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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2011
12. Jahrgang
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Von Dr. Stefanie Bock, Institut für Kriminalwissenschaften an der Universität Göttingen
Mit der Entscheidung HRRS 2011 Nr. 203 führt der BGH eine Differenzierung zwischen Beweisanträgen des Angeklagten und solchen des Nebenklägers ein. Bei letzteren soll auch eine "weniger restriktive Anwendung der gesetzlich vorgesehenen beschränkten Ablehnungsmöglichkeiten[…] vertretbar" sein. Zur Begründung stellt der BGH auf die hohe Bedeutung des Beweisantragsrechts für den Angeklagten ab. Unbestritten ist, dass dies ein wichtiges Element eines fairen und rechtsstaatlichen Strafverfahrens ist:[1] der Beschuldigte wird in die Lage versetzt, als Prozesssubjekt [2] aktiv in das Verfahren einzugreifen und sich – beispielsweise durch das Einbringen entlastender Beweise – an der Sachverhaltsaufklärung zu beteiligen. Zudem bietet es die Möglichkeit, das die Verfahrensherrschaft innehabende Gericht zu kontrollieren.[3] Das Beweisantragsrecht ist damit Ausdruck des verfassungsmäßigen Rechts des Angeklagten auf wirksame Verteidigung.[4] Allerdings lassen sich hieraus keine Rückschlüsse auf die (abweichende) Behandlung von Beweisanträgen des Nebenklägers ziehen.
Zudem sollte die Bedeutung von Partizipationsrechten für den Verletzten nicht unterschätzt werden. Mit dem Instrument der Nebenklage eröffnet sich auch ihm die Möglichkeit, als selbstbestimmtes Subjekt seine Interessen eigenverantwortlich wahrzunehmen anstatt in der passiven Zeugenrolle zu verharren.[5] Dies gilt namentlich für das Beweisantragsrecht, das vor allem dem Interesse des Verbrechensopfers an der Wahrheitsfindung Rechnung trägt.[6] Zwar ist das Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet (vgl. § 244 II StPO) – die hiervon unabhängige Befugnis des Nebenklägers, auf eine umfassende Beweisaufnahme hinzuwirken, wird aber spätestens dann relevant, wenn Gericht und Staatsanwaltschaft der vollständigen Aufklärung der tatsächlichen Geschehnisse nur eine untergeordnete Bedeutung beimessen.[7] Vergegenwärtigt man sich die hohe Arbeitsauslastung der Strafgerichte, so ist dies kein unwahrscheinliches Szenario. In diesem Sinne dient die Ausdehnung des Beweisantragsrechts auf den Nebenkläger auch der objektiven Wahrheitsfindung. Der Verletzte kann seine Perspektive, sein für die Interpretation der Geschehnisse wesentliches Vorverständnis in das Verfahren einbringen und auf diese Weise zu einer offenen, auf die Ermittlung der wahren Geschehnisse gerichteten Sachverhaltsaufklärung beitragen.[8] Darüber hinaus können mit der Wahrnehmung von prozessualen Rechten positive psychologische Effekte verbunden sein. Bringt sich der Verletzte aktiv in das Strafverfahren ein, so steht dies im diametralen Gegensatz zur Straftat, die regelmäßig durch die Passivität bzw. Hilflosigkeit des Opfers gekennzeichnet ist.[9] Diese Erfahrung kann dem Betroffe-
nen bestenfalls bei der Tatverarbeitung helfen. Jedenfalls tragen Beteiligungsrechte aber dazu bei, das Risiko einer sekundären Viktimisierung, also einer Intensivierung der Straftatfolgen durch die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen,[10] zu minimieren.[11]
Selbst wenn man einer aktiven Beteiligung des Opfers am Strafverfahren kritisch gegenübersteht,[12] so muss man dennoch die eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers respektieren. Dieser hat dem Verletzten in § 397 I 3 StPO explizit das Recht eingeräumt, Beweisanträge zu stellen. Dabei hat er darauf verzichtet, Reichweite und Grenzen dieser Befugnis gesondert auszugestalten. Stattdessen wird auf die allgemeine Regel des § 244 III-IV StPO verwiesen. Wortlaut und gesetzliche Systematik sprechen daher dafür, alle Beweisanträge einheitlich zu behandeln – unabhängig davon, von welchem Verfahrensbeteiligten sie gestellt werden. Dies dürfte auch dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich hervorhebt, dass "[a]uch seine[die des Nebenklägers, SB]Beweisanträge nur unter den in § 244 Abs. 3 bis 5 genannten Voraussetzungen […]abgelehnt werden" dürfen.[13] Dass der BGH sich über all dies hinwegsetzt, ist auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit misslich. Zu den in § 244 III-IV StPO genannten Ablehnungsgründen existiert eine ausdifferenzierte Kasuistik, die es den Verfahrensbeteiligen ermöglicht, die Erfolgsaussichten eines Beweisantrags realistisch einzuschätzen und ihr Prozessverhalten entsprechend auszurichten. Nun steht in Frage, ob und in welchem Umfang die bekannten Regeln auch für Prozesshandlungen des Nebenklägers gelten. Dies fordert Diskussionen zwischen den Prozessbeteiligten und die Entwicklung neuer Fallgruppen zu § 244 III-IV StPO geradezu heraus. Ob dies prozessökonomisch sinnvoll ist, kann bezweifelt werden.
[1] Vgl. nur Strate StV 1990, 392; Basdorf StV 1995, 310, 312.
[2] Schatz, Das Beweisantragsrecht in der Hauptverhandlung: Reformgeschichte und Reformproblematik (1999), S. 275 ff., 278; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. (2007), Rn. 18; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. (2011), Rn. 553.
[3] Schatz (Fn. 2), S. 254 ff.; Volk, Grundkurs StPO, 7. Aufl. (2010), § 25 Rn. 1.
[4] Schatz (Fn. 2), S. 271 f. mwN.
[5] Gollwitzer, FS Schäfer (1979), S. 65; vgl. auch Schneider StV 1998, 456, 458.
[6] Siehe BT-Drs. 10/5305, S. 14.
[7] Niedling, Strafprozessualer Opferschutz am Beispiel der Nebenklage (2005), S. 86 f.
[8] So allgemein zum Beweisantragsrecht Hamm/Hassemer/Pauly (Fn. 2), Rn. 30 ff.
[9] Vgl. Bard/Sangrey, The Crime Victim’s Book, 2. Aufl. (1986), S. 16; Hagemann, Wohnungseinbrüche und Gewalttaten: Wie bewältigen Opfer ihre Verletzungen? (1992), S. 126; Hansen, Traumatisierung von Frauen durch Gewalt (1999), S. 6.
[10] Kiefl/Lamnek, Soziologie des Opfers (1986), S. 239; Tampe, Verbrechensopfer (1992), S. 36; Herman Journal of Traumatic Stress 16 (2003), 159, 160. Anerkannt wurde die Gefahr einer sekundären Viktimisierung durch das Strafverfahren beispielswiese im 5. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren, ABl. EG 2001 L 82/1.
[11] Herman Journal of Traumatic Stress 16 (2003), 159; Bock ZStW 119 (2007), 664, 672.
[12] Vgl. nur Kempf StV 1987, 215.