriffene vorwerfbarerweise die spätere Notwehrlage in ihrer konkreten Gestalt mitherbeigeführt hat.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Beschränkung von Notwehrbefugnissen in kriminellen Kontexten auch mit der oben (s. oben II.) favorisierten Ermächtigung zu unangekündigten Hausdurchsuchungen harmoniert. Denn diese Beschränkung von Notwehrbefugnissen greift nicht nur beispielhaft in einem realen kriminellen Bandenkrieg Platz, sondern auch bei einem nur vermeintlichen bzw. irrig angenommenen rechtswidrigen Angriff seitens rivalisierender Gewalttäter. Den Durchsuchungsbeamten steht also normativ zur Seite, dass sich ein Bewohner nicht irrigerweise auf ein "schneidiges" Putativ-Notwehrrecht berufen darf, um vermeintliche Angriffe von Seiten rivalisierender Krimineller zurückzuschlagen; vielmehr muss er sich soweit wie möglich zurückziehen, bevor er zum Gegenschlag ausholt. Insofern besteht Hoffnung, dass sich während dieses Ausweichens die wirkliche Sachlage aufklärt, was gleichsam die normative Abschirmung der Durchsuchungsbeamten vor einer Putativnotwehr des kriminellen Bewohners erhöht. Freilich tragen die Durchsuchungsbeamten weiterhin das normative (Rest‑)Risiko, dass sich ein krimineller Bewohner nicht mit krimineller Teleologie zur Wehr setzt (er beispielhaft denkt, er werde Opfer eines "ordinären" Wohnungseinbruchs) oder, z.B. aufgrund einer Verwechselung, der angetroffene Bewohner in keine kriminellen Aktivitäten verwickelt ist.
Nach Maßgabe der im Vorstehenden darlegten Notwehreinschränkungen ist in 2 StR 375/11 zweifelhaft, ob der Todesschütze B. überhaupt einem Erlaubnistatbestandsirrtum erlag. Soweit dies den Urteilsgründen entnehmbar ist, hatte B. hinreichend konkrete Anhaltspunkte, dass ihm die rivalisierenden Bandidos nach dem Leben trachteten. In dieser Situation hätte er die staatlichen Stellen einschalten müssen, weil er den Kampf mit den "Bandidos" nicht um der Bewährung des Rechts, sondern um der Bewährung einer normativen Ordnung jenseits des staatlichen Gewaltmonopols willens in Kauf nahm. Zwar
suchte B. diesen vermeintlichen Angriff der "Bandidos" nicht, um "unter dem Deckmantel der Notwehr" die Angreifer zu verletzten; eine vollständige Suspendierung seiner Notwehrrechte war also nicht geboten. Allerdings durfte der B. nicht sofort dazu übergehen, Trutzwehr zu üben. Er musste vielmehr vor dem von ihm irrig angenommenen Angriff soweit wie möglich zurückweichen, ggf. sogar aus der eigenen Wohnung fliehen, um den direkten Kontakt mit seinen vermeintlichen Angreifern zu vermeiden. Ob die konkrete Kampflage solche Rückzugsmöglichkeiten bot, lässt der in 2 StR 275/11 mitgeteilte Sachverhalt leider nicht erkennen. Dagegen spricht allemal nicht der Schluss des zweiten Strafsenates, der B. habe keinen Warnschuss abgeben müssen, um seine aktive Kampfposition nicht preiszugeben. Denn hätten für B. Ausweichmöglichkeiten bestanden, hätte er sich gar nicht auf einen aktiven Kampf einlassen dürfen, hätte er sich also auf die zu seinem Schutz erforderliche Handlungen beschränken müssen. Mit anderen Worten: Ein Warnschuss stellt eine aktive Kampf- und Verteidigungshandlung dar, über den erst zu diskutieren ist, wenn anderweitige Flucht- oder Schutzhandlungen nicht zur Verfügung standen.[204] Darüber erfährt man in 2 StR 375/11 nichts, so dass zweifelhaft bleibt, ob B. wirklich einem Erlaubnistatbestandsirrtum im Rechtssinne erlegen ist.
Thesenartig lässt sich dieser Beitrag wie folgt zusammenfassen:
1. 2 StR 375/11 wirft ein Schlaglicht auf die polizeiliche Praxis, Hausdurchsuchungen vollständig unangekündigt durchzuführen und dabei insbesondere heimlich in Wohnungen einzudringen, um Bewohner zu überraschen. Diese Praxis muss rechtssoziologisch sowie rechthistorisch untersucht werden. Sollte sich - wie erste Hinweise aus der Praxis nahelegen - bewahrheiten, dass unangekündigte Hausdurchsuchungen, insbesondere in bestimmten Kriminalitätsbereichen (Stichwort: Drogenkriminalität), an der Tagesordnung und eher die Regel denn die Ausnahme sind, darf die zugrundeliegende, in den USA geteilte polizeilich-einsatztaktische Einschätzung, dass dieses Vorgehen entweder zur Beweis- oder zur Eigensicherung der Beamten unbedingt erforderlich ist, nicht ohne Weiteres als rechtsstaatswidrig verworfen werden.
2. Nach hier vertretener Ansicht sind unangekündigte Durchsuchungen - unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten - verfassungsrechtlich zulässig, namentlich mit Art. 13 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, wenn und weil sie einem legitimen Zweck dienen (Stichwort: Beweis- oder Eigensicherung der Beamten). §§ 102 ff. StPO reichen - unter Bestimmtheits- und Wesentlichkeitsgesichtspunkten - als einfachrechtliche Ermächtigungsgrundlage aus, um die Anordnung einer unangekündigten Durchsuchung, namentlich als ungeschriebene Durchführungsmodalität, zu gestatten. Denn die §§ 102 ff. StPO sind einer extensiven Auslegung fähig und zugänglich. Die Heimlichkeit des Eindringens spricht nicht wider die Behandlung der unangekündigten als "ordinäre" Durchsuchung i.S.v. §§ 102, 103 StPO; denn die unangekündigte ist keine heimliche Dursuchung, da dem Betroffenen nachträgliche Rechtsschutzmöglichkeiten erhalten bleiben. Das dogmatisch konkretisierte, theoretisch hinreichend missbrauchsresistente richterliche Prüfungsverfahren erlaubt die Anordnung einer unangekündigten Durchsuchung, da es sich bei dieser Anordnung um eine gesetzlich en detail kaum regelbare komplexe Risiko- und Abwägungsentscheidung handelt.
3. Liegt, wie bei 2 StR 375/11, Gefahr bei Verzug mit Blick auf ein notwendig werdendes überraschendes Eindringen nicht vor, muss die Anordnung der Nichtankündigung durch den Richter erfolgen (§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO); widrigenfalls ist die Durchsuchung rechtswidrig. In jedem Fall ist zu prüfen, ob die Nichtankündigung im Einzelfall verhältnismäßig ist. Eine unangekündigte Durchsuchung ist nur dann angemessen, wenn die (prognostizierten) Vorteile für die Strafverfolgung die Gefahren, die mit einer Nichtankündigung einhergehen, deutlich übersteigen. Wie 2 StR 375/11 und die US-amerikanischen Erfahrungen verdeutlichen sowie der gesunde Menschenverstand nahelegt, kann ein überraschendes Eindringen in eine Wohnung Abwehrhandlungen des Bewohners provozieren und so in eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt münden. Die damit angesprochenen Gefahren für Leib und Leben von Durchsuchungsbeamten, Bewohnern und Dritten sind einsatztaktisch zu minimieren. Die Hinnahme - einsatztaktisch wohl nicht völlig ausschließbarer - Gefahren ist nur zum Schutze von überragenden Gütern der Allgemeinheit, d.h. letztlich nur zur Aufklärung besonders schwerer Kriminalität, statthaft. Ob all dies der Fall ist, kann nur unter Bezugnahme auf die konkrete Einsatzplanung, die der Richter im Regelfall eigenverantwortlich zu prüfen hat, beantwortet werden.
4. Eine Verletzung der Anordnungskompetenz des Richters für eine unangekündigte Durchsuchung kann nur ausnahmsweise, aber immerhin dann zu einem Beweisverwertungsverbot für aufgefundene Beweismittel führen, (1) wenn dies aufgrund systemischer Nichtbeachtung des Richtervorbehalts zu Abschreckungs- und Sanktionierungszwecken notwendig ist, (2) wenn der Bewohner aufgrund der Nichtankündigung in einem kompromittierenden Moment überrascht wird oder (3) wenn er aus Überraschung eine (belastende) Spontanäußerung tätigt.
5. Gegen unangekündigte Hausdurchsuchungen kann Notwehr nach den allgemeinen Regeln geübt werden. Verkennt der Verteidiger, dass er
durch hoheitliches Handeln betroffen ist, kann er aufgrund eines Erlaubnistatbestandsirrtums straflos bleiben. Handelt der Verteidiger in einem kriminellen Bandenkrieg oder denkt er, wie in 2 StR 375/11, in einem solchen Kontext Notwehr zu üben, so muss die deutsche Dogmatik über personale Differenzierungen nach Maßgabe eines präzisierungsbedürftigen Rechtsbewährungsprinzips nachdenken.
6. Bei der Formulierung des Sinnspruchs, dass das "Recht dem Unrecht nicht zu weichen habe", wird regelmäßig übersehen, dass das Postulat der Rechtsbewährung nichts darüber besagt, wer die Verteidigung des Rechts wie zu übernehmen hat. Nach hier vertretener Ansicht ist insofern von einem "starken Prinzip des Vorrangs staatlicher Gewalt" auszugehen. Agiert der Angegriffene nicht "als Verteidiger" der überpersönlichen Rechts- und Friedensordnung, können ihm notwehrrechtsprinzipiell weitgehende Flucht- und Ausweichpflichten auferlegt werden. Erst wenn er sinnbildlich nicht weiter zurückweichen kann, weil er an der Wand stehend betroffen wird, erlaubt das individuelle Schutzprinzip den verhältnismäßigen Einsatz tödlicher Notwehrgewalt. Eine entsprechende Personalisierung von Flucht- und Ausweichpflichten erhält insbesondere der Polizei ihre schneidigen Notwehrrechte. Eine transparente und machtkritische Dogmatik muss sich dieser Zielsetzung freilich stellen. Die vorherrschende, in 2 StR 375/11 hochgehaltene, generelle Ablehnung von Flucht- oder Rückzugspflichten lässt vergessen, dass damit - und somit zynischerweise auch mit 2 StR 371/11 - eine unterschwellige quantitative Privilegierung der deutschen Polizei beim Einsatz tödlicher Notwehrgewalt einhergeht, da die Rechtsprechung Polizeibeamten die Berufung auf § 32 StGB zugesteht und letztere im Gegensatz zu den Normalbürgern fast immer bewaffnet sind.
7. Notwehrrechtsprinzipiell sind dem kriminellen Bürger, der Notwehr in kriminellen Kontexten übt, um einer kriminellen Normenordnung Vorschub zu leisten, keine schneidigen Notwehrbefugnisse zu garantieren. Vielmehr bestehen in solchen Fällen weitgehende Flucht- und Ausweichpflichten. Dogmatisch sind die Notwehrrechte des Angegriffenen im Rahmen der lex lata des § 32 StGB einschränkbar, wenn dieser nicht auf der Seite des staatlichen Gewaltmonopols steht und sich nicht unter staatlichen Schutz begibt, obwohl ein ab- und vorsehbarer rechtswidriger Angriff dadurch hätte vermieden werden können. Das Unterlassen, staatliche Stellen herbeizurufen, obwohl dies möglich und zumutbar war und dem Bedrohten die Sicherung seiner Rechtsgüter ermöglicht hätte, führt zu einer dogmatischen Beschränkung von Notwehrrechten, weil der Angegriffene vorwerfbarerweise die Notwehrlage in ihrer konkreten Gestalt mitherbeigeführt hat (Stichwort: vorwerfbare Notwehrprovokation). Das ist weder Ausdruck eines Freund-Feind-Denkens noch feindstrafrechtlich vorbelastet. Die Botschaft ist "lediglich", dass der Staat in einem "Bandenkrieg" erwartet, dass sich die Beteiligten nicht gegenseitig umbringen. Tödliche Verteidigungshandlungen kommen nur als ultima ratio in Betracht, d.h. nur dann, wenn alle vernünftigen, den Angegriffenen nicht in größere Gefahren bringenden Flucht- und Schutzwehrmöglichkeiten ausgeschöpft worden sind; denn erst in solchen Fällen kann der Staat vom Angegriffenen nicht mehr erwarten, dass er sich und sein Leben für die Bewährung des staatlichen Gewaltmonopols aufopfert.
[1] Auf die in der Entscheidung ebenfalls angesprochenen Fragen der Nötigung, Bedrohung und räuberischen Erpressung wird im Folgenden nicht eingegangen. Anmerkungen zu 2 StR 375/11 finden sich u.a. bei: Basten Die Polizei (Zeitschrift für die Öffentliche Sicherheit mit Beiträgen aus der Deutschen Hochschule der Polizei) 2012, 149; Engländer NStZ 2012, 274; Erb JR 2012, 207; Hecker JuS 2012, 263; Jäger JA 2012, 227; Mandla StV 2012, 334; Rotsch ZJS 2012, 109; van Rienen ZIS 2012, 377. Vgl. auch Neumann StV 2012, Editorial zu Heft 6.
[2] Insofern wird nicht verkannt, dass in der Praxis dem Betroffenen so gut wie nie im Vorfeld rechtliches Gehört gewährt wird, d.h. Durchsuchungen in der Regel unangekündigt in einem weiteren Sinne stattfinden. Wenn im Folgenden jedoch von "unangekündigten Hausdurchsuchungen" die Rede ist, ist die Nichtankündigung im eigentlichen oder engeren Sinne gemeint, bei der auch das Eindringen unangekündigt oder überraschend erfolgt.
[3] US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 594 (2006). - Vgl. aus dem jüngeren US-Schrifttum, das auch den Titel dieses Beitrags beeinflusst hat, etwa Epstein Cops or Robbers? How Georgia's Defense of Habitation Statute applies to No-Knock Raids by Police, Georgia State University Law Review 26 (2009), 585; Butler Recipe for Disaster: Analyzing the Interplay between the Castle Doctrine and the Knock-and-Announce Rule after Hudson v. Michigan, Mississippi College Law Review 27 (2007/2008), 435.
[4] In diesem Sinne soll im Folgenden Rechtsvergleichung nicht durch die unkritische "Nacherzählung von Fremdrecht" betrieben werden. Rechtsvergleichung hat vielmehr ein wertendes und kritisches, ggf. sogar ein subversives Potential, weil sie es ermöglicht, rechtstatsächliche Phänomene klarer zu erfassen sowie die rechtsprinzipiellen Grundlagen als auch die dogmatischen Details des eigenen Rechts zu hinterfragen. Der berühmte Blick über den Tellerrand ermöglicht Einblicke in die tatsächlichen, rechtsprinzipiellen und rechtsdogmatischen "blind spots", die eine selbstreferenzielle Dogmatik - die (obergerichtliche) Rechtsprechung und systematische Rechtswissenschaft integrieren will - zu entwickeln neigt. Zu "subversiver Rechtsvergleichung" vgl. Mona in Beck/Burchard/Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung (2011), S. 105, 108 ff. - Zu den Theorien und Methoden sowie den Funktionen und Zielen der Strafrechtsvergleichung forscht das von der DFG geförderte "Wissenschaftliche Netzwerk: Die Rolle der Strafrechtsvergleichung bei der Europäisierung der Strafrechtspflege", dem der Autor als Sprecher angehört.
[5] Bei 2 StR 375/11 steht nur dem ersten Anschein nach der Erlaubnistatbestandsirrtum und dessen dogmatische Handhabung im Vordergrund. Denn die materiellen Notwehr- und die korrespondierenden Irrtumsregelungen bilden bei näherer Betrachtung eine dogmatische Sinneinheit. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt - soweit ersichtlich: unbestritten - begrifflich nur vor, wenn der Beschuldigte sich irrtümlich Umstände vorstellt, welche, wären sie tatsächlich gegeben, den Tatbestand eines Erlaubnissatzes erfüllen würden. Die Dogmatik des Erlaubnistatbestandsirrtums baut mit anderen Worten auf der Dogmatik der Rechtfertigungsgründe (bzw. hier der Notwehrdogmatik) auf, nach herrschender Meinung sogar vollständig, weil ein (beweisrechtlich nicht zweifelsfrei ausschließbarer) Erlaubnistatbestandsirrtum zum Ausschluss der Vorsatzschuld führen soll, ohne dass die Vermeidbarkeit des Irrtums zu prüfen ist. 2 StR 375/11 gibt daher Anlass dazu, über ggf. gebotene Notwehreinschränkungen beim Einsatz tödlicher Gewalt im Rahmen eines kriminellen Bandeskrieges nachzudenken.
[6] Der Begriff der schneidigen Notwehr steht dogmatisch letztlich für zwei herrschende Postulate: dass die Notwehrhandlung lediglich erforderlich, nicht aber verhältnismäßig im engeren Sinne sein muss; und dass dem Angegriffenen keine Flucht- und Ausweichpflichten auferlegt sind, er also "seinen Mann stehen" darf.
[7] S. zum Folgenden Pressemitteilung des BGH Nr. 174 v. 3. 11. 2011 sowie die Urteilsgründe von 2 StR 375/11.
[8] Spiegel Online v. 17.3.2010, Hells Angel erschießt SEK-Beamten. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/rheinland-pfalz-hells-angel-erschiesst-sek-beamten-a-684107.html (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012).
[9] Entgegen Mandla (Fn. 1), 335 f. spricht nichts gegen dieses Vorgehen des BGH. Im Gegenteil: Die vorsichtige Stellungnahme des BGH zu unangekündigten Durchsuchungen erlaubt eine profunde rechtswissenschaftliche Durchdringung dieses Themengebietes. Der BGH hatte schlicht nicht in der Sache zu entscheiden, sondern konnte diese dahin stehen lassen.
[10] Ausführlich zu dieser dogmatischen Einordnung des Erlaubnistatbestandsirrtums durch den BGH etwa Mandla (Fn. 1), 336 f. Hier soll der diesbezügliche Streit nicht (schon) wieder aufgegriffen oder rekapituliert werden.
[11] Balko Overkill: The Rise of Paramilitary Police Raids in America (2006). Online verfügbar unter: http://www.cato.org/publications/white-paper/overkill-rise-paramilitary-police-raids-america (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012). - Häufig vergessen werden die negativen Erfahrungen mit no-knock-Durchsuchungen in den Anfangsjahren des war on drugs, also in den 1970igern. Vgl. dazu Goddard Boston University Law Review 1995, 449, in Fn. 155 m.w.N.: Nachdem zunächst eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage für unangekündigte Durchsuchungen in 21 U.S.C. 879 (1970) auf Bundesebene geschaffen wurde, wurde diese 1974 wieder gestrichen. Grund war die Spirale der mitunter tödlichen Gewalt, die sich im Rahmen solcher Durchsuchungen entwickelte.
[12] Zitiert bei Jonsson After Atlanta raid tragedy, new scrutiny of police tactics, The Christian Science Monitor v. 29. November 2006.
[13] John Hopkins Frederick supporters plan rally outside Chesapeake jail, The Virginian-Pilot v. 12. Februar 2008.
[14] Bevor sich an einem entsprechenden "Kompromiss" Kritik entzündet, ist zu bedenken, dass auch das LG Koblenz den Todesschützen in 2 StR 375/11 zunächst wegen Totschlags zu neun Jahren Haft verurteilte. Das offenbart interessante Strafzumessungsparallelen auf der Ebene der Tatsacheninstanz.
[15] Vgl. hierzu und zum Folgenden die Appelationsentscheidungen des Court of Appeals of the State of Mississippi, Urteil v. 2.11.2007, NO. 2007-KA-02147-COA; Supreme Court of the State of Mississippi, Urteil v. 2.12.2010, NO. 2007-CT-02147-SCT.
[16] Special Weapons and Tactics.
[17] Insofern verweise ich auf die eigene Beweislast, die die Verteidigung in einigen US-Jurisdiktionen trägt, soweit sie (bestimmte) Straffreistellungsgründe (affirmative defenses) - wie Notwehr oder Nothilfe (self-defense oder defense-of-others) - geltend macht. Zur bundesverfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser Beweislastverschiebung s. US Supreme Court, Martin v. Ohio, 480 U.S. 228 (1987).
[18] Mit Blick auf 2 StR 375/11 darf keine absolute Verklärung der deutschen Polizei stattfinden, wenn man im Urteil des zweiten Strafsenates lesen muss, dass Karl-Heinz B. "sich widerstandslos verhaften ließ, wobei er verletzt wurde."
[19] Vgl. Balko (Fn. 11), S. 20 ff. m.w.N.
[20] Schäfer in LR-StPO (25. Aufl., 2004), § 105 Rdnr. 58 unter Verweis auf RG JW 1892, 194.
[21] Erb (Fn. 1), 207.
[22] Vgl. den Beitrag von Polizeioberkommissar und Diplom-Jurist Basten (Fn. 1), 149.
[23] Die überragende Bedeutung der US-Bundesverfassung folgt aus ihrer bedingten (aber keinesfalls absoluten) incorporation in die (Verfassungs‑)Rechte der US-Bundesstaaten. Nur aufgrund dieser - erst in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts vom US Supreme Court entwickelten, in der Bundesverfassung nicht explizit geregelten - incorporation setzt die Bundesverfassung rechtliche Maßstäbe, die auch für die US-Bundesstaaten und ihre Rechtsordnungen verbindlich sind.
[24] US Supreme Court, Wilson v. Arkansas, 514 U.S. 927 (1995).
[25] US Supreme Court, Wilson v. Arkansas, 514 U.S. 927, 931 f. (1995) unter Verweis auf Semayne's Case, 77 Eng. Rep. 194, 195 (K.B. 1603).
[26] Zustimmendes Sondervotum, Justice Kennedy, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 603 (2006). - Dazu gesellt sich ein dritter Aspekt, der im Folgenden vernachlässigt werden soll: "Another interest is the protection of property. Breaking a house (as the old cases typically put it) absent an announcement would penalize someone who ‚did not know of the process, of which, if he had notice, it is to be presumed that he would obey it[…].' The knock-and-announce rule gives individuals ‚the opportunity to comply with the law and to avoid the destruction of property occasioned by a forcible entry.'" Mehrheitsvotum, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 594 (2006).
[27] US Supreme Court, Boyd v. US, 116 U.S. 616, 630 (1886).
[28] Abweichendes Votum, Justice Brennan, US Supreme Court, Ker et Ux. v. US, 374 U.S. 23, 57 (1963).
[29] Abweichendes Votum, Justice Brennan, US Supreme Court, Ker et Ux. v. US, 374 U.S. 23, 57 (1963).
[30] Einstimmiges Votum, US Supreme Court, US v. Banks, 540 U.S. 31 (2003).
[31] Rechtstheoretisch formuliert: Ein rechtliches Regel-Ausnahme-Verhältnis verschiebt die Begründungslast auf denjenigen, der eine Ausnahme geltend macht. Werden an diese Begründungslast jedoch keine (großen) Anforderungen gestellt, läuft sie letztlich als Schutzinstrument leer.
[32] Einstimmiges Votum, US Supreme Court, Richards v. Wisconsin, 520 U.S. 385 (1997).
[33] Aus: Einstimmiges Votum, US Supreme Court, US v. Banks, 540 U.S. 31, 38 (2003).
[34] Einstimmiges Votum, US Supreme Court, US v. Banks, 540 U.S. 31, 40 (2003).
[35] Einstimmiges Votum, US Supreme Court, US v. Banks, 540 U.S. 31 (2003).
[36] Vgl. dazu bereits oben in Fn. 10.
[37] So die in einem Memorandum des Federal Department of Justice aufgeworfene Frage. Vgl. Philbin Memorandum Opinion for the Chief Counsel Drug Enforcement Administration v. 12. Juni 2002. Online verfügbar unter: http://www.justice.gov/olc/noknock.htm (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012).
[38] A.a.O.
[39] A.a.O.
[40] Einstimmiges Votum, US Supreme Court, US v. Banks, 540 U.S. 31, 42 f. (2003).
[41] Wie bereits Ambos ZIS 2012, 557 (in Fn. 74) festhält, "handelt es sich bei den exclusionary rules um Beweiseinführungsverbote, weil die Beweise schon gar nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden dürfen."
[42] Nicht eingegangen werden soll im Folgenden auf die strittige Aufarbeitung der Präjudizien.
[43] Mehrheitsvotum, Justice Scalia, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 598 f. (2006).
[44] Zustimmendes Sondervotum, Justice Kennedy, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 604 (2006).
[45] Mehrheitsvotum, Justice Scalia, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 593 f. (2006).
[46] So die eher abfällige Qualifikation im Minderheitsvotum, Justice Breyer, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 619 (2006).
[47] Erwähnt a.a.O.
[48] Minderheitsvotum, Justice Breyer, US Supreme Court, Hudson v. Michigan, 547 U.S. 586, 620 (2006).
[49] Hofmann in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG (12. Aufl., 2011), § 13 Rdnr. 7. Vgl. BVerfGE 89, 1, 12.
[50] S. weiterführend Di Fabio in Maunz-Dürig-GG (65. Ergänzungslieferung 2012), Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Rdnr. 33 zum Eingriffsbegriff im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
[51] Vgl. dazu noch unten II.2.d.i. sowie in Fn. 80.
[52] Gleiches gilt für die präemptive Ingewahrsamnahme außerhalb der Wohnung, die ausschließlich dem Zweck dient, das Beiseiteschaffe von Beweismitteln und Vermögenswerten durch den Beschuldigten zu verhindern. Eine solche Ingewahrsamnahme ist strafprozessual nicht vorgesehen und auch präventiv-polizeilich in der Regel unzulässig, vgl. LG Frankfurt NJW 2008, 2201.
[53] Die Ermächtigung hierzu ergibt sich aus dem Sachzusammenhang mit der (Anordnungs‑)Primärnorm, hier also mittelbar aus §§ 102, 105 StPO. Vgl. statt aller Meyer-Goßner StPO (54. Aufl., 2011), § 105 Rdnr. 13.
[54] Kunig in von Münch/Kunig-GG (6. Aufl., 2012), Art. 104 Rdnr. 20: "Außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG[…]sind an die Bestimmtheit von Gesetzen im Rahmen des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG die allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen zu stellen."
[55] Im Falle einer aktuellen Beweisvernichtung ist an eine (vorläufige) Festnahme zur Verhinderung einer Straftat nach § 258 StGB zu denken.
[56] Zu den Zwecken des strafprozessualen Zwangsmittelrechts vgl. allgemein Peters Strafprozeß (4. Aufl., 1985), § 46 I.2.
[57] Es kann hier dahingestellt bleiben, ob - wofür Vieles spricht - diese strafprozessuale Veranlassung als Annex eine Regelungskompetenz des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG begründet. Denn nach hier vertretener Ansicht hat der Bundesgesetzgeber noch keine entsprechenden strafprozessualen Regelungen erlassen. Dieses Regelungsdefizit des strafprozessualen Zwangsmittelrechts kann jedoch polizeirechtlich ausgeglichen werden. Mangels einer bundesrechtlichen Regelung dieses spezifischen Themenfeldes, also der Abwehr strafprozessual veranlasster Gefahren für die Strafverfolger, entfaltet auch § 6 EGStPO keine Sperrwirkung. Vgl. Hilger in LR-StPO (26. Aufl., 2010), § 6 EGStPO Rdnr. 2.
[58] Vgl. Hilger (Fn. 57), § 6 EGStPO Rdnr. 1 m.w.N., auch zu Gegenstimmen: "Dagegen kann auf Polizeirecht als Ermächtigungsgrundlage für solche Maßnahmen zurückgegriffen werden, die außerhalb der eigentlichen Strafverfolgung notwendig sind, wie[…]Maßnahmen zur Eigensicherung von Polizeibeamten." (Herv. des Verf.).
[59] Eine kurzfristige Sicherung des Betroffenen stellt keine Freiheitsentziehung und somit noch keine Ingewahrsamnahme (z.B. nach § 28 BWPolG), d.h. keine Standardmaßnahme dar (vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert Polizeirecht in Baden-Württemberg, Rdnr. 362).
[60] Vgl. nur H.-H. Kühne in LR-StPO (26. Aufl., 2006), Einl. Abschn. C Rdnr. 12 ff. m.w.N. sowie die umfassende Darstellung bei Müller Rechtsgrundlagen und Grenzen zulässiger Maßnahmen bei der Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen (2003), S. 51 ff.
[61] Zudem sei vermerkt: Die hier favorisierte polizeirechtliche Lösung ist aufgrund der polizeirechtlichen Konkretisierung des unmittelbaren Zwanges "rechtsstaatlicher" und für die Polizei auch "greifbarer" als die vormals herrschende, vorkonstitutionelle strafprozessuale Lösung, die die Durchsetzung der Durchsuchung mithilfe unmittelbaren Zwangs umfassend der strafprozessualen Primärnorm subsumierte (dazu noch unten II.2.d.i.). Es bedarf mithin auch keiner analogen Anwendung des bundesrechtlichen UZwG (wie dies etwa Borchert JA 1982, 338 vorschlägt).
[62] Basten (Fn. 1), 154.
[63] Kunig (Fn. 54), Art. 13 Rdnr. 24.
[64] Papier in Maunz-Dürig-GG (Fn. 50), Art. 13 Rdnr. 22.
[65] Park Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme (2.Aufl., 2009), Rdnr. 150.
[66] Vgl. Hofmann (Fn. 49), § 13 Rdnr. 20 f.
[67] Vgl. hierzu BVerfG NJW 2006, 976, 982 = HRRS 2006 Nr. 235.
[68] Auch deswegen haben Gesetzgebung, Rechtsprechung und Lehre materielle Polizeimaßnahmen, trotz eigener Stellung in Abs. 7, dem Durchsuchungsbegriff des Abs. 2 subsumiert, wenn diese Maßnahmen auf ein "Durchsuchen" im Rechtssinne zielen.
[69] Vgl. J.-D. Kühne in Sachs-GG (6. Aufl., 2011), Art. 13 Rdnr. 30.
[70] J.-D. Kühne (Fn. 69), Art. 13 Rdnr. 27.
[71] Es überrascht daher nicht, dass Art. 13 Abs. 2 GG den "Regelungsgehalt von § 105 der StPO von 1877 bezüglich der dortigen Regelung über nicht-richterliche Anordnungen bei ‚Gefahr im Verzug´ vom Verfassungsgeber aufgegriffen" hat, vgl. Hofmann (Fn. 49), Art. 13 Rdnr. 1.
[72] Vgl. BVerwG NJW 1968, 563 m.w.N.
[73] Hauptfallgruppe ist die Beweismittelvernichtung, also etwa das sinnbildliche Hinunterspülen von Drogen in der Toilette. Allerdings sind - und für den entsprechenden Hinweis bin ich Dominik Brodowski zu Dank verpflichtet - auch weitere Fallgruppen denkbar. Eine unangekündigte Durchsuchung mag das Ziel verfolgen, einen Computer im Gebrauch, d.h. im Zustand der Entschlüsselung, vorzufinden. Ziel ist es mit anderen Worten, den Bewohner daran zu hindern, Datenträger zu verschlüsseln bzw. den Computer herunterzufahren. Vgl. dazu Brodowski/Freiling Cyberkriminalität, Computerstrafrecht und digitale Schattenwirtschaft (2011), S. 125 ff., 134.
[74] A.A. Erb (Fn. 1), 207, 209 f.: Erb analogisiert die Belastungswirkung einer unangekündigten Durchsuchung mit einem "großen Lauschangriff" und misst sie daher an Art. 13 Abs. 3 bis 6 GG. Dabei wird jedoch verkannt, dass die besondere Belastung des "großen Lauschangriffs" aus der Heimlichkeit der Maßnahme rührt. Die unangekündigte ist jedoch gerade keine heimliche Durchsuchung. Dazu noch sogleich.
[75] Papier (Fn. 64), Art. 13 Rdnr. 21.
[76] Vgl. weiterführend und instruktiv Gropp JZ 1998, 501, 504 f. zu den Wegen, wie ein Obersatz im Rahmen der Auslegung strafprozessualer Ermächtigungsnormen gebildet werden kann.
[77] Bei präventiven Richtervorbehalten tritt der Richter nach neuerer verfassungsrechtlicher Lesart nicht als Teil der rechtsprechenden Gewalt in Erscheinung, sondern übt funktional öffentliche Gewalt aus.
[78] Grzeszick in Maunz-Dürig-GG (Fn. 50), Art. 20 VII. Rdnr. 58 m.w.N.
[79] Herzog/Grzeszick in Maunz-Dürig-GG (Fn. 50), Art. 20 VI, Rdnr. 116.
[80] So treffend - und in kritischer Absicht - Amelung AK-StPO (1992), § 105 Rdnr. 37 m.w.N. In diese Richtung noch heute: Meyer-Goßner (Fn. 53), § 105 Rdnr. 13; Schäfer (Fn. 20), § 105 Rdnr. 58 unter bezeichnenden Hinweis auf RG JW 1892, 194; Hadamitzky KMR-StPO (63. Ergänzungslieferung, 2012), § 105 Rdnr. 36 unter Verweis auf OLG Karlsruhe StraFo 1997, 13 und unter der Überschrift "Anwendung unmittelbaren Zwangs": "Die Durchsuchungsanordnung berechtigt zu allen Maßnahmen, die zur Erreichung des Durchsuchungszwecks erforderlich sind." Hegmann in Graf (Hrsg.), StPO (2. Aufl., 2010), § 105 Rdnr. 20; Löffelmann in Krekeler/Löffelmann/Sommer (Hrsg.), AnwaltKommentar StPO (2. Aufl., 2010), § 105 Rdnr. 109. - Vom gleichen Obersatz ausgehend, dann jedoch Differenzierungen vornehmend Ladiges in Radtke/Hohmann (Hrsg.), StPO (2011), § 105 Rdnr. 27; Joecks Studienkommentar StPO (3. Aufl., 2011), § 105 Rdnr. 14. - Deutlich auch Müller (Fn. 60), S. 73 ("Die rechtmäßige Durchsuchungsanordnung berechtigt also zu allen Maßnahmen, die erforderlich sind, um den Zweck der Durchsuchung zu erreichen, der insbesondere darin liegt, zunächst schlechthin in die zu durchsuchenden Räume zu gelangen.") sowie zusammenfassend S. 149. Wenn Müller, die vom zweiten Strafsenat und Teilen des Schrifttums gerne für eine restriktive Handhabung der §§ 102 ff. StPO angeführt wird, die Rechtmäßigkeit von sog. "präventiven Durchsuchungshandlungen" bzw. "mittelbaren Maßnahmen" (wie der Anordnung von Stubenarrest oder einer Telefonsperre) mangels des Vorliegens einer hinreichenden Rechtsgrundlage ablehnt (a.a.O., S. 139 ff., 149 f.), so geschieht dies insbesondere deswegen, weil Müller dabei unterstellt, dass die Maßnahmen ohne konkrete Anhaltspunkte (z.B. für eine potentielle Beweisvernichtung) angeordnet werden (a.a.O., S. 139).
[81] Amelung (Fn. 80), § 105 Rdnr. 37
[82] Dazu weiterhin grundlegend Rudolphi in SK-StPO (10. Ergänzungslieferung, 1994), Rdnr. 31 ff.
[83] Vgl. nur BGH NStZ 2005, 278 = HRRS 2005 Nr. 119.
[84] So dezidiert Grzeszick (Fn. 78), Art. 20 VII. Rdnr. 61.
[85] BVerfGE 107, 104, 120 m.w.N.: "Erforderlich ist ein hinreichend bestimmtes Gesetz, wobei die Anforderungen an hinreichende Bestimmtheit umso strenger sind, je schwerer die Auswirkungen seiner Regelungen wiegen."
[86] So bereits Schneider NStZ 1999, 388.
[87] Schäfer (Fn. 20), § 105 Rndr. 48; Wohlers SK-StPO (56. Ergänzungslieferung, 2008), § 105 Rdnr. 27. Vgl. dazu auch Gropp (Fn. 76), 501. 504.
[88] Insofern sei vermerkt: Wenn sich in der polizeilichen Praxis das unangekündigte Eindringen bereits - zumindest in bestimmten Konstellationen - als Standardeinsatztaktik etabliert haben sollte, muss dies zumindest als Indiz für die Typizität und Erforderlichkeit dieses Vorgehens gewertet werden. Daraus spricht keine Apologie des Faktischen, sondern nur der Hinweis, dass eine normative Strafprozessrechtswissenschaft einsatztaktische Realitäten zur Kenntnis nehmen muss. Allemal sollte in einem Rechtsstaat keine strafprozessuale Dystopie des Polizeilichen geschrieben werden.
[89] Insofern fehlt freilich der rechtstatsächliche Beleg, dass es sich bei der angekündigten Durchsuchung um den praktischen wie auch gesetzlichen Regelfall handelt. Keinesfalls darf eine normative strafprozessuale Intuition an die Stelle der - freilich noch nicht erhobenen - rechtssoziologischen sowie rechtshistorischen Faktenlage gestellt werden.
[90] Wohlers (Fn. 87), § 105 Rdnr. 63 greift dabei Rechtsprechung auf, die dieses Geringfügigkeitskriterium nicht - wie Wohlers - limitierend, sondern konstitutiv verwendet, d.h. aus der Geringfügigkeit des Eingriffs eine entsprechende strafprozessuale Begleitbefugnis ableitet, auch wenn es sich nicht um eine typische Begleitmaßnahme handelt. Vgl. dazu etwa BGH NStZ 1998, 157, 158 = HRRS 2011 Nr. 972: "Indessen sind neben den mit dem Vollzug der Norm typischerweise unerlässlich verbundenen Vorbereitungsmaßnahmen auch solche als zulässig anzusehen, die nur geringfügig in den Rechtskreis des Betroffenen eingreifen. Solche Eingriffe können dem Betroffenen im Hinblick auf den hohen Rang des staatlichen Strafanspruchs zugemutet werden. Es kann angenommen werden, dass der Gesetzgeber auch zu diesen stillschweigend ermächtigt hat, als er die (Primär‑) Eingriffsbefugnis (hier: die Möglichkeit des heimlichen Mithörens) schuf. Der Begriff ‚geringfügig' ist dabei im Verhältnis zur Grundrechtsbeeinträchtigung durch die Primärmaßnahme zu definieren."
[91] Erb (Fn. 1), 207, 208 (Herv. des Verf.).
[92] S. die schulbuchmäßige Prüfung in BVerfG NJW 2004, 2213, 2215 f. m.w.N.
[93] Vgl. BVerfG NJW 2004, 2213, 2216: "Auslegungsbedürftigkeit als solche steht dem Bestimmtheitserfordernis nicht entgegen, solange die Auslegung unter Nutzung der juristischen Methodik zu bewältigen ist und die im konkreten Anwendungsfall verbleibenden Ungewissheiten nicht so weit gehen, dass Vorhersehbarkeit und Justiziabilität des Verwaltungshandelns gefährdet sind. In einem einheitlichen Zusammenhang dürfen auch mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, solange die Normen insgesamt den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und Justiziabilität entsprechen."
[94] Grzeszick (Fn. 78), Art. 20 VII. Rdnr. 62.
[95] BVerfG NJW 2004, 2213, 2215.
[96] Schäfer (Fn. 20), § 102 Rndr. 1.
[97] Zum Überraschungsmoment der Durchsuchung vgl. Sommer/Tsambikakis, in Terbille (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch Medizinrecht (2009), § 2 Rdnr. 267.
[98] BGH NStZ 2007, 279, 280= HRRS 2007 Nr. 71.
[99] BVerfG NJW 2006, 976, 981 = Rdnr. 108: "Wegen der Offenheit der Durchsuchungsmaßnahme entfällt zudem das Risiko für den Betroffenen, auf Grund der eigenen Unkenntnis von dem staatlichen Eingriff vorübergehend an der Wahrnehmung seiner Rechtsschutzmöglichkeiten faktisch gehindert zu sein.".
[100] Wie hier auch Mandla (Fn. 1), 334, 335.
[101] Vgl. nur Wohlers (Fn. 87), § 105 Rdnr. 30 m.w.N.
[102] Hofmann (Fn. 49), § 13 Rdnr. 24.
[103] Gegen diesen Vorschlag durch Erb s. bereits oben in Fn. 74.
[104] Vgl. dazu allgemein Grzeszick (Fn. 78), Art. 20 VII. Rdnr. 114 ff. m.w.N.
[105] BVerwG NVwZ 1999, 1234, 1236.
[106] Die Einschränkung, dass diese Missbrauchsresistenz vornehmlich verfassungs- und strafverfahrenstheoretisch ausformuliert ist, spricht nicht gegen die Verfassungsgemäßheit der hier favorisierten extensiven Auslegung. Verfassungswidrig würden §§ 102 ff. StPO sowie die besagte extensive Auslegung erst, wenn in der Praxis eine - auf die gesetzliche oder dogmatische Unklarheit der §§ 102 StPO zurückführbare - systemische Nichtbeachtung des Richtervorbehalts und der eigenverantwortlichen richterlichen Prüfungspflichten vorherrschte. Das hätte aber zur Konsequenz, dass das gesamte System der unter Richtervorbehalt stehenden strafprozessualen Zwangsmaßnahmen verfassungswidrig wäre. Wer diese Konsequenz scheut, kann die nur theoretisch begründete Missbrauchsresistenz des hier vorgeschlagenen Ansatzes nicht gegen ihn wenden.
[107] Schäfer (Fn. 20), § 104 Rdnr. 4.
[108] Vgl. auch Neumann (Fn. 1), Editorial zu Heft 6.
[109] Erb (Fn. 1), 207, 209.
[110] LG Frankfurt NJW 2008, 2201.
[111] Hofmann (Fn. 49), Art. 13 Rdnr. 20 m.w.N.
[112] Das Stichwort eines möglichen Beweisverwertungsverbotes für den Fall, dass die Durchsuchung ohne richterliche Anordnung im Wege des nichtangekündigten Eindringens durchgeführt, gebietet aufgrund der Komplexität des Themas eine eigene Abhandlung. Eine einzige Bemerkungen sei hier gleichwohl angefügt, die sich dem Diktat der Rechtsprechung beugt und die Beweisverwertungsverbots"lehre" als flexibles Arrangement der verschiedensten gegeneinander abzuwägenden Topen begreift. Insofern ist eine der zentralen Argumentationsfiguren der Schutzzweck der Norm. Vereinfachend zusammengefasst: Ein Beweisverwertungsverbot kommt im Grundsatz nur bei der Verletzung einer Norm in Betracht, die den staatlichen Zugriff auf (belastende) Beweismittel begrenzt. Die Ankündigung einer Durchsuchung - oder hochtrabender: das Ankündigungsprinzip - dient vorrangig dem Schutz der Privatheit der Bewohner und zudem auch dem Schutz von Leib und Leben von Durchsuchungsbeamten, Bewohnern und Dritten. Das Ankündigungsprinzip dient dagegen nicht dazu, dem Staat die in der Wohnung auffindbaren Beweismittel vorzuenthalten. Durch die Ankündigung soll der Bewohner "nur" die Möglichkeit erhalten, sich zu sammeln und den Strafverfolgungsorganen kühlen Kopfes zu begegnen. Wie auch bei der Verletzung des Prinzips, Durchsuchungen bei Tage durchzuführen, ist daher in der Regel kein Beweisverwertungsverbot anzunehmen, wenn eine ansonsten rechtmäßige Durchsuchung rechtswidrig nicht angekündigt wird. Davon ist nur dann eine Ausnahme zu machen, d.h. ein Beweisverwertungsverbot kann in Betracht kommen, wenn das Beweismittel nur deshalb erlangt werden konnte, weil der beschuldigte Bewohner überraschend in seiner räumlichen Privatsphäre angetroffen wird - er z.B. in einem strafrechtlich belastenden Moment, z.B. beim Begehen einer Straftat, "erwischt" wird oder aus Überraschung belastende Spontanäußerungen tätigt. In solchen Fällen beruht das den Beschuldigten belastende Beweismittel auf dem Norm-, nämlich dem Verstoß gegen das Ankündigungsprinzip.
[113] Zum damit hier favorisierten Gleichlauf des prozessualen bzw. verwaltungsrechtlichen sowie des strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs vgl. nur die überzeugende Argumentation von Erb in MK-StGB (2. Aufl., 2011), § 32 Rdnr. 76 (dort auch m.w.N., in Rdnr. 75 auch zu den verschiedenen Spielarten einer Ablösung eines eigenständigen strafrechtlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs vom zugrundliegenden Prozess- bzw. Verwaltungsrecht).
[114] Rotsch (Fn. 1), 109, 113 f.
[115] Erb (Fn. 1), 207.
[116] BGH NStZ 2008, 628, 629= HRRS 2008 Nr. 792.
[117] So aber Jakobs AT (2. Aufl., 1991), 12 Abs., Rdnr. 24.
[118] So aber Schröder JuS 2000, 235, 241.
[119] Prägnant zur Gegenposition Rotsch (Fn. 1), 109, 114: "Da die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung - wie die Erforderlichkeit der polizeilichen Maßnahme, s.o. - objektiv ex ante zu beurteilen ist, lässt sich an dieser Stelle nicht einwenden, dass A tatsächlich nicht von Mitgliedern der ‚Bandidos', sondern von Polizeibeamten angegriffen wurde, A sich also tatsächlich jedenfalls nicht gegen eine Bedrohung seines Lebens wehrte. Solange der Polizeieinsatz als solcher aus der ex ante-Sicht eines besonnenen Beobachters in der Lage des Angegriffenen nicht erkennbar ist, ist auch der sofortige Schusswaffeneinsatz von der Notwehrvorschrift des § 32 StGB gedeckt."
[120] So Perron in Schönke/Schröder-StGB (28. Auf., 2010), § 32 Rdnr. 34; Günther SK-StGB (31. Ergänzungslieferung, 1999), § 32 Rdnr. 90; jeweils m.w.N., auch zu Gegenansichten.
[121] BGH NStZ 2008, 628, 629= HRRS 2008 Nr. 792.
[122] Dagegen wendet Erb (Fn. 113), § 32 Rdnr. 132 ein: "Hat eine perspektivenübergreifende objektive Betrachtung erst einmal zur Annahme eines "rechtswidrigen Angriffs" geführt und damit die Anwendbarkeit von § 32 dem Grunde nach eröffnet, dann schuldet die Rechtsordnung dem Verteidiger wie bei jeder Erteilung normativer Handlungsanweisungen die Bereitstellung einer Verhaltensnorm, die ihm (nicht notwendigerweise auf der Basis seiner individuellen Fähigkeiten, wohl aber bei Zugrundelegung objektiver Maßstäbe) eine realistische, nicht an übermenschliche Fähigkeiten gebundene Möglichkeit eröffnet, sich in der fraglichen Situation nicht nur zufälligerweise, sondern gezielt rechtmäßig zu verhalten. Mit diesem Grundsatz ist es nicht vereinbar, die Rechtfertigung einer Maßnahme, die nach einer objektiven ex ante-Betrachtung aus der Verteidigerperspektive zur Abwehr des Angriffs erforderlich ist (zB ein tödlicher Schuss auf den Räuber), unter den Vorbehalt zu stellen, dass diese Einschätzung auch bei einer nachträglichen Einbeziehung weiterer Tatsachen noch Bestand haben wird." (Herv. des Verf.). Gesamtsystematisch kann dem nur beigepflichtet werden: Die Verletzung einer unrealistischen, übermenschliche Fähigkeiten voraussetzenden Verhaltensnorm sollte nicht sanktioniert werden. Nach herrschender, ggf. ihrerseits unrealistischer Straftatlehre sind jedoch realistische Zumutbarkeitserwägungen im individuellen Zurechnungsurteil der Schuld zu thematisieren (hier also im Rahmen eines menschlich nachvollziehbaren, ggf. sogar unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtums). Im personalen Zurechnungsurteil des Unrechts dürfen hingegen unrealistische Verhaltenserwartungen formuliert werden (Stichwort: Prüfung der objektiven Sorgfaltspflichtwidrigkeit im Fahrlässigkeitstatbestand; Präsumption der normativen Ansprechbarkeit von Geisteskranken und Kindern im Tatbestand etc.).
[123] Erb (Fn. 1), 207.
[124] Dieses "Dürfen" ist nicht dogmatisch als Erlaubnissatz zu verstehen.
[125] Eine entsprechende Frage wirft Mandla (Fn. 1), 334, 338 auf, ohne diese aber mit Blick auf eine Notwehreinschränkung zu beantworten.
[126] Engländer (Fn. 1), 274, 276.
[127] Jäger (Fn. 1), 227, 230.
[128] Vgl. nur die bei Seebode FS Krause, S. 375 genannten Autoren, von Binding bis Roxin.
[129] Vgl. zur "Notwehr im amerikanischen Strafrecht" Herrmann ZStW 93 (1981), 615 sowie rechtsvergleichend auch Rönnau/Hohn, in LK-StGB (12. Aufl., 2006), § 32 Rdnr. 20 ff.; Perron FS Eser, S. 1019; Wössner Die Notwehr und ihre Einschränkungen in Deutschland und in den USA (2006) (insbesondere S. 142 ff. zur im Folgenden interessierenden retreat rule)
[130] Damit wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Ausnahmen in Einzelrechten mögen die Regeln, die es zu benennen gilt, bestätigen.
[131] In den USA zeigt sich eine bemerkenswert konvergente Argumentation, wenn Beale Harvard Law Review 1903, 567, 580 zusammenfasst: "The conclusion of the courts which deny the duty to retreat is, as we have seen, more commonly rested upon two arguments: that no one can be compelled by a wrongdoer to yield his rights, and that no one should be forced by a wrongdoer to the ignominy, dishonor, and disgrace of a cowardly retreat."
[132] Zur retreat rule auch Walther JZ 2003, 52, 55, die freilich die mehrheitliche Ablehnung in den USA nicht hinreichend würdigt.
[133] Zu den historischen Wurzeln der retreat rule vgl. auch Epps Law and Contemporary Problems 55 (1992), 303, 307 ff.
[134] Blackstone's Commentaries on the Laws of England in Four Books, Book IV, Chapter XIV, S. 184 f. Der Scan der Ausgabe von 1893 ist online verfügbar unter: http://files.libertyfund.org/files/2142/1387-02_Bk_Sm.pdf (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012).
[135] Beale (Fn. 131), 567, 581 (Herv. des Verf.). - Zum sich damit andeutenden Spannungsverhältnis von Freiheit und Solidarität grundlegend Kühl FS Hirsch, S. 259. Hier nicht weiter auszuführen ist, ob in dieser Debatte nicht der Aspekt der caritas zu kurz kommt.
[136] Vgl. nur Brown No Duty to Retreat: Violence and Values in American History and Society (1993), S. 2.
[137] Beale (Fn. 131), 567, 581 (Herv. des Verf.). - Interessanterweise wird dadurch eine überindividuelle Deutung der Notwehr zur Begründung "schonender", nicht schneidiger Notwehr herangezogen.
[138] Epps (Fn. 133), 303.
[139] Diese Interpretation wurde hier deswegen vorgetragen, um die heutige dogmatische Scheu gegen eine allgemeine Ausweichpflicht im deutschen Notwehrrecht klarer zu verankern. Denn generalisierte eine Ausweichpflicht ein Mitverschulden des Angegriffenen, könnte diese leicht als das generelle Postulat missverstanden werden, dass der Angegriffene den Angriff allein dadurch mitverschuldet hat, dass er sich in den Sozialverkehr begeben hat. Dies könnte zur Begründung von no go areas etc. führen. Dass dies freilich nicht zwingend ist, illustrieren die anderen Begründungen einer Ausweichpflicht (mitmenschliche Solidarität; Bewahrung des staatlichen Gewaltmonopols).
[140] Hier genügt der weiterführende Hinweis darauf, dass es sich bei der (Un‑)Möglichkeit zum Zurückweichen nicht allein um einen faktischen, sondern auch um einen normativen Begriff handelt. Letzteres zeigt sich in den USA in der Diskussion um das sog. battered wife syndrom und die Notwehrrechte von (weiblichen) Opfern häuslicher Gewalt. So führte etwa der Florida Supreme Court in Weiand v. State, No. 91,925, Entscheidung v. 11. März 1999 aus: "[…]much has changed in the public policy of this State, based on increased knowledge about the plight of domestic violence victims. It is now widely recognized that domestic violence ‚attacks are often repeated over time, and escape from the home is rarely possible without the threat of great personal violence or death.'"
[141] Blackstone's Commentaries on the Laws of England in Four Books, Book IV, Chapter XIV, S. 183, 185.
[142] Vgl. den Abdruck in: 5 Co. Rep. 91a - Ganz entsprechend in Sir Edward Coke, The Third Institutes of the laws of England, Cap. 73, S. 162. "As any may assemble his friends and neighbours, to keep his house against those that come to rob, or kill him, or to offer him violence in it, and is by construction excepted out of this act: and the sherif, &c. ought not deal with him upon this act: for a mans house is his castle, et domus sua cuique est tutissimum refugium; for where shall a man be safe, if it be not in his house?"
[143] Vgl. Suk Harvard Journal of Law & Gender 31 (2008), 237, 239.
[144] US Supreme Court, Beard v. US, 158 U.S. 550, 560 (1895) (Herv. des Verf.).
[145] US Supreme Court, Allen v. US, 164 U.S. 492, 497 f. (1896) (Herv. des Verf.).
[146] LaFave, Substantive Criminal Law (2003, § 10.4(f) ("strong minority"). Nach Dressler, Understanding Criminal Law (2006), § 18.02(C)(3) ist in Jurisdiktionen, die die retreat rule anerkennen, die castle doctrine "universally recognized". Zitiert jeweils nach Suk (Fn. 143), 237, Fn. 133 sowie Fn. 3.
[147] US Supreme Court, Brown v. US, 256 U.S. 335, 343 (1921).
[148] Zitiert bei Kopel American Journal of Criminal Law 27 (2000), 293, 307.
[149] LaFave & Scott Criminal Law (1986), § 5.7(f) (die "no duty to retreat doctrine" werde bestimmt durch "a policy against making one act a cowardly and humiliating role"). Zitiert nach Suk (Fn. 143), 237 (Fn. 31).
[150] Vgl. dazu bereits oben bei Fn. 144 sowie ferner Mississippi Supreme Court, Long v. State, 52 Miss. 23, 35 (1876): "Flight is a mode of escaping danger to which a party is not bound to resort, so long as he is in a place where he has a right to be, and is neither engaged in an unlawful enterprise, nor the provoker of, nor the aggressor in, the combat. In such case he may stand his ground and resist force by force." (Herv. des Verf.). - Auch hier zeigen sich außergewöhnliche Parallelen in der deutschen Diskussion, sei es, dass man heute befürchtet, eine generelle Ausweichpflicht würde den öffentlichen Raum als no-go-area deklarieren, sei es, dann man bei Berner Archiv des Criminalrechts (N.F.) 1848, 578 liest: Eine Ausweichpflicht bestehe nicht, "einfach deshalb, weil ich den Platz, auf dem ich mich befinde, mit Recht einnehme." (Herv. im Original).
[151] Supreme Court of Ohio, Erwin v. State, 29 Ohio St. 186, 199 f. (1876).
[152] Indiana Supreme Court, Runyan v. State, 57 Indiana 80, 84 (1877). Zitiert in Beard v. US, 158 U.S. 550, 561 (1895).
[153] Dazu Suk (Fn. 143), 237.
[154] So bereits Beale (Fn. 131), 567, 577.
[155] Nachweise bei Suk (Fn. 143), 237, 245.
[156] Vgl. die Nachweise bei Walther (Fn. 132), 52.
[157] Vgl. Brown (Fn. 136), S. 20 m.w.N.
[158] Supreme Court of Wisconsin, Miller v. State, 139 Wis. 57, 75 (1909).
[159] Nicht ohne rechtstheoretische Ironie ist zu bemerken, dass diese libertäre Rechte-Argumentation auf die castle doctrine zurückführbar ist. Das mit dieser ursprünglich verbundene reale Überschreiten der räumlichen Grenzen zwischen staatlicher und privater Herrschaftsgewalt wird heute als Rechtseingriff verstanden. Die castle doctrine schütze, so liest man in jüngeren Entscheidungen des US Supreme Court, "the respect for the privacy of the home." US Supreme Court, Georgia v. Randolph, 547 U.S. 103, 115 (2006). Dadurch mutiert das ursprüngliche physische Eindringen in die räumliche Schutzsphäre des Einzelnen zum normativen Eingriff in dessen Freiheitsrecht (namentlich das Freiheitsrecht des vierten Zusatzartikels zur US-Bundesverfassung bzw. in die Unverletzlichkeit der Wohnung). Die Verteidigung des Heims ist dann nicht mehr Befriedung eines existentiell bedrohten Zufluchtsortes, sondern Abwehr einer Rechtsverletzung. Wo eine Rechtsverletzung örtlich stattfindet und in welche Rechte vom Angreifer eingegriffen wird, ist in der Folge nicht mehr allzu entscheidend, wenn erst der archaische Konnex von (Schutz‑)Raum und (Notwehr‑)Recht aufgelöst ist. In der Folge kann Notwehr als bürgerliche Verteidigung des (eigenen oder staatlichen) Rechts sofort und ohne vorheriges Zurückweichen geübt werden.
[160] Traurige und auch internationale Berühmtheit hat insofern der Tod des Afro-Amerikaners Trayvon Martin erlangt, der am 26. Februar dieses Jahres durch den Latino George Zimmermann erschossen wurde, der sich auf das entsprechende stand your ground-Gesetz des Staates Florida beruft.
[161] Für die Prozessrechtsvergleichung ist von Interesse, dass stand your ground-Gesetze regelmäßig eine "strafrechtliche Immunität" des Verteidigers aussprechen. Das hat zur Folge, dass die allentscheidende Frage, ob ein Angegriffener sich auf stand your ground-Notwehr berufen kann, durch den Richter bereits im Vorfeld eines Hauptverfahrens zu klären ist. Vgl. Supreme Court of Georgia, Fair v. State, 284 Ga. 165 (2008). Ob damit die Unwägbarkeiten eines jury trial korrigiert werden sollen, ist weiteren Studien vorzubehalten. - Die zitierte Entscheidung ist weiterhin auch deshalb von Interesse, weil sie die Tötung eines Polizisten, der einen no knock warrant vollstreckte, betrifft. Dabei ist zu beachten, dass Sect. 16-3-23 Georgia Code eine absolute Privilegierung von Polizeibeamten vorsieht. Gegen diese darf auf der Grundlage der castle doctrine keine Notwehr geübt werden, selbst wenn sie sich die Beamten vor dem Eindringen nicht als Polizisten identifizieren und selbst wenn die Bewohner verkennen, Polizeibeamten gegenüberzustehen (vgl. dazu Supreme Court of Geogia, Fair v. State, No. S10A1034 v. 22. November 2010). Ob eine solche absolute Privilegierung mit dem deutschen Schuldgrundsatz vereinbar wäre, erscheint zweifelhaft.
[162] Vgl. nur die Erwägungsgründe, die der konservative, Waffenbesitz befürwortende American Legislative Exchange Council (ALEC) seinen nicht öffentlich zugänglichen Musterbestimmungen für stand your ground-Gesetze vorwegschickt. http://alecexposed.org/w/images/7/7e/7J2-Castle_Doctrine_Act_Exposed.PDF (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012).
[163] Vgl. CNN-Interview v. 30. März 2012. http://cnnpressroom.blogs.cnn.com/2012/03/30/dave-kopel-zimmerman-wasnt-the-victim-stand-your-ground-doesnt-apply (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012): "Dave Kopel, NRA member and author of ‚Firearms Law & the Second Amendment,' states Florida ‚Stand Your Ground' law does not protect George Zimmerman in Trayvon Martin shooting. Kopel says, ‚Florida law is very clear. On self-defense the Florida law, the basic standard is the same as it is in all 50 states, that you can only use when you're in a public place deadly force and self-defense if you are the victim of an eminent attack that could kill you or cause brave bodily injury or if violent forcible felony. Those are the only circumstances in which a person in a public place in Florida can use deadly force in self-defense.'"
[164] Vgl. dazu abermals die Erwägungsgründe der ober in Fn. 150 referenzierten ALEC-Musterbestimmungen.
[165] "Der furchtsame, unbesonnene und zu Schreckreaktionen neigende schwache Bürger, der sich mit einer Schußwaffe ausrüstet," wurde im deutschen Schrifttum so wohl erstmalig von Arzt JR 1980, 211, 212 als solcher benannt, wenn auch in kritischer Absicht. - Wie gerne zur Begründung schneidiger Notwehr auch in Deutschland auf das schwache "Mütterchen" rekurriert wird, zeigt sich in dem Kommentar zu 2 StR 375/11 von Reinhard Müller Straflose Notwehr, FAZ v. 8. November 2011. Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bgh-urteil-straflose-notwehr-11521914.html (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012).
[166] De iure steht dem (vermeintlich) angegriffenen Bewohner lediglich nicht die gesetzliche Vermutung zur Seite, dass er aufgrund des Eindringens in die eigene Wohnung um sein Leben fürchten durfte.
[167] Vgl. nur Paeffgen in NK-StGB (3. Aufl., 2010), Vor § 32 Rdnr. 150 m.w.N.
[168] BT-Drs. 5/4095 S. 14. - Zurückzuweisen daher van Rienen (Fn. 1), 377, 382, der Begriff "geboten" habe gar keinen anderen oder zusätzlichen Bedeutungsgehalt als das Erforderlichkeitskriterium.
[169] Rönnau/Hohn (Fn. 129), § 32 Rdnr. 74.
[170] Rönnau/Hohn (Fn. 129), § 32 Rdnr. 228.
[171] Nicht aber ohne zu lamentieren, dass damit eine praktisch denkende Strafrechtswissenschaft zwischen Skylla und Charybdis hindurch zu navigieren hat, nämlich zwischen kriminalpolitischen Vorschlägen, die als rechtsphilosophische Vorschläge unbeachtet zu verhallen, und dogmatischen Vorschlägen, die den Parlamentsvorbehalt zu verletzen drohen.
[172] Jakobs (Fn. 117), 12. Abschn. Rdnr. 1.
[173] Vgl. nur die besonders anschauliche Darstellung in Kühl AT (6. Aufl., 2008), § 7 Rdnr. 6 ff. Die dualistische Notwehrbegründung wird hingegen zunehmend in Frage gestellt. Pointiert etwa Engländer Grund und Grenzen der Nothilfe (2008), S. 9 ff.; Renzikowski Notstand und Notwehr (1994), S. 79 ff.
[174] Rönnau/Hohn (Fn. 129),, § 32 Rdnr. 182. Vgl. ferner etwa Herzog in NK-StGB (3. Aufl., 2010), § 32 Rdnr. 70; Perron (Fn. 120), § 32 Rndr. 40; Günther (Fn. 120), § 32 Rdnr. 86.
[175] Roxin ZStW (1981), 68, 70, 76. - Nur kurz sei vermerkt, dass diese Konstruktion verfassungsrechtliche Verwerfungen nach sich zieht. Wäre dem Bürger im Falle der Notwehr die souveräne "Polizeigewalt" delegiert und rechtfertigte sich die Schneidigkeit des deutschen Notwehrrechts alleine aus dieser Delegation - und nicht aus dem individuellen Schutzprinzip -, so müsste der Eingriff in die Rechtsgüter des Angreifers auch als staatlicher Eingriff in dessen Grundrechte gewertet werden; das hätte eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Folge, insbesondere wenn das Leben des Angreifers auf dem Spiel steht.
[176] In der Sache nichts anderes hat vor wenigen Jahren Pawlik ZStW 114 (2002), 259 unter Verweis auf die Notwehrlehren Kants und Hegels herausgestellt.
[177] Roxin AT/1 (4. Aufl., 2006), § 15 Rdnr. 109.
[178] Rönnau/Hohn (Fn. 129), § 32 Rdnr. 182.
[179] Diese Kritik wendet sich auch gegen die wenigen Beiträge, die dezidiert dem Verhältnis von Notwehr und staatlichem Gewaltmonopol nachgehen, vgl. etwa Seebode FS Krause, S. 375; Burr JR 1996, 230.
[180] Vgl. nur Perron (Fn. 120), § 32 Rdnr. 42b mit umfassendem Überblick zum Streitstand.
[181] Vgl. nur Art. 60 Abs. 2 BayPAG.
[182] Plakativ BGH NJW 1958, 1405.
[183] BGH NStZ 2005, 31= HRRS 2004 Nr. 733.
[184] Engländer (Fn. 1), 274, 276.
[185] Sympathien für einen schonenderen, mitmenschlicheren und den Eigenwert menschlichen Lebens stärker betonenden Ansatz, der auch und gerade die Polizei grundsätzlich dazu verpflichten würde, vor der Tötung eines Mitmenschen zurückzuweichen, sollen hier nicht verhehlt werden.
[186] Vgl. schon BVerfGE 1, 14, 52. - Differenzierungen wären nur dann verboten, wenn das Notwehrrecht ein letztlich naturrechtlich gestiftetes Urrecht des Menschen wäre. Es wäre jedoch verfehlt, die konkrete Ausgestaltung des deutschen Notwehrrechts in § 32 StGB in ein solches naturrechtliches Licht zu rücken. Mit § 32 StGB hat die deutsche Rechtsordnung im internationalen Vergleichen einen "schneidigen" Sonderweg beschritten, der nicht einmal in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung bekannt ist. Vgl. Amelung/Kilian FS Schreiber, S. 3; Kilian Die Dresdner Notwehrstudie (2011). Wer dies anerkennt, kann nicht gleichzeitig mit undifferenzierten Formeln (etwa: das "Notwehrrecht gilt für alle Menschen") argumentieren. So aber van Rienen (Fn. 1), 377, in Fn. 18 einerseits und S. 384 andererseits.
[187] Zur im Folgenden verfolgten Methodik vgl. Lackner/Kühl StGB (27. Aufl., 2011), § 32 Rdnr. 15 m.w.N.: "Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass die von der Rspr verwendeten Generalklauseln zu unbestimmt sind und dass eine sinnvolle Begrenzung nur aus den der Notwehrregelung zugrunde liegenden Rechtsgedanken gewonnen werden kann[…]. Als Grundlage wird dabei vorwiegend das die Notwehr mitbestimmende überindividuelle Interesse der (eingeschränkten) Bewährung des Rechts herangezogen."
[188] Zur damit geteilten, umstr. Ansicht, dass der Notstand die Grundfigur der Notwehr darstellt, vgl. Paeffgen (Fn. 167), Vor § 32 Rdnr. 46, 150a m.w.N.
[189] Nicht weiter einzugehen ist hier darauf, ob feindstrafrechtliche Anwürfe nicht eher gegen monistisch-individualistische Deutungen des Notwehrrechts zu erheben sind, die die "Schneidigkeit" der lex lata damit zu erklären suchen, "dass die Interessen des Angreifers in der Notwehrsituation nicht schutzbedürftig sind", weil "die Auflösung der Rechtsgutskollision zu seinen Lasten[…]ausschließlich durch seinen rechtswidrigen Willen bedingt ist." (so etwa Frister AT[5. Aufl., 2011], § 16 Rdnr. 3). Hier zeigt sich die "Dialektik der Aufklärung", namentlich von Freiheit und Verantwortung: Seine Schlechterstellung wird damit gerechtfertigt, dass "der Angreifer durch sein Verhalten die Notwehrlage begründet" habe (so etwa die "viktimodogmatische" Begründung bei Baumann/Weber/Mitsch AT[11. Aufl., 2003]§ 17 Rdnr. 1).
[190] Neumann (Fn. 1), Editorial zu Heft 6.
[191] Fischer StGB (59. Aufl., 2012), § 32 Rdnr. 43 mit umfassenden Nachweisen.
[192] Grundlegend Arzt JR 1980, 211, 212. Vgl. auch Küpper JA 2001, 438; Lindemann/Reichling JuS 2009, 496; Rengier AT (4. Aufl., 2012), Rdnr. 101.
[193] Anderes könnte ggf. für den Fall eines "Wettrüstens" gelten, wenn also das Aufrüsten des späteren Angegriffenen einen besonders intensiven, mit Waffengewalt vorgetragenen Angriff provoziert.
[194] Diesen Vorwurf ausdrücklich erhebend G. Merkel Wider das Faustrecht, FAZ v. 19. April 2012. Online abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/bgh-urteil-wider-das-faustrecht-11722637.html (zuletzt abgerufen am 18. Oktober 2012).
[195] Jäger (Fn. 1), 227, 230.
[196] Vgl. statt vieler Duttge in Handkommentar Gesamtes Strafrecht (2. Aufl., 2011), § 32 Rdnr. 23 m.w.N.
[197] Vgl. statt vieler Rosenau in Satzger/Schmidt/Widmaier (Hrsg.), StGB (1. Aufl., 2009), § 32 Rdnr. 25 m.w.N.
[198] BGH JR 1980, 210. Zur - heute so wohl nicht mehr vertretbaren - Begründung führte der BGH a.a.O. weiland an, ein "solches Verhalten wäre ein unzumutbares Kneifen, eine schmähliche Flucht gewesen."
[199] BGH NJW 1993, 1869.
[200] BGH NJW 1993, 1869, 1871.
[201] BGH NJW 1993, 1869, 1871.
[202] Darauf nicht eingehend van Rienen (Fn. 1), 382, der bezeichnenderweise generalisierend argumentiert, es "besteht keine generelle Pflicht zur Herbeiholung fremder, auch staatlicher Hilfe." Das wird hier gar nicht in Frage, wohl aber zur Diskussion gestellt, dass eine differenzierende Dogmatik von Grundsätzen auch Ausnahmen zulassen muss und nicht vorschnell vom Grundsatz auf den Einzelfall schließen darf. Ein Grundsatz ist nur so stark, wie die in tragenden Prinzipien, die meines Erachtens hier nicht greifen.
[203] Nach herrschender Ansicht trifft den Bedrohten keine Anzeigepflicht nach § 138 StGB (vgl. nur Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder-StGB[Fn. 120], § 138 Rdnr. 19 m.w.N.). Diesen Rechtsgedanken aufgreifend wird man daher in der Tat keine sanktionierbare Rechtspflicht postulieren können, hoheitliche Hilfe herbeizuholen. Allerdings kann auch eine Obliegenheitsverletzung Anlass für die Beschränkung von Notwehrbefugnissen geben. Die Obliegenheit ist letztlich eine Pflicht minderen Grades. Im Falle einer Obliegenheitsverletzung muss der Verletzende die ihm dadurch entstehenden Nachteile - hier die Einschränkung seiner Notwehrrechte - hinnehmen.
[204] Die elaborierten Überlegungen von van Rienen (Fn. 1), 381 über Mündungsblitze oder die Verwendung von Vollmantelgeschossen gehen nach der hier vertretenen Ansicht demnach ins Leere. Der Warnschuss ist weder Flucht noch Ausweichen, sondern Vorbereitung des Gegenschlags.