HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2011
12. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

331. EGMR Nr. 18757/06 – Urteil der 1. Kammer vom 4. November 2010 (Bannikova v. Russia)

Recht auf ein faires Verfahren (Abgrenzung der unzulässigen Tatprovokation von legitimierbaren verdeckten Ermittlungen; Scheinkauf; Anstiftung; agent provocateur; incitement; entrapment; effektive Geltendmachung einer behaupteten Tatprovokation; Einschränkungen des Rechts auf ein faires Verfahren).

Art. 6 EMRK; Art. 8 EMRK; § 110a StPO; § 161 StPO; § 163 StPO

1. Zu den Anforderungen an eine effektive Gelegenheit, eine unzulässige Tatprovokation geltend machen zu können.

2. Zur Zulässigkeit eines Scheinkaufs nach vorherigem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Abgrenzung von legitimierbaren verdeckten Ermittlungen und unzulässigen Tatprovokationen).


Entscheidung

280. BVerfG 2 BvL 12/09 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. November 2010 (LG Itzehoe)

Besonders schwere Brandstiftung (Verfassungsmäßigkeit der Strafdrohung; Systematik der Brandstiftungsdelikte); Gebot schuldangemessenen Strafens (Strafrahmen; gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum); (unzulässige) Richtervorlage (fehlende Entscheidungserheblichkeit; fehlende Berücksichtigung naheliegender Gesichtspunkte).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 100 Abs. 1 GG; § 81a BVerfGG; § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB; § 306a StGB

1. Der Gesetzgeber darf und muss bei der Bemessung des Strafrahmens für einen Straftatbestand von der Typik des von ihm missbilligten Verhaltens ausgehen (BVerfGE 34, 261, 267). Die Festlegung des Strafrahmens beruht auf einem nur in Grenzen rational begründbaren Akt gesetzgeberischer Wertung (BVerfGE 50, 125, 140). Welche Sanktion für eine Straftat - abstrakt oder konkret - angemessen ist und wo die Grenzen einer an der Verfassung orientierten Strafdrohung zu ziehen sind, hängt von einer Fülle von Wertungen ab. Das Grundgesetz gesteht dem Gesetzgeber bei der Normierung von Strafandrohungen deshalb einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Dem trägt das Bundesverfassungsgericht bei der inhaltlichen Überprüfung gesetzlicher Strafdrohungen Rechnung. Es kann in solchen Fällen einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz oder das Übermaßverbot nur dann feststellen, wenn die gesetzliche Regelung - gemessen an der Idee der Gerechtigkeit - zu schlechthin untragbaren Ergebnissen führt (BVerfGE 50, 125, 140). Dies wäre der Fall, wenn sich die angedrohte Strafe nach Art und Maß der strafbewehrten Handlung als schlechthin unangemessen oder gar grausam, unmenschlich oder erniedrigend darstellt (BVerfGE 50, 205, 215 m.w.N.).

2. Dass eine Strafandrohung im Einzelfall unangemessen erscheinen kann, stellt ihre Verfassungsmäßigkeit noch nicht infrage (BVerfGE 34, 261, 267).

3. Zu einer nicht ausreichend begründeten Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB wegen Nichtberücksichtigung relevanter und naheliegender Gesichtspunkte im Rahmen einer Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht.

4. Weder Wortlaut noch Normzweck von § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB legen nahe, Retter aus dem Schutzbereich der Vorschrift herauszunehmen. Vielmehr verwirklicht sich mit der Gefährdung von Rettern ein tatspezifisches Risiko, nämlich die Notwendigkeit von Rettungsaktionen als typisches Gefahrenpotential der Brandstiftung. Ob die Einbeziehung von Rettern in den Schutzbereich von § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB uneingeschränkt gilt, bedarf vorliegend aber keiner Entscheidung.

5. Die nach dem vorgegebenen Rahmen zulässigen Strafen bilden eine Stufenfolge, der die konkret zu beurteilende Tat bei der Zumessung der verwirkten Strafe zugeordnet werden muss, wobei ein Fall mittlerer Schwere seine Entsprechung auch etwa in der Mitte des Strafrahmens haben wird. Da die Mehrzahl der erfahrungsgemäß immer wieder vorkommenden Fälle der betreffenden Straftat nur einen verhältnismäßig geringen Schweregrad erreicht und auch die weit weniger häufigen schweren sowie schwersten Fälle bei der Ermittlung eines Durchschnittswerts der Tatschwere zu berücksichtigen sind, muss der den Regelfall kennzeichnende Wert notwendig in einem Bereich unterhalb der Mitte der vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Tatbestandsverwirklichungen liegen, die er mit der durch Höchst- und Mindeststrafe begrenzten Strafandrohung sämtlich treffen will (BGHSt 27, 2, 4). Auf die Mindeststrafe darf der Richter hingegen nur erkennen, wenn die Schuld an der unteren Grenze der praktisch vorkommenden Durchschnittsfälle liegt (vgl. BGH NStZ 1984, 117).

6. Einer einschränkenden Auslegung von § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB bei der erstrebten Begehung eines Versicherungsbetruges steht weder auf Tatbestandsebene, noch auf der Ebene der Rechtsfolgen der Wille des Gesetzgebers entgegen.


Entscheidung

281. BVerfG 1 BvR 409/09 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 22. Februar 2011 (OLG Köln/LG Köln)

Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Haftunterbringungen; Anspruch auf Rechtschutzgleichheit; Prozesskostenhilfe; (Abweichen von höchstrichterlicher Rechtsprechung bei der Prüfung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung; Abweichen von der üblichen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast; Durchentscheiden einer schwierigen entscheidungserhebliche Rechtsfrage).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 34 GG; § 114 Satz 1 ZPO; § 839 BGB; § 18 Abs. 1 S. 1 StVollzG

1. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347, 356 f.).

2. Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“ werden können (vgl. BVerfGE 81, 347, 359). Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit widerstrebt es daher, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage, obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet, als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347, 359 f.). Ein solcher Verstoß ist erst recht anzunehmen, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht.

3. Zu einer Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit im Zusammenhang mit einem Antrag auf Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Haftunterbringungen.

4. Bei der Belegung und Ausgestaltung der Hafträume sind dem Ermessen der Justizvollzugsanstalt durch das Recht des Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG Grenzen gesetzt. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt die Verpflichtung des Staates, den Strafvollzug menschenwürdig auszugestalten, mithin das Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht (vgl. BVerfGE 45, 187, 228; 109, 133, 150). Die Menschenwürde ist unantastbar und kann deshalb auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Bestimmung wie § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG oder § 144 StVollzG eingeschränkt werden.

5. Als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung der Menschenwürde indizieren, kommen in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, in Betracht, wobei als ein die Haftsituation abmildernder Faktor die Verkürzung der täglichen Einschlusszeiten berücksichtigt werden kann.