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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2011
12. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Hans Kudlich, Universität Erlangen-Nürnberg
Der 27. Februar 1992 markiert einen wichtigen Tag im deutschen Strafverfahrensrecht. In seiner bekannten Entscheidung BGHSt 38, 214 hat der 5. Strafsenat bekanntlich unter Aufgabe einer lang währenden abweichenden Rechtsprechung ein Beweisverwertungsverbot für den Fall angenommen, dass ein Beschuldigter vor der ersten Belehrung entgegen § 136 I 2 StPO nicht über sein Aussageverweigerungsrecht belehrt worden ist. Dadurch wurde nicht nur die Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren entscheidend gestärkt, sondern auch eindringlich der Blick auf die (freilich in der Folge von Rechtsprechung wie Gesetzgeber nicht immer konsequent beachtete) Tatsache gerichtet, dass ungeachtet der Konzeption einer das Kernstück des Verfahrens bildenden Hauptverhandlung mit Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz entscheidende Weichen im Ermittlungsverfahren gestellt werden.
Wie so viele Dinge im Leben hat aber auch diese Entscheidung zwei Seiten[1]: Sie ist eben nicht nur diejenige,
in der bei unterlassener Belehrung ein Beweisverwertungsverbot grundsätzlich für möglich erachtet (und damit dann auch der Weg zur Annahme eines Beweisverwertungsverbotes in ähnlich gelagerten Fällen geebnet[2]) wurde, sondern es ist auch die Entscheidung, in welcher die (vorher freilich nicht unbekannte[3]) sogenannte "Widerspruchslösung" mehr oder weniger zementiert wurde[4] und von der aus das Widerspruchserfordernis in der Folgezeit auf zahlreiche weitere Fälle ausgedehnt wurde.[5] Die Widerspruchslösung besagt, dass ein Beweisverwertungsverbot - selbst wenn dieses wegen eines Fehlers bei der Vernehmung (bzw. allgemeiner gesprochen: bei der Beweiserhebung) nach den allgemeinen Abwägungsregeln[6] grundsätzlich in Betracht kommt - tatsächlich nur eingreift, wenn der verteidigte Angeklagte[7] der Verwertung der Aussage (bzw. des sonstigen Beweismittels) bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt in der Hauptverhandlung widersprochen hat.[8] In der Literatur hat diese Figur verbreitet Kritik,[9] durchaus aber auch von namhaften (und verteidigungsnahen) Stimmen Zustimmung erfahren.[10]
Die Rechtsprechung hat auf verschiedene Weise versucht, das im Gesetz nicht vorgesehene Widerspruchserfordernis zu begründen. Das Reichsgericht stellte etwa in entsprechenden Vorläuferentscheidungen darauf ab, dass der unterlassene Widerspruch zum Ausdruck bringe, "es solle auf einen möglichen Verfahrensverstoß kein weiteres Gewicht gelegt werden"[11] bzw. dass das Urteil bei fehlendem Widerspruch nicht auf dem Verfahrensverstoß beruhe.[12] Derartige Begründungsansätze stehen freilich - ähnlich wie die vergleichbaren Argumente, mit denen aus dem Beanstandungsrecht nach § 238 II StPO eine Beanstandungspflicht gemacht werden soll, deren Verletzung zu einer Verwirkung der Verfahrensrüge führt[13] - dogmatisch auf eher tönenden Füßen. Im Wesentlichen handelt es sich um bloße Postulate bzw. Fiktionen, die zumindest teilweise (etwa hinsichtlich des fehlenden Rügewillens) durch eine später tatsächlich eingelegte Revision eindrucksvoll widerlegt werden. Zu Recht kritisieren etwa Bernsmann und Fezer gleichgerichtet, dass die Idee einer Rügepräklusion in der StPO stets eine Ausnahme darstelle und dass es an einer allgemeinen Präklusionsvorschrift fehle, so dass die Widerspruchslösung eine "völlig freischwebende (…) richterrechtliche (…) Rechtsfortbildung" darstelle, die zudem "den Eindruck eines bloßen ergebnisorientierten Machtspruches" erwecke.[14]
Zumindest auf den ersten Blick "eleganter" und - paradoxerweise mit einem "weniger an Begründung" weniger angreifbar - begründet daher der BGH das Widerspruchserfordernis mitunter schlicht mit einer "Einschränkung des Verwertungsverbotes", welche "die Rechte des Angeklagten nicht in unangemessener Weise" beschneide, wenn ihm das Recht, sich auf ein Verwertungsverbot zu berufen, genommen werde.[15] Richtig an diesem Gedanken der bloßen "Einschränkung des Beweisverwertungsverbotes" ist, dass die bloße ungeschriebene Einschränkung eines genauso ungeschriebenen Beweisverwertungsverbotes letztlich kein Problem des strafprozessualen Gesetzesvorbehalts darstellt.[16] Denn obwohl auch die Beschränkung von Verfahrensrechten bzw. der Geltendmachung von Rechten in der Revision grundsätzlich einen Eingriff in (letztlich grundrechtlich abgesicherte) Rechtspositionen darstellt, welcher regelmäßig eine gesetzliche Grundlage erfordert,[17] kann es der Rechtsprechung nicht verwehrt sein, wenn sie ein im Gesetz so nicht explizit vorgesehenes Beweisverwertungsverbot "nur" mit einer zusätzlichen Voraussetzung schafft. Insbesondere dürfte es auch nicht das verfassungsrechtlich unhintergehbare Minimum darstellen, dass bei Verfahrensfehlern durch die Strafverfolgungsbehörden Beweisverwertungsverbote stets ohne Widerspruch gleichsam automatisch erwachsen.
Das ändert aber nichts daran, dass das Erfordernis des Widerspruchs als Sachkriterium für das Erwachsen eines Beweisverwertungsverbotes als solches zweifelhaft ist.
Denn die Abwägungsleitlinien sowie die Verantwortungsbereiche werden dadurch unangemessen zu Lasten der Verteidigung und damit letztlich auch des Beschuldigten verschoben:[18] Im Konflikt zwischen dem staatlichen Interesse an der Strafverfolgung auf der einen und dem Interesse des Bürgers auf Wahrung seiner Rechte auf der anderen Seite beeinflussen beide "Versäumnisse" weder das Gewicht des Verfahrensverstoßes[19] noch die Schwere des verfolgten Delikts als die beiden wichtigen Abwägungsparameter, so dass die Interessenerwägung für ein Beweisverwertungsverbot und damit für die Revisibilität mit oder ohne Zwischenrechtsbehelf bzw. Widerspruch an sich gleich ausfallen müsste. Auch wird nicht nur der prozessuale Fehler der Strafverfolgungsbehörden auf den (verteidigten) Angeklagten abgewälzt, sondern auch ein Fehlverhalten des Verteidigers fällt auf den Angeklagten zurück.[20]
Insoweit ist auch die Widerspruchslösung letztlich als Ausfluss einer allgemeinen (und rechtspolitisch wie prozessrechtsdogmatisch durchaus zweifelhaften) Linie zu verstehen, unter dem Schlagwort der "erhöhten Professionalisierung der Strafverteidigung" die Verantwortung für Verfahrensfehler von den Verfolgungsbehörden auf den Beschuldigten und seinen Verteidiger zu verschieben und damit die Revision zu erschweren.[21] Dies alles gibt Anlass zu mancherlei Zweifeln und Einwänden, scheint bis auf Weiteres zumindest im Grundsatz für die praktische Betrachtung und für Folgeüberlegungen aber zugrunde zu legender Zustand zu sein. Soweit freilich im Detail an kleineren "Stellschrauben" im Einzelfall gedreht werden kann bzw. soll, ist durchaus im Hinterkopf zu behalten, dass gegen das Konstrukt einer Widerspruchslösung insgesamt Bedenken bestehen, so dass diese im Zweifel eher eng als weit ausgelegt werden sollte.
Der Widerspruch muss nach Auffassung der Rechtsprechung in der Hauptverhandlung in erster Instanz spätestens bis zum in § 257 StPO genannten Zeitpunkt erhoben werden. Dies bedeutet im Einzelnen:
1. Der Widerspruch muss nach Auffassung des BGH[22] in der Hauptverhandlung, d.h. frühesten zu ihrem Beginn erhoben werden. Ein Widerspruch, der bereits im Ermittlungsverfahren erhoben wurde und insoweit auch aktenkundig ist, soll demgegenüber nicht genügen. Diese Auffassung ist in der Literatur verschiedentlich kritisiert worden.[23] In der Tat ist nach keinem Begründungsmodell für das Widerspruchserfordernis recht einsichtig, warum der Widerspruch nicht schon vor der Hauptverhandlung möglich sein soll: Ein konkludenter Verzicht auf das Beweisverwertungsverbot kann bei Erhebung des Widerspruchs auch bereits im Vermittlungsverfahren ebenso wenig angenommen werden wie eine "Verwirkung", und beim Verständnis des Widerspruchserfordernisses als allgemeine (ungeschriebene) Voraussetzung dafür, dass ein Beweisverwertungsverbot entsteht, ist es einigermaßen willkürlich, für dieses ungeschriebene Erfordernis einen engen Zeitkorridor zu bestimmen. Jedenfalls wird man aus der allgemeinen Garantie eines fairen Verfahrens,[24] die unstreitig auch auf den verteidigten Angeklagten gilt, eine Pflicht des Gerichts ableiten müssen, bei einem entsprechenden Widerspruch im Ermittlungsverfahren auf die Widerspruchsmöglichkeit und -notwendigkeit in der Hauptverhandlung hinzuweisen. Soweit dies erfolgt (bzw. ein Verlust des Beweisverwertungsverbotes nicht angenommen wird, wenn es an diesem Hinweis fehlt), dürfte es sich eher um ein theoretisches Problem handeln.
2. Innerhalb der Hauptverhandlung muss der Widerspruch spätestens "bis zum in § 257 StPO genannten Zeitpunkt" erfolgen. Gemeint ist damit in § 257 I StPO der Passus "nach jeder einzelnen Beweiserhebung". Damit wird klargestellt, dass der Widerspruch nicht bis zum Ende der Beweiserhebung aufgeschoben werden kann. Auch diese Beschränkung ist nicht frei von Einwänden und steht in einem gewissen Wertungswiderspruch dazu, dass die Einflussnahmemöglichkeiten des Angeklagten
auf das Beweisrecht im Übrigen nach der StPO den gesamten Zeitraum der Beweisaufnahme[25] umfasst. Auch die Verfahrensökonomie wird kaum dadurch gefördert, dass die Beteiligten zur Erhebung von Widersprüchen gezwungen werden, bevor sich aus dem Verlauf der Beweisaufnahme (oder gar aus entsprechenden Hinweisen des Gerichts nach der Beweisaufnahme) ergibt, ob ein bestimmtes Beweismittel überhaupt bedeutsam ist.[26] Allerdings ist auch die Rechtsprechung zu diesem spätesten (und zugegebenermaßen auch nicht unzumutbaren) Zeitpunkt so gefestigt, dass für die Praxis bis auf weiteres davon auszugehen ist, dass die zeitliche Grenze Bestand haben wird.
3. Schließlich muss der Widerspruch grundsätzlich bereits in der Verhandlung in der ersten Instanz erfolgen. Konsequenz daraus ist für die Rechtsprechung, dass weder im Berufungsverfahren[27] (obwohl an sich "zweite Tatsacheninstanz") noch nach der Zurückweisung der Sache durch das Revisionsgericht an ein neues Tatgericht ein Widerspruch wirksam erhoben werden kann.[28] Die generellen Bedenken gegen die Widerspruchslösung, welche für ihre möglichst enge Auslegung streiten, sprechen selbstverständlich im Ergebnis auch gegen diese zusätzliche Ausweitung des Verlusts des Beweisverwertungsverbotes. Der Rechtsprechung ist insoweit zwar zuzugeben, dass es von ihrem Standpunkt aus mit Blick auf die rigide Grenze des Zeitpunkts des § 257 StPO konsequent ist, die Möglichkeit, sich auf ein Beweisverwertungsverbot zu berufen, in einer neuen Instanzen nicht wieder aufleben zu lassen. Gegen sie spricht freilich, dass sie der grundsätzlichen und im Rechtsmittelrecht (anders als das ungeschriebene Widerspruchserfordernis) klar zum Ausdruck kommenden Wertung widerspricht, dass erstinstanzliche Verfahrensmängel für das Ergebnis des Berufungsverfahrens bedeutungslos sind und dass auch die Tatsachenfeststellung nach einer Zurückverweisung (soweit die Feststellungen nicht unberührt bleiben) grundsätzlich neu zu erfolgen hat.[29]
1. Insbesondere die Rechtsprechung, nach welcher ein Widerspruch weder in der Berufung noch in einer neuen Tatsachenverhandlung nach Zurückverweisung aufgrund der Revision "nachgeholt" werden kann, enthält bereits den Anstrich einer Art "irreversiblen Umgestaltung" des Prozessrechtsverhältnisses durch das Unterlassen des Widerspruchs. Einen großen Schritt weiter in diese Richtung geht in einer neuen Entscheidung das OLG Frankfurt:[30] In einem Fall, in dem ein Beweisverwertungsverbot wegen Verstoßes gegen den Richtervorbehalt nach § 81a II StPO in Rede stand, wurde der Angeklagte - obwohl sein Verteidiger in der Hauptverhandlung vor dem AG der Verwertung des Ergebnisses einer Blutentnahme nicht widersprochen hatte - vom AG freigesprochen, und auch die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde vom LG verworfen, welches hinsichtlich der Blutprobe ein Beweisverwertungsverbot annahm. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hob das OLG Frankfurt das Berufungsurteil auf und erklärte (gleichsam als obiter dictum, da es im konkreten Fall schon die Voraussetzungen der Gefahr im Verzug und damit die Verzichtbarkeit einer richterlichen Anordnung bejahte), dass selbst bei Annahme eines Verstoßes gegen den Richtervorbehalt jedenfalls kein Beweisverwertungsverbot hätte angenommen werden dürfen, da auch bei einem Freispruch in der Tatsacheninstanz bzw. einer späteren Annahme eines Beweisverwertungsverbotes durch das Tatgericht jedenfalls ein Widerspruch hätte erhoben werden müssen. Das Gericht habe nämlich "das Vorliegen eines Verwertungsverbotes nicht von Amts wegen zu überprüfen", sondern die Erhebung des Widerspruchs unterliege "allein der Dispositionsfreiheit des Beschuldigten", so dass die Unterlassung "des Widerspruchs in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung (…) die prozessuale Rechtslage dauerhaft umgestaltet" und der Angeklagte "mit seinem Rügerecht endgültig präkludiert" ist.[31] Oder anders gewendet: Es geht nicht mehr nur um das in BGHSt 38, 214, 226 genannte Recht, "sich auf ein Verwertungsverbot zu berufen" bzw. auf die (von den Voraussetzungen des Verwertungsverbots abzugrenzende) "Durchsetzbarkeit",[32] sondern darum, dass gewissermaßen gleich einem Gestaltungsrecht das Prozessverhältnis dauerhaft umgestaltet worden sein soll.
2. Dieses Verständnis der Widerspruchslösung kann sich zwar nicht unmittelbar auf die beiden an zentraler Stelle zitierten neueren Entscheidungen des OLG Hamm und des OLG Karlsruhe berufen,[33] da beide Entscheidungen andere Konstellationen - insbesondere keine der Revisionsinstanz vorhergehenden Freisprüche - zum Gegenstand haben. Es kann aber immerhin an eine (offenbar
als eine Sonderkonstellation betreffend empfundene und daher eher wenig wahrgenommene) Entscheidung des OLG Stuttgart zu einem unterlassenen Widerspruch nach fehlender Beschuldigtenbelehrung anknüpfen[34] und erscheint auf den ersten Blick auch durchaus konsequent, wenn man davon ausgeht, dass ohne Widerspruch ein Beweisverwertungsverbot nicht besteht: Denn ohne Beweisverwertungsverbot müssen schon nach § 244 II StPO entsprechende Beweismittel verwertet werden, so dass ihre fehlende Berücksichtigung einen Rechtsfehler darstellt.
Auf den zweiten Blick dagegen ist diese Rechtsprechung selbst auf der Grundlage der Widerspruchslösung keinesfalls zwingend: Soeben wurde bereits angemerkt, dass die Widerspruchslösung jedenfalls in der ursprünglichen Formulierung im BGHSt 38, 214 und ihrer Wahrnehmung in Teilen der Literatur eher als Ausschluss der Durchsetzbarkeit des "Rechts auf ein Beweisverwertungsverbot" als in der zwingend ausgeschlossenen Berücksichtigung des Beweisverwertungsverbotes gesehen wurde.[35] Auch ist kaum erklärbar, warum ein "Fehler" des nicht widersprechenden Angeklagten bzw. Verteidigers die Rechtslage dauerhaft und irreversibel umgestalten soll, während der (vermeintliche) "Fehler" des Tatgerichts, das Beweisverwertungsverbot anzuerkennen, nicht zu einer "Rückumgestaltung" führen soll. Hier wird ersichtlich mit zweierlei Maß gemessen.
Dies wird auch deutlich, wenn man den zur Begründung des Widerspruchserfordernisses immer wieder herangezogenen Vergleichsfall der Präklusion im Zivilprozess betrachtet: Auch wenn eine Partei mit ihren Einwänden präkludiert ist, hindert dies die gegnerische Partei selbstverständlich nicht, genau die der Präklusion unterliegenden Tatsachen ihrerseits einzugestehen. Zugegebenermaßen "hinkt" dieser Vergleich deshalb, weil der Strafprozess kein Parteiprozess ist und insbesondere das Gericht keine Partei in diesem Sinne - indes schreibt der Vergleich ja nur fort, was von den Anhängern der Widerspruchslösung zur Begründung derselben herangezogen wird, obwohl der Gedanke dort genauso wenig passt.
Man wird sogar noch weitergehen müssen: Die Ablehnung einer "Rückumgestaltung des Prozessrechtsverhältnisses" durch den Freispruch bzw. durch die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes seitens des Tatgerichts im Unterschied zu den Konsequenzen eines unterlassenen Widerspruchs des Verteidigers ist umso weniger verständlich, als durch den zweiten Akt die "eigentlich materiell gesollte Rechtslage", nämlich die Existenz eines Beweisverwertungsverbotes bei hinreichend schweren Fehlern der Strafverfolgungsbehörden bei der Beweisermittlung, wieder hergestellt wird. Warum an diese "Wiederherstellung" höhere Anforderungen zu stellen sein sollen als an die Präklusion der Berufung auf das Beweisverwertungsverbot, ist nicht einsichtig. Vielmehr "zwingt" die Rechtsprechung OLG Frankfurt zur dauerhaften Umgestaltung der prozessualen Situation das neue Tatgericht nach der Zurückverweisung ein objektiv fehlerhaft[36] erhobenes Beweismittel zu verwerten.
3. Die Problematik dieser Sichtweise offenbart auch folgender Vergleichsfall: Geht das Tatgericht davon aus, dass hinsichtlich eines bestimmten Beweismittels ein Beweisverwertungsverbot besteht, so ist es denkbar, dass es auf die Einführung desselben in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vollständig verzichtet. In einem solchen Fall würde es seltsam anmuten, wenn man vom Angeklagten und Verteidiger erwarten würde, dass sie der Verwertung eines nur hypothetisch bestehenden, vom Tatgericht aber überhaupt nicht herangezogenen Beweismittels widersprechen müssten; streng genommen würde auch überhaupt kein "beweisverwertungsverbotschädliches" Unterlassen eines Widerspruchs vorliegen, da bei z.B. a priori fehlender Einbeziehung des Beweismittels durch das Amtsgericht der "in § 257 StPO genannte Zeitpunkt" für dieses Beweismittel überhaupt nie eingetreten ist.
Warum es freilich bei - möglicherweise sogar auch schon absehbarer - Nichtverwertung des Beweismittels (oder sonstigen Fällen eines "greifbar drohenden Freispruches") für die materielle Existenz oder Nichtexistenz eines Beweisverwertungsverbotes eine Rolle spielen soll, ob das vom Tatgericht ohnehin nicht verwertete Beweismittel erfolglos eingeführt worden ist oder nicht, ist schwer einsehbar. Wenn hier überhaupt negative Konsequenzen aus einer Obliegenheitsverletzung abgeleitet werden sollten, so müssten diese im Fall der Nichtverwertung des Beweismittels eher die Staatsanwaltschaft treffen, wenn sie einer "drohenden Nichtverwertbarkeit" nicht ihrerseits in der Hauptverhandlung widersprochen hat. Ist nach der angemessenen Verantwortungsverteilung für Fehler der Strafverfolgungsbehörden bzw. des Gerichts die Aufbürdung eines Widerspruchserfordernisses schon dann "eigentlich systemwidrig", wenn damit "nur" das Recht, sich auf ein Beweisverwertungsverbot zu berufen, verloren geht, so wird diese Obliegenheit zu einer vollends nicht mehr begründbaren formalen Anforderung, wenn der versäumte Widerspruch selbst dann negative Konsequenzen haben soll, wenn das Gericht, vor dem an sich hätte widersprochen werden müssen (!), den Angeklagten gleichwohl freispricht und dabei möglicherweise sogar selbst ein Beweisverwertungsverbot annimmt.
Die Widerspruchslösung ist grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt, welche um so schwerer wiegen, je weiter ihr Anwendungsbereich gezogen wird. Gleichwohl wird angesichts der gefestigten Rechtsprechung für die Praxis bis auf weiteres davon auszugehen sein, dass entsprechende Widerspruchserfordernisse aufgestellt werden und ihre Verletzung "sanktioniert" wird. Gerade deshalb sind die Instanzgerichte und Oberlandesgerichte dazu aufgerufen, an den "Stellschrauben", die nicht die grundsätzliche Existenz der Widerspruchslösung betreffen, in einer Weise zu drehen, die ihre Konsequenzen abmildert. Dazu gehört insbesondere, dass ihre Wirkung auf den
Verlust beschränkt bleibt, sich auf ein Beweisverwertungsverbot berufen zu können, und nicht vorschnell eine vollständige und vor allem auch irreversible materielle Umgestaltung des Prozessrechtsverhältnisses angenommen wird. Hier sind auch durch die genannten obergerichtlichen Entscheidungen die Wege noch nicht so "zementiert", dass allein sie fortgeschritten werden können. Soweit dies im Einzelfall als unvermeidbar erscheint, sollte auch der Mut zu einer Vorlage an den Bundesgerichtshof gefasst werden, aus dessen Rechtsprechung - soweit ersichtlich - die extrem weitreichende Konsequenz auch nach einem Freispruch durch die Tatgerichte wohl nicht zwingend abgeleitet werden muss.
[1] Vergleichbares Fazit für die Entscheidung BGHSt 42, 15 (mit Blick auf das dort auf S. 22 aufgestellte Widerspruchserfordernis) bei Roxin JZ 1997, 343, 346, der den Gewinn durch die grundsätzlich verwertungsverbotsfreundliche Entscheidung aufgrund des Widerspruchserfordernisses im Wesentlichen als aufgezehrt betrachtet; vgl. auch Jäger Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess (2003), S. 27.
[2] Vgl. insbesondere schon kurz danach die Entscheidung BGHSt 38, 374.
[3] Vgl. etwa bereits RGSt 50, 364, 365; 58, 90 f.; 58, 100, 101.
[4] Vgl. BGHSt 38, 214, 225 f.
[5] Vgl. zu der Folgeentwicklung etwa die Nachweise bei Löwe-Rosenberg/Gössel, 26. Aufl. (2006), Einl. Abschn. L Rn. 29; in der Entscheidung BGHSt NStZ 1996, 290, 291 wird dies sogar für Verstöße gegen § 136a StPO erwogen; insoweit zu Recht ablehnend Fezer StV 1997, 57 ff.; LR/Gössel a.a.O Rn. 30.
[6] Vgl. zu den Abwägungskriterien, die für die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot herangezogen werden, zusammenfassend Jahn Beweiserhebung und Beweisverwertungsverbote im Spannungsfeld zwischen den Garantien des Rechtsstaates und der effektiven Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus - Gutachten C zum 67 Deutschen Juristentag (2008), S. 58 ff.; zu (freilich nicht immer weit) abweichenden Konzepten a.a.O., S. 38 ff., sowie Jäger (Fn. 1 ), S. 69 ff.
[7] Dem verteidigten Angeklagten wird ein solcher gleichgestellt, der vom Gericht über die Möglichkeit des Widerspruchs belehrt worden ist.
[8] Vgl. neben den vorhergehenden Nachweisen nur Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. (2010), § 136 Rn. 25.
[9] Vgl. bereits Maul/Eschelbach StraFo 1996, 66 ff.; Heinrich ZStW 112 (2000), 398, 406 ff., 412 ff.; aus neuerer Zeit etwa Tepperwien in: Schöch/Satzger/Schäfer/Ignor/Knauer (Hrsg.), Widmaier-FS (2008), S. 583, 591.
[10] Vgl. etwa Matt GA 2006, 323, 325 f.; Widmaier NStZ 1992, 519, 521 (mit einem Schwerpunkt freilich auf der Möglichkeit, entlastende Gesichtspunkte verwertbar zu belassen; zur darüber hinausgehenden Zuweisung von Verantwortung zum Verteidiger krit. Tepperwien Widmaier-FS[Fn. 9 ], S. 583, 591 f.)
[11] Vgl. RGSt 50, 364, 365; 58, 100, 101.
[12] Vgl. RGSt 58, 90 f.
[13] Vgl. zum Zwischenrechtsbehelf § 238 StPO aus neuerer Zeit Mosbacher JR 2007, 387 f.; zu den Gemeinsamkeiten von Widerspruchslösung und Besorgnis eines Zwischenrechtsbehelfs auch Kudlich, Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfahrens? - Gutachten C zum 68. Deutschen Juristentag (2010), S. 92 ff.
[14] Vgl. Bernsmann StraFo 1998, 73, 76; Fezer StV 1997, 57, 58.
[15] Vgl. BGHSt 38, 214, 226.
[16] Vgl. Basdorf StV 1997, 488, 491; zustimmend Kudlich (Fn. 13 ), S. 94.
[17] Vgl. Kudlich (Fn. 13 ), S. 87, 104.
[18] Vgl. auch Schünemann ZIS 2009, 484, 486, sowie Kudlich (Fn. 13 ), S. 95 f..
[19] Zu dessen Beachtlichkeit für die Frage nach einem Beweisverwertungsverbot vgl. etwa BGHSt 38, 214, 219 f.; BGHSt 47, 172, 179 f.; BGH NStZ 2006, 236, 237 = HRRS 2005 Nr. 893.
[20] Vgl. Dornach NStZ 1995, 57, 63; Meyer-Goßner/Appl StraFo 1998, 258, 260.
[21] Zu dieser Tendenz vgl. Kudlich (Fn. 13 ), S. 86 ff., sowie Gaede wistra 2010, 210 ff. Als weitere Beispiele hierfür können etwa die geänderte Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung (vgl. BGHSt 51, 298= HRRS 2007 Nr. 600 sowie BVerfGE 122, 248 = HRRS 2009 Nr. 296; zum Standpunkt des Verfassers zu den hiermit verbundenen Fragen vgl. bereits HRRS 2007, 9 ff.[zu BGH NJW 2006, 3579 = HRRS 2006 Nr. 713 m. Anm. Fahl JR 2007, 34 ff.; Hollaender JR 2007, 6 ff.]; ders. BLJ[www.law-journal.de]2007, 125 ff., sowie Kudlich/Christensen JZ 2009, 943 ff.) oder die Relativierung absoluter Revisionsgründe (vgl. aus jüngerer Zeit etwa BGH wistra 2011, 28 = HRRS 2010 Nr. 679) genannt werden. Allgemein zur geänderten Sichtweisen im Revisionsrecht als Ausdruck "geistigen und gesellschaftlichen Wandels" Frisch in Weßlau/Wohlers (Hrsg.), Fezer-FS, 2008, S. 353 ff., insb. 368 ff.
[22] Vgl. etwa BGH NStZ 1997, 502, 503.
[23] Vgl. Schlothauer in: Prittwitz/Baurmann/Günther/ Kuhlen/Merkel/Nestler/Schulz (Hsrg.), Lüderssen-FS, 2002, S. 761, 769 f.; ders. StV 2006, 397; Kritik kommt aber etwa auch von Mosbacher Widmaier-FS (Fn. 9 ), S. 339, 343 f. und damit von einem Autor, der Rügepräklusionen wegen der Verletzung von vermeintlichen Mitwirkungsobliegenheiten grundsätzlich positiv gegenübersteht.
[24] Vgl. hierzu und zu den Herleitungen aus dem GG und aus Art. 6 I 1 EMRK knapp Meyer-Goßner (Fn. 8), Einl. Rn. 19, sowie eingehend Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren (2000), passim; Steiner, Das Fairnessprinzip im Strafprozess (1995), passim; insoweit wird betont, dass dem Fair-Trial-Grundsatz Bedeutung insbesondere dann zukommt, wenn die StPO zu einer Frage keine Regelung enthält (vgl. Meyer-Goßner a.a.O.) - dies ist ganz offensichtlich beim Recht der Beweisverwertungsverbote im Allgemeinen sowie beim Widerspruchserfordernis im Besonderen der Fall.
[25] Und sogar den Zeitraum nach ihrem Abschluss bis zum Beginn der Urteilsverkündung, soweit es um die Möglichkeit der Stellung von Beweisanträgen geht, vgl. nur Meyer-Goßner (Fn. 8), § 244 Rn. 33 und § 246 Rn. 1.
[26] Dass es demgegenüber verteidigungstaktisch sinnvoll sein kann, schon vor Einführung des Beweismittels in die Hauptverhandlung zu widersprechen, damit das Beweismittel dort im idealen Fall überhaupt nicht erst "präsentiert" wird, steht auf einem anderen Blatt.
[27] Vgl. OLG Stuttgart NStZ 1997, 405; zust. Meyer-Goßner (Fn. 8), § 136 Rn. 25; krit. LR/Gössel (Fn. 5), Einl. Abschn. L Rn. 32.
[28] Vgl. BGHSt 50, 272 = HRRS 2006 Nr. 40; BayObLG NJW 1997, 404; krit. Fezer JZ 2006, 474 ff; Schlothauer StV 2006, 397 ff.
[29] Vgl. LR/Gössel (Fn. 5), Einl. Abschn. L Rn. 32, auch mit Nachweisen aus der Gesetzgebungsgeschichte.
[30] Vgl. NStZ-RR 2011, 46.
[31] Vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2006, 46, 48.
[32] Zu dieser Differenzierung zwischen Voraussetzungen und Durchsetzbarkeit Jäger (Fn. 1 ), S. 26 f.
[33] Vgl. OLG Hamm StRR 2010, 66 und OLG Karlsruhe StRR 2010, 307.
[34] Vgl. OLG Stuttgart NStZ 1997, 405.
[35] Dem entspricht auch die nicht ungebräuchliche (freilich aus anderen Gründen nicht unproblematische) Deutung des unterlassenen Widerspruchs als "Verwirkung".
[36] Und damit es nach h.M. zu einem Beweisverwertungsverbot kommt: objektiv sogar in gravierendem Maße fehlerhaft!