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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2011
12. Jahrgang
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Diemer/Schatz/Sonnen: Jugendgerichtsgesetz mit Jugendstrafvollzugsgesetzen – Heidelberger Kommentar; 6. Auflage, 1016 Seiten, 89,95 €, C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2011.
Vielen dürfte dieser Kommentar, der jetzt in der 6. Auflage und erstmals in der Reihe der Heidelberger Kommentare vorliegt, unter dem Namen seines Begründers Armin Schoreit bekannt sein. Dieser ist jetzt nach fünfzehn Jahren aus dem Autorenteam ausgeschieden. An seine Stelle ist mit dem Leiter einer ministeriellen Grundsatzabteilung Dr. Holger Schatz, ein ehemaliger Jugendrichter, getreten. Die von ihm bearbeiteten Abschnitte, u. a. zu den §§ 31, 32 JGG (hier mit sehr klaren Ausführungen zur "Wurzeltheorie"), §§ 39 bis 42, 55, 59 oder 67 JGG, sind weitgehend neu gefasst und werden dem Anspruch des Kommentars, unter Orientierung an der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung eine schnelle Problemlösung bei allen Fragen der täglichen Praxis zu liefern, ebenso gerecht wie die bereits bewährten Beiträge seiner Mitautoren Dr. Herbert Diemer (Bundesanwalt beim BGH) und Prof. Dr. Bernd Rüdiger Sonnen.
Das Werk hat bei mir jedenfalls den mehrwöchigen Praxistest gut bestanden: Über das übersichtlich gestaltete Register erschließt sich ein rascher Zugriff. Bei allen im Dezernat auftauchenden Fragen – etwa ob zur Einschätzung der Einsichtsfähigkeit nach § 3 JGG ein Sachverständiger benötigt wird (Rn. 10), wie es bei einer Entscheidung nach § 74 JGG um die Pflichtverteidigerkosten bestellt ist (Rn. 21) oder ob Berufungsurteile stets irrevisibel sind (§ 55 JGG Rn. 75 f.) – brachte ein Blick in den Kommentar schnell eine umfassende Orientierung. Kritik ist hier nur in Kleinigkeiten angebracht. Dass auch in OWiG-Verfahren Beugearrest verhängt werden darf, ist
rasch festzustellen (§ 11 JGG Rn. 10). Allerdings sollte hier nicht nur der Hinweis auf § 98 OWiG erfolgen, sondern auch erwähnt werden, dass die Höchstdauer des Arrests bei einer Woche liegt, ohne dass der Benutzer erst das OWiG aufschlagen muss. In den Ausführungen zur Führungsaufsicht (§ 7 JGG Rn. 10-14) wären einige kritische Sätze zu ihrer Dauer zu begrüßenswert. Es ist meines Erachtens erzieherisch problematisch, wenn die 5-Jahres-Dauer bei Erwachsenen auf die nach Jugendstrafrecht Verurteilten schematisch übernommen wird.
Der Diemer/Schatz/Sonnen ist der einzige JGG-Kommentar, der auch das JugendstrafvollzugsG bearbeitet – ein ganz wesentlicher Vorzug! Da der Vollzug Ländersache ist, wird vorliegend das Berliner JugendstrafvollzugsG erläutert, dessen Erläuterung um das zuletzt erschienene Hamburger Gesetz ergänzt wird. Querverweise verdeutlichen Abweichungen, sofern diese bei den übrigen fünf Landesgesetzen bestehen.
Dem Benutzer dieses Kommentars muss allerdings bewusst sein, dass es seinen Autoren nicht allein darum geht, wertfrei Informationen und Fakten zu übermitteln. Vielmehr wird zu vielen Fragen sehr dezidiert Stellung bezogen. Dies ist insbesondere in den von Sonnen bearbeiteten Teilen der Fall, wo sich das Buch wie eine Art "Zentralorgan der DVJJ" liest. Seine Positionen kann der Rezensent nicht immer teilen: So zutreffend es ist, unter Hinweis auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie darauf zu drängen, Jugendstrafrecht grundsätzlich auch auf alle Heranwachsenden anzuwenden (§ 105 JGG Rn. 10), so sehr irritieren die an dieser und auch an anderer Stelle auftauchenden klagenden Hinweise, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts in der Praxis häufig zu einer Schlechterstellung junger Straftäter führe (§ 105 JGG Rn. 6). Dieser Behauptung kann ich nach meiner mehr als 15jährigen Erfahrung weder für die eigenen erstinstanzlichen Verfahren noch für die mir aus Berufungsverfahren bekannten Entscheidungen der Jugendrichter am Amtsgericht zustimmen. Man denke nur an die Vielzahl von Einstellungen nach § 47 JGG auch bei schweren Verbrechenstatbeständen – eine bei Erwachsenen völlig undenkbare Vorgehensweise!
Auch die Ausführungen zur Anwendung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld, bei denen sich der Autor für eine äußerst restriktive Interpretation und eine Beschränkung nahezu auf Kapitaldelikte ausspricht (Rn. 23f zu § 17 JGG), gehen doch sehr weitgehend an der Praxis vorbei. Die Kommentierung gerät an dieser Stelle in Gefahr, tendenziös zu werden. So wird etwa sehr ausführlich eine wirkliche Ausnahmeentscheidung des BGH in einer Totschlagssache dargestellt (Aufhebung einer Jugendstrafe von vier Jahren gegen eine junge Mutter, die im Falle des Vollzuges ihr Kind, die Wohnung und den Arbeitsplatz verloren hätte). Dabei wird jedoch nicht erwähnt, dass es bei Kapitaldelikten in der ganz überwiegenden Mehrheit aller Fälle zu Jugendstrafen kommt, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden können, und dass diese Verurteilungen in aller Regel auch vom BGH gehalten werden. Dagegen wird die Frage der meines Erachtens hoch problematischen und allein aus Kostenerwägungen eingeführten Besetzungsreduktion relativ "wertneutral" (§ 33b JGG Rn. 2 f. und § 41 JGG Rn. 28) behandelt. Allerdings war hier auch Dr. Schatz als Bearbeiter tätig, der sich insgesamt deutlich zurückhaltender äußert.
Dass die Kommentatoren individuell ausgeprägt – mal mehr und mal weniger deutlich – Position beziehen, spricht aber keineswegs gegen, sondern eher für den Wert des Buches. Denn es ist durchaus anregend, anhand anderer Meinungen den eigenen Standpunkt immer wieder kritisch zu hinterfragen. Da zudem Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum umfangreich, wohlgeordnet und auf dem Stand vom 1. Januar 2011 erfasst sind, wird bei mir auch in Zukunft der erste Griff bei allen Fragen des JGG der nach dem Diemer/Schatz/Sonnen sein.
VRiLG Kay-Thomas Dieckmann, Berlin