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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2012
13. Jahrgang
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1. Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen gemäß Art. 28 Abs. 3 eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale auf-
weist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles, mit dem es befasst ist, zu klären.
2. Jede Ausweisungsverfügung setzt voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, hat er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staates, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
1. Das von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete Recht auf den gesetzlichen Richter enthält neben der formellen Garantie, dass für jeden Einzelfall allgemeine Regelungen darüber bestehen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welcher Richter zur Entscheidung berufen ist, auch die materielle Gewährleistung, dass jedes Verfahren von einem unabhängigen und unparteilichen Richter entschieden werden muss.
2. Eine Beeinträchtigung des Rechts auf den gesetzlichen Richter kann sich grundsätzlich nicht aus einer dienstlichen Überbeanspruchung des zur Entscheidung berufenen Richters ergeben. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt dem Rechtsuchenden nicht das subjektive Recht, eine aus der Arbeitsbelastung des Richters abgeleitete mögliche Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit geltend zu machen.
3. Vielmehr kann der Richter im Rahmen seiner von Art. 97 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG geschützten richterlichen Unabhängigkeit selbst entscheiden, ob er ihm im Wege der Geschäftsverteilung zugewiesene Angelegenheiten zurückstellt, soweit diese ein durchschnittliches Arbeitspensum übersteigen, oder ob er gegebenenfalls sein erhöhtes Leistungsvermögen zur Bewältigung solcher überobligatorischer Aufgaben einsetzt.
4. Wird dem Vorsitzenden eines Spruchkörpers der Vorsitz eines weiteren Spruchkörpers übertragen, so kann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht dadurch beeinträchtigt sein, dass der Vorsitzende seinen richtungsweisenden Einfluss (§ 21f GVG) nicht mehr sachgerecht ausüben könnte. Der richtungsweisende Einfluss des Vorsitzenden basiert auf dessen Erfahrung, Menschenkenntnis und geistiger Überzeugungskraft und nicht auf einer überlegenen inhaltlichen Kenntnis der zu entscheidenden Verfahren, die nur durch vertiefte Einarbeitung zu erlangen wäre.
5. Die Anhörung von Mitgliedern eines Spruchkörpers durch das Präsidium des Gerichts wegen eines Besetzungsstreits kann die richterliche Unabhängigkeit allenfalls dann beeinträchtigen, wenn das Präsidium Sanktionen in Bezug auf das künftige Entscheidungsverhalten der Richter in den Raum stellt.
6. Die richterliche Unabhängigkeit ist von etwaigen Ansprüchen, die sich aus belastungsbedingten Erledigungsverzögerungen ergeben, zu trennen. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch oder aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleiten ist und einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit umfasst, ist mit den dafür in der Rechtsordnung vorgesehenen Mitteln durchzusetzen.
1. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG erschöpft sich nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts, sondern gebietet eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht wirksame gerichtliche Kontrolle. Dies gilt auch im gerichtlichen Eilverfahren nach § 114 Abs. 2 StVollzG.
2. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn ein Gericht die Gewährung von Eilrechtsschutz allein deshalb verweigert, weil die besonderen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht erfüllt seien, und dabei verkennt, dass die Hauptsache überhaupt nicht vorweggenommen würde.
3. Beantragt ein Strafgefangener gerichtlichen Eilrechtsschutz gegen die Ablösung von der bislang von ihm ausgeübten Arbeit, so liegt eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht darin, dass ihm gestattet wird, der Arbeit vorläufig weiter nachzugehen. Vielmehr kann die Ablösung von der Arbeit als belastende Maßnahme einstweilen ausgesetzt werden, wenn dem kein höher zu bewertendes Interesse an einem sofortigen Vollzug entgegensteht.
4. Die unbefristete Zuteilung von Arbeit an einen Strafgefangenen stellt eine diesen begünstigende Regelung dar, die nur aufgehoben werden kann, wenn hierfür eine Rechtsgrundlage besteht, und wenn bei deren Anwen-
dung das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitende Vertrauensschutzgebot angemessen berücksichtigt wird.
5. Weicht eine gerichtliche Entscheidung erkennbar von der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Vertrauensschutzgebot ab, so verstößt das Beschwerdegericht gegen Art. 19 Abs. 4 GG, wenn es gleichwohl die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 116 Abs. 1 Alt. 2 StVollzG (Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) verneint.
1. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG folgt, dass alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer den Mindestanforderungen genügenden richterlichen Sachaufklärung beruhen müssen. Insbesondere müssen die Gerichte die Grundlagen einer ihrer Entscheidung zugrunde gelegten Prognose selbständig bewerten.
2. Bei der gebotenen kritischen Würdigung eines Sachverständigengutachtens kann das Gericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangen, dass der Empfehlung des Sachverständigen nicht zu folgen ist. Dies ergibt sich auch daraus, dass das Gericht nicht nur das Freiheitsinteresse des Betroffenen, sondern auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu beachten hat. Allein der Umstand, dass das Gericht von dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens abweicht, macht nicht die Einholung eines weiteren Gutachtens erforderlich.
3. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) verstoßen die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG herzuleitende Abstandsgebot. Sie dürfen längstens bis zum 31. Mai 2013 und nur dann angewendet werden, wenn aufgrund konkreter Umständen in der Person oder dem Verhalten des Verurteilten davon auszugehen ist, dass von ihm die Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten ausgeht.
4. Auf § 66 StGB gestützte Entscheidungen sind während der Übergangszeit jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn sie den erhöhten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung genügen.