HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2012
13. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1. EGMR Nr. 26766/05 und 22228/06 (Große Kammer) – Urteil vom 15. Dezember 2011 (Al-Khawaja und Tahery v. Großbritannien)

Recht auf Konfrontation und Befragung von Zeugen (Recht auf ein faires Verfahren: Mindestrechte und Abwägung; prinzipielles Verbot der Verwertung als entscheidendes oder einziges Beweismittel; besonders vorsichtige Beweiswürdigung; Zeugenbegriff; anonyme und nicht erreichbare Zeugen; legitime Gründe für Rechtseinschränkungen bei zurechenbarer und allgemeiner Furcht des Zeugen; Gesamtrecht und Gesamtbetrachtung; R. v. Horncastle und Human Rights Act); Sondervotum Sajó und Karakas.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. d EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 240 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 251 StPO; § 250 StPO; § 261 StPO

1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf einer Aussage beruht, die von einem Zeugen gemacht worden ist, hinsichtlich derer der Angeklagte unverschuldet weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in der Regel in einem Umfang beschränkt, der mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist. Anderes kann aber – auch in Abhängigkeit von den Besonderheiten des jeweiligen nationalen Strafverfahrenssystems – im Einzelfall bei der anzustellenden Gesamtprüfung der Fairness gelten, wenn hinreichende kompensierende Faktoren vorliegen, die insbesondere eine faire und angemessene Beurteilung des Beweiswerts der Aussage ermöglichen müssen. Die Prüfung ob derartige prozessuale Ausgleichsmaßnahmen in

einem Verfahren tatsächlich vorlagen, nimmt der EGMR mit der größtmöglichen Gründlichkeit vor.

2. Eine Verletzung des Art. 6 III lit. d, I 1 EMRK ist nicht nur dann möglich, wenn eine unkonfrontierte Aussage das einzige oder das entscheidende Beweismittel war. Eine Verletzung kann auch dann anzunehmen sein, wenn kein überzeugender Grund für eine Einschränkung des Konfrontationsrechts bestand. Ob eine Einschränkung durch überzeugende Gründe im Einzelfall gerechtfertigt war, ist vorrangig zu prüfen. Eine vollständige Verwehrung des Konfrontationsrechts muss hierbei gegenüber milderen Einschränkungen als ultima ratio behandelt werden.

3. Einschränkungen des Art. 6 III lit. d, I 1 EMRK können aus verschiedenen Gründen gerechtfertigt sein. Sie kommen insbesondere in Betracht, wenn ein Zeuge verstorben ist. Auch die tatsächlich vorhandene Furcht eines lebenden Zeugen kann einen Grund darstellen. Hier ist jedoch zwischen einer allgemeinen Furcht und einer solchen zu unterscheiden, die dem Angeklagten zurechenbar ist. In letzterem Fall kann sich der Angeklagte nicht mehr auf Art. 6 III lit. d EMRK berufen. Es genügt jedoch nicht nur eine rein subjektiv begründete Furcht.

4. Die entscheidende Bedeutung einer Zeugenaussage ist nicht schon dann anzunehmen, wenn das Urteil auf ihr beruht. Eine entscheidende Bedeutung ist für Beweismittel anzunehmen, die für den Ausgang des Verfahrens absehbar oder nach dem vorliegenden Urteil besonders maßgeblich sind. Diese Prüfung ist auch von den vorhandenen weiteren Beweismitteln und ihrem Beweiswert abhängig.

5. Die Regel, dass sich Verurteilungen nicht allein oder in einem entscheidenden Ausmaß auf unkonfrontierte Zeugenaussagen stützen dürfen, erklärt sich insbesondere daraus, dass mit einer größeren Bedeutung des Beweismittels, das von Einschränkungen der Verteidigungsrechte betroffen ist, auch die Gefahr einer insgesamt im Verfahren eintretenden Unfairness wächst. Die Erfahrung zeigt, dass die Überzeugungskraft eines Beweismittels nur in Abhängigkeit von den Möglichkeiten zu seiner kritischen Überprüfung besteht. Zudem darf dem Angeklagten nicht das Recht entzogen werden, die gegen ihn erhobene Anklage effektiv zu prüfen und sich gegen diese zu verteidigen. Der Angeklagte muss effektiv am Verfahren teilhaben können.

6. Die Frage, ob ein Verfahren fair war, hängt nicht allein davon ab, ob die vorgelegten Beweise prima facie verlässlich erscheinen.

7. Zur Beurteilung in zwei Einzelfällen, in denen der EGMR in einem ersten Fall (Al-Khawaja) die Verwertung der Aussage einer mittlerweile verstorbenen unkonfrontierten Augenzeugin unter Rückgriff auf ihre Bestätigung durch weitere Beweismittel gestattete, und in einem zweiten Fall (Tahery) die Verwertung der Aussage eines wegen seiner starken Furcht unkonfrontierten Augenzeugen trotz der Belehrung der jury über eine gebotene vorsichtige Beweiswürdigung als Verletzung einstufte.


Entscheidung

27. BVerfG 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 7. Dezember 2011 (BGH / OLG Düsseldorf)

Akustische Wohnraumüberwachung (präventiv-polizeiliche; Kernbereich privater Lebensgestaltung; Rundumüberwachung; Persönlichkeitsprofil); Beweisverwertungsverbot (relatives, absolutes; Abwägungslösung; Widerspruchslösung); Recht auf ein faires Verfahren; Rechtsstaatsprinzip; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Zitiergebot; Versicherungsbetrug (konkludente Täuschung; Eingehungsbetrug; Lebensversicherungsvertrag; Vermögensschaden und Gesetzlichkeitsprinzip: Schadenseintritt, Wahrscheinlichkeit, Bezifferung, Feststellungen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 13 GG; Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 100c StPO; § 100d StPO; § 261 StPO; § 29 POG Rheinland-Pfalz; § 263 StGB

1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (BVerfGE 109, 279 = HRRS 2004 Nr. 170) sind Vorschriften der Strafprozessordnung über die akustische Wohnraumüberwachung unvereinbar mit dem Grundgesetz, wenn sie keine Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthalten. Entsprechendes gilt für präventivrechtliche Vorschriften der Landespolizeigesetze.

2. Akustische Wohnraumüberwachungsmaßnahmen sind unzulässig, wenn durch sie zum Kernbereich privater Lebensgestaltung gehörende Informationen erfasst werden oder wenn dies zu erwarten ist. Werden gleichwohl derartige Informationen erhoben, so unterliegen diese einem absoluten Verwertungs- und Verwendungsverbot.

3. Vor dem Hintergrund des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten ist eine Überwachung unzulässig, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und derart umfassend ist, dass nahezu lückenlos alle Bewegungen und Lebensäußerungen des Beschuldigten registriert werden und zur Grundlage für ein Persönlichkeitsprofil werden können (sog. Rundumüberwachung).

4. Informationen aus einer präventiv-polizeilichen akustischen Wohnraumüberwachung, deren Rechtsgrundlage mangels Vorkehrungen zum Kernbereichsschutz als grundgesetzwidrig einzustufen ist, müssen aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht generell ein Beweisverwertungsverbot zur Folge haben. Eine Beweisverwertung ist insbesondere dann zulässig, wenn die konkrete Durchführung der Ermittlungsmaßnahme den verfassungsrechtlichen Anforderungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung entsprochen hat.

5. Ein Beweisverwertungsverbot kann jedoch im Einzelfall anzunehmen sein, wenn andernfalls das Recht auf ein faires Verfahren verletzt würde. Dies ist der Fall, wenn die Verwertung des rechtswidrig erhobenen Beweises bei einer Abwägung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses mit den Beschuldigtenrechten diese unverhältnismäßig beeinträchtigen würde, etwa weil der Beschuldigte keine angemessene Einflussnahmemöglichkeit auf das Verfahren mehr hätte oder weil die Mindestanforderun-

gen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind. Dasselbe gilt nach schwerwiegenden oder willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen systematisch missachtet worden sind.

6. Die Verwertung personenbezogener Informationen des Beschuldigten in einem strafgerichtlichen Urteil greift zwar in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht ein, ist jedoch auf der Grundlage des § 261 StPO zu rechtfertigen, sofern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird. Die Rechtsprechung der Strafgerichte trägt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angemessen Rechnung, indem sie Beweisverwertungsverbote anerkennt, die im Rahmen einer Abwägungslösung im Einzelfall aus Verstößen bei der Informationserhebung folgen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stellen die Anforderungen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einen mit Verfassungsrang ausgestatteten, die Verwertung rechtfertigenden Zweck dar. Dies gilt auch im Falle einer Zweckänderung, etwa bei Daten, die ursprünglich zu präventiv-polizeilichen Zwecken erhoben worden sind.

7. Auf § 261 StPO findet das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG keine Anwendung. Im Hinblick auf dessen Warn- und Besinnungsfunktion reicht es aus, wenn ihm auf der Erhebungsebene Rechnung getragen wird, wenn dabei zugleich die weitere Verwendung der Daten in einem gerichtlichen Verfahren geregelt ist.

8. Die von der strafgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte Fallgruppe des Eingehungsbetruges, wonach bereits der täuschungsbedingte Abschluss eines Vertrages zu einer Strafbarkeit wegen vollendeten Betruges führen kann, wenn der vom Vertragspartner erworbene Anspruch einen geringeren Wert hat als die eingegangene Verpflichtung, verstößt im Grundsatz nicht gegen die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG.

9. Nicht gegen das Bestimmtheitsgebot verstößt in diesem Zusammenhang im Grundsatz auch die Annahme eines bereits eingetretenen Vermögensschadens auf der Grundlage der konkreten Gefahr eines noch in der Zukunft liegenden Vermögensverlustes. Voraussetzung ist hierbei jedoch, dass der angenommene Vermögensschaden im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB in den Urteilsgründen wirtschaftlich nachvollziehbar festgestellt und dargelegt wird. Eine exakte Bezifferung kann bei Unsicherheiten durch die Schätzung eines Mindestschadens ersetzt werden, die allerdings normativ-wirtschaftlich tragfähig sein muss. In Evidenzfällen erübrigt sich eine nähere Darlegung.

10. Die Annahme des Bundesgerichtshofs in dem Urteil vom 14. August 2009 (3 StR 552/08 = HRRS 2009 Nr. 890), bereits der Abschluss einer Lebensversicherung in der Absicht, später den Versicherungsfall vorzutäuschen, stelle einen vollendeten Eingehungsbetrug dar, verletzt das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, weil es an der tragfähigen Feststellung eines Vermögensschadens fehlt. Hierfür genügt nicht das abstrakte Risiko des Versicherungsunternehmens, welches in dem Vertragsschluss mit einem unredlichen Vertragspartner begründet liegt. Vielmehr wäre die Höhe der angenommenen bereits eingetretenen Vermögenseinbuße für das Versicherungsunternehmen darzulegen und die Wahrscheinlichkeit festzustellen gewesen, mit welcher die geplante, noch von wesentlichen Zwischenschritten abhängige Vortäuschung des Versicherungsfalles letztlich gelingen würde.

11. Die Erfassung konkludenter Täuschungen darüber, zukünftig den eigenen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen zu wollen und keine Verletzung vertraglicher Pflichten zu beabsichtigen, bewirkt keine Entgrenzung des § 263 Abs. 1 StGB oder Ausuferung der Strafbarkeit, soweit nicht schon allein „allgemeine Unredlichkeit“ oder „böse Absichten“ strafbar sind und ein schlüssiges Verhalten mit entsprechendem Erklärungswert für den konkreten Einzelfall aufgewiesen wird. Weder die bloße Verletzung oder beabsichtigte Verletzung von Vertragspflichten ohne Vermögensbezug führt zur Strafbarkeit.


Entscheidung

29. BVerfG 2 BvR 236/08, 2 BvR 237/08, 2 BvR 422/08 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 12. Oktober 2011

Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung; Zitiergebot; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Katalogtat; Kernbereich privater Lebensgestaltung; effektiver Rechtsschutz; Benachrichtigungspflicht; Berufsgeheimnisträger; Beweiserhebungsverbot; Beweisverwertungsverbot.

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 10 GG; Art. 13 GG; Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 47 GG; § 53 StPO; § 100a Abs. 2 StPO; § 100a Abs. 4 StPO; § 100f StPO; § 101 StPO; § 110 Abs. 3 StPO; § 160a StPO

1. § 100a Abs. 2 und 4, § 101 Abs. 4 bis 6 und § 160a StPO in der Fassung, die sie durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung vom 21. Dezember 2007 erhalten haben, sind verfassungsgemäß.

2. Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG fordert vom Gesetzgeber die Bezeichnung des einzuschränkenden Grundrechts nicht nur bei der Schaffung von Eingriffsnormen, sondern auch bei einer erheblichen Änderung solcher Bestimmungen. Eine erhebliche Gesetzesänderung liegt nicht darin, dass nach der Neuregelung des § 101 Abs. 6 Satz 3 StPO mit Zustimmung des Gerichts von der Benachrichtigung des von einer verdeckten Ermittlungsmaßnahme Betroffenen abgesehen werden kann. Der Gesetzgeber durfte davon absehen, das von der Vorschrift neben Art. 10 GG berührte Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zu bezeichnen.

3. Die Erweiterung des Katalogs von Straftaten, zu deren Aufklärung nach § 100a Abs. 2 StPO Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zulässig sind, verletzt nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil nach wie vor nur schwere Straftaten erfasst sind. Die Schwere ergibt sich zwar nicht allein aus der bei allen erfassten Taten angedrohten Höchststrafe von mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe, weil diese im Strafgesetzbuch den Regelfall darstellt. Jedoch sind in den Katalog nur Taten aufgenommen worden, die in erheblicher Weise entweder die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen oder Rechtsgüter Privater beeinträchtigen. Zur Wahr-

ung der Verhältnismäßigkeit trägt daneben bei, dass die jeweilige Tat auch im Einzelfall schwer wiegen muss.

4. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet, dass ein Kernbereich privater Lebensgestaltung vor Eingriffen durch Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung unberührt bleibt. Den Kernbereich betreffende Informationen dürfen nicht in einem Urteil verwertet oder sonst verwendet werden. Dem trägt § 100a Abs. 4 StPO angemessen Rechnung, indem er die zielgerichtete Erhebung kernbereichsrelevanter Daten verbietet und Überwachungsmaßnahmen untersagt, wenn etwa aufgrund des Gesprächspartners ein ausschließlicher Kernbereichsbezug zu erwarten ist. Für den Fall der versehentlichen (Mit-)Erfassung kernbereichsrelevanter Informationen stellt § 100a Abs. 4 StPO in der Auswertungsphase den Grundrechtsschutz hinreichend sicher, indem er Dokumentations- und Löschungspflichten sowie ein Verwertungsverbot vorsieht.

5. Das von Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Recht auf effektiven Rechtsschutz gewährleistet, dass ein von einer verdeckten strafprozessualen Ermittlungsmaßnahme Betroffener zumindest nachträglich von der Maßnahme unterrichtet wird. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur in engen Grenzen und nur in Abwägung mit verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern Dritter zulässig, etwa wenn die Maßnahme ansonsten ihren Zweck verfehlen würde, wenn die Benachrichtigung zu einer Gefährdung von Leib und Leben einer Person führen würde oder wenn sie den Grundrechtseingriff noch vertiefen würde. Diesen Vorgaben wird die Regelung in § 101 Abs. 4 bis Abs. 6 StPO gerecht.

6. Ein absolutes Beweiserhebungs- und Verwendungsverbot, wie es § 160a Abs. 1 StPO vorsieht, ist angesichts der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates, eine effektive Strafverfolgung zu gewährleisten, auf besondere Ausnahmefälle zu beschränken. Eine derartige Beschränkung kann geboten sein, wenn die keiner Abwägung zugängliche Menschenwürdegarantie berührt ist, weil die Kommunikation des Beschuldigten bei typisierender Betrachtung den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung betrifft, wie dies etwa bei Gesprächen mit einem Geistlichen, dem Verteidiger oder – aufgrund der Nähe der Tätigkeitsfelder – einem Rechtsanwalt der Fall ist. Bei Abgeordneten rechtfertigt sich der absolute Schutz aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Institution des Parlaments und seiner Funktionsfähigkeit, die Art. 47 GG auch in strafprozessualer Hinsicht absichert. Die Kommunikation aller anderen Berufsgeheimnisträger mit dem Beschuldigten unterliegt demgegenüber nur einem relativen Beweisverbot, was § 160 Abs. 2 StPO in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise normiert.


Entscheidung

28. BVerfG 2 BvR 148/11 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. Dezember 2011 (BGH / LG Aachen)

Doppelbestrafungsverbot (europäisches, transnationales); gesetzlicher Richter; Europäischer Gerichtshof; Vorlagepflicht; Unvollständigkeit der Rechtsprechung.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 50 EU-Grundrechtecharta; Art. 52 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta; Art. 54 SDÜ; § 1 Abs. 2 EuGHG; Art. 267 Abs. 3 AEUV

1. Das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG ist nur einschlägig, wenn eine Entscheidung durch ein deutsches Gericht ergangen ist. Auf transnationale Sachverhalte ist die Bestimmung nicht anwendbar. Abweichendes ergibt sich nicht aus völkerrechtlichen Vereinbarungen wie Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte oder Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK, deren Anwendungsbereich jeweils ebenfalls auf innerstaatliche Aburteilungen beschränkt ist.

2. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unterlässt ein Gericht eine nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gebotene Vorlage an den EuGH, so stellt dies allerdings nur dann einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar, wenn die Nichtvorlage willkürlich war. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein Gericht trotz Zweifeln an der Rechtsauslegung eine Vorlage nicht in Betracht zieht oder wenn es trotz bewusster Abweichung von der Rechtsprechung des EuGH von einer Vorlage absieht.

3. In Fällen der Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH verletzt ein Gericht durch die Nichtvorlage Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann, wenn es die entscheidungserhebliche Frage in unvertretbarer Weise beantwortet. Dies ist nur der Fall, wenn die gegenteilige Auffassung eindeutig vorzuziehen ist, nicht bereits dann, wenn sie von Stimmen in der Literatur unterstützt wird.

4. Die Auffassung, das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 50 Grundrechtecharta sei wie Art. 54 SDÜ an die Vollstreckung der zuvor verhängten Strafe gekoppelt, obwohl die Vorschrift dies nicht ausdrücklich festschreibe, ist nicht willkürlich. Dies ergibt sich insbesondere aus der Einschränkungsmöglichkeit nach Art. 52 Abs. 1 Grundrechtecharta in Verbindung mit den Erläuterungen zur Charta.


Entscheidung

30. BVerfG 2 BvR 1334/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 22. November 2011 (OLG Düsseldorf / LG Kleve)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Aussetzung zur Bewährung; Sachaufklärung (richterliche); Prognoseentscheidung; Sachverständigengutachten; Aktenbeiziehung; Überprüfungsfristen.

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 67d StGB; § 67e StGB; § 463 Abs. 4 StPO

1. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG folgt, dass alle Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf einer den Mindestanforderungen genügenden richterlichen Sachaufklärung beruhen müssen. Die richterliche Aufklärungspflicht gilt dabei auch im Vollstreckungsverfahren sowie generell in Verfahren, die dem Freibeweis unterliegen.

2. Bei der Prognose über die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten ist das Gericht auch bei einer turnusmäßigen Überprüfung der Unterbringung nach § 67e Abs. 2 StGB in der Regel verpflichtet, einen Sachverständigen hinzuzuziehen.

Zugleich kann es verfassungsrechtlich geboten sein, die Akten des Erkenntnisverfahrens beizuziehen und das dort enthaltene Gutachten als zusätzliche Erkenntnisquelle bei der Fortdauerentscheidung zu berücksichtigen.

3. Die Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67d Abs. 2 und Abs. 6, § 67e StGB) dienen der verfahrensrechtlichen Absicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das Vollstreckungsgericht muss eine rechtzeitige Entscheidung vor Ablauf der Überprüfungsfrist sicherstellen und dabei berücksichtigen, dass in aller Regel eine sachverständige Begutachtung sowie eine persönliche Anhörung des Betroffenen durchzuführen ist. Im Falle einer Fristüberschreitung hat das Vollstreckungsgericht deren Gründe in der Fortdauerentscheidung darzulegen.


Entscheidung

32. BVerfG 2 BvR 1758/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. November 2011 (OLG Nürnberg)

Lebenslange Freiheitsstrafe (Reststrafaussetzung zur Bewährung; Legalprognose; Vollzugslockerungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 2 GG; § 57a StGB; § 454a Abs.1 StPO

1. Die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ist verfassungsrechtlich vor allem daraufhin zu überprüfen, ob der Freiheitsanspruch des Verurteilten und das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit in einen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Ausgleich gebracht worden sind. Dabei sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges umso höher, je länger dieser bereits andauert. Umgekehrt muss das Rückfallrisiko umso geringer sein, je höherwertige Rechtsgüter durch den Verurteilten gefährdet werden.

2. Die gebotene Abwägung muss auf der Grundlage einer hinreichenden Tatsachengrundlage erfolgen. Mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzuges steigen die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung ebenso wie die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Bei einer Vollzugsdauer von ca. 45 Jahren sind dabei jeweils strengste Maßstäbe anzulegen.

3. Besondere Bedeutung im Rahmen der Prognoseentscheidung kommen dem Verurteilten gewährte Vollzugslockerungen zu, weil diese einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung darstellen. Die unberechtigte Versagung von Vollzugslockerungen führt zu einem von der Vollzugsbehörde zu verantwortenden Prognosedefizit, welches sich weder einseitig zu Lasten des Verurteilten noch des Sicherheitsbedürfnisses der Allgemeinheit auswirken darf.

4. Das Vollstreckungsgericht hat die Rechtmäßigkeit der Versagung von Vollzugslockerungen zu prüfen. Ein durch rechtswidrig unterbliebene Vollzugslockerungen entstandenes Prognosedefizit hat es zu beseitigen, indem es eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung zur Bewährung nach § 454a Abs.1 StPO in Erwägung zieht. Dabei kann es bereits für die Zeit vor der Entlassung Auflagen und Weisungen erteilen und seine Bewährungsentscheidung bei Bedarf jederzeit unter erleichterten Voraussetzungen korrigieren.


Entscheidung

31. BVerfG 2 BvR 1665/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. November 2011 (OLG Frankfurt am Main / LG Gießen)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Fortdauerentscheidung; Überprüfungsfristen.

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 63 StGB; § 67d StGB; § 67e StGB

1. Die Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dienen der verfahrensrechtlichen Absicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das Vollstreckungsgericht muss eine rechtzeitige Entscheidung vor Ablauf der Überprüfungsfrist sicherstellen.

2. Im Falle einer Fristüberschreitung haben das Vollstreckungsgericht wie auch das Rechtsmittelgericht in ihren Entscheidungen darzulegen, welche Umstände die Einhaltung der Frist verhindert haben, um eine (verfassungs-)gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen, ob die Grundrechte des Untergebrachten angemessen berücksichtigt worden sind. Dies gilt insbesondere, wenn die Überprüfungsfrist erheblich – konkret: über ein halbes Jahr – überschritten worden ist.


Entscheidung

33. BVerfG 2 BvR 2181/11 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Dezember 2011 (OLG Dresden / LG Dresden)

Einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (schizophrene Psychose; unerkannte Schuldunfähigkeit; Gefahrprognose; Verhältnismäßigkeit; Beschleunigungsgrundsatz).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 62 StGB; § 63 StGB; § 120 StPO; § 126a StPO

1. Eingriffe in das Grundrecht auf Freiheit der Person können durch unabweisbare Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege gerechtfertigt sein, die jedoch im Falle vorläufiger Freiheitsbeschränkungen laufend mit dem Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten abzuwägen sind. Dabei folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass derartige Verfahren beschleunigt durchzuführen sind. Dasselbe gilt, wenn das Strafverfahren wegen einer zunächst unerkannten Schuldunfähigkeit wieder aufgenommen wird.

2. Alle strafprozessualen Verfahren, die mit einer Freiheitsentziehung verbunden sind, sind in einer Weise zu betreiben, die der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts gerecht wird. Ist etwa im Sicherungsverfahren eine einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 126a StPO angeordnet, so sind umso höhere Anforderungen an die Rechtfertigung des Freiheitsentzuges zu stellen, je länger dieser bereits andauert. Eine besonders sorgfältige Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist auch geboten, wenn sich ein Beschuldigter vor der Einleitung des Sicherungsverfahrens bereits lange

Zeit und ohne angemessene psychiatrische Behandlung in Strafhaft befunden hat, weil er unerkannt schuldunfähig war.

3. Die einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt bereits einfachrechtlich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit voraus, dass eine Gesamtwürdigung in der Hauptverhandlung ergeben wird, dass von dem Beschuldigten infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Diese Prognose kann sich entweder aus dem Charakter der Anlasstaten oder aus der konkreten Erwartung von Gewalt- oder Aggressionsdelikten ergeben. Nicht ausreichend ist es hingegen regelmäßig, wenn lediglich Beleidigungs- und Bedrohungsdelikte und allenfalls bei fortschreitender Exazerbation möglicherweise auch Körperverletzungsdelikte oder schwerwiegendere Taten zu erwarten sind.

4. Erhebliche, vermeidbare und dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerungen sind allenfalls dann verhältnismäßig, wenn von dem Beschuldigten eine außergewöhnlich hohe Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Dem Staat zuzurechnen sind insbesondere Verzögerungen, die sich daraus ergeben, dass das Revisionsgericht wegen Darlegungsmängeln hinsichtlich der Sachverständigenbewertung das Urteil aufgehoben hat, mit dem eine Unterbringung nach § 63 StGB ausgesprochen worden ist. Dasselbe gilt in der Regel, wenn nicht innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens oder nach einer Wiederaufnahmeentscheidung mit der Hauptverhandlung begonnen wird.

5. Hat das Revisionsgericht das Urteil aufgehoben, mit dem eine Unterbringung nach § 63 StGB ausgesprochen worden ist, so ist eine (weitere) einstweilige Unterbringung nicht bereits deshalb ohne Weiteres gerechtfertigt, weil es deren Voraussetzungen nicht nach § 126 Abs. 3 StPO abschließend verneint hat.


Entscheidung

34. BVerfG 2 BvR 2297/11 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 22. November 2011 (OLG Hamm / LG Münster)

Maßregelvollzug; Verlegung; Vollzugslockerungen; Rechtswegerschöpfung (Anhörungsrüge); rechtliches Gehör; Begründungspflicht.

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 119 Abs. 3 StVollzG; § 120 Abs. 1 StVollzG; § 138 Abs. 3 StVollzG

1. Zulässigkeitsvoraussetzung einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 90 Abs. 2 BVerfGG die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges. Dazu gehört auch eine Anhörungsrüge, soweit diese nach dem jeweiligen Verfahrensrecht statthaft und bei objektiver Betrachtung nicht aussichtslos ist.

2. Ein Gehörsverstoß nach Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht immer bereits dann anzunehmen, wenn ein Gericht in den Entscheidungsgründen ausdrücklich auf jedes Vorbringen der Beteiligten eingeht. Dies gilt insbesondere dann, wenn besondere Verfahrensvorschriften wie etwa § 119 Abs. 3 StVollzG das Gericht von der Begründungspflicht gänzlich entbinden. Auch in diesen Fällen kann der Anspruch auf rechtliches Gehör hingegen verletzt sein, wenn besondere Umstände darauf hindeuten, dass das Gericht entscheidungserhebliches Vorbringen nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen oder erwogen hat.

3. Ein derartiger besonderer Umstand kann darin liegen, dass das Gericht seine Entscheidung trotz gesetzlicher Entbindung von der Begründungspflicht mit einer Begründung versieht, sich in dieser jedoch lediglich auf einen für den Betroffenen ungünstigen Umstand stützt, ohne dabei ein sachlich eng zusammenhängendes Vorbringen des Betroffenen zu erwähnen.

4. Begründet das Beschwerdegericht die Unzulässigkeit einer Beschwerde unter Hinweis auf ein fehlendes Vorverfahren, so liegt ein Gehörsverstoß nahe, wenn der Beschwerdeführer umfassend und unter Darlegung einer in der Rechtsprechung des betreffenden Rechtsmittelgerichts anerkannten Fallgruppe (hier: den Einzelfall betreffende, bindende Weisung der Aufsichtsbehörde) zur Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens vorgetragen hatte und das Beschwerdegericht auf diesen Vortrag nicht eingeht.