HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2009
10. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

360. EGMR Nr. 4378/02 – Urteil der Großen Kammer vom 21. Januar 2009 (Bykov v. Russland)

Recht auf ein faires Verfahren (heimliche Ermittlungsmethoden; Umgehungsverbot; Hörfalle und Täuschung; Schutz der Selbstbelastungsfreiheit; Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel; Beweisverwertungsverbote; V-Mann-Einsatz; verdeckter Ermittler; Konfrontationsrecht; konkrete und wirksame Auslegung; abweichende Sondervoten); Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung (gesetzliche und gesetzeswidrige Eingriffe; Einsatz technischer Abhör- und Aufzeichnungshilfsmittel in Wohnungen bei V-Mann-Einsätzen; Recht am eigenen Wort; Vertraulichkeit); Recht auf Sicherheit und Freiheit (Entscheidung in angemessener Frist; mangelnde spezifische Begründung fortdauernder Untersuchungshaft); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 EMRK; Art. 8 EMRK; Art. 5 Abs. 3 EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 13 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 136a StPO; § 110 StPO

1. Der Einsatz eines technischen Abhör- und Aufzeichnungshilfsmittels in einem privaten Umfeld (hier: der Wohnung eines Beschuldigten) durch einen V-Mann der Ermittlungsbehörden erfordert eine gesetzliche Grundlage, die spezifische und detaillierte Anforderungen an die Zulässigkeit dieser heimlichen Ermittlungsmaßnahme stellt und damit einen hinreichenden Schutz gegen Willkür bietet. Dies gilt auch dann, wenn der V-Mann das aufgezeichnete Gespräch (den Zugang zur Wohnung) mit der Zustimmung des Beschuldigten erlangt, der über die Aufzeichnung nicht informiert ist. Die Prinzipien, die nach der Rechtsprechung des EGMR insbesondere für die heimliche Telekommunikationsüberwachung gelten, gelten analog auch beim Gebrauch von technischen

Hilfsmitteln zur Aufzeichnung des vertraulich gesprochenen Wortes außerhalb der Telekommunikation.

2. Der Gebrauch eines rechtswidrig unter Verletzung anderer Menschenrechte (hier: Art. 8 EMRK) erlangten Beweismittels macht ein Verfahren nicht stets unfair (entschieden mit elf zu sechs Stimmen). Die Entscheidung, ob die Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel das Recht auf ein faires Verfahren verletzt, hängt insbesondere von der Beachtung der übrigen Verteidigungsrechte, von einer Prüfung der rechtswidrigen Erlangung, von der Beweiskraft und Verlässlichkeit des Beweismittels sowie von der Natur der Verletzung eines anderweitigen Rechts der EMRK ab.

3. Die Grundsätze der Allan-Entscheidung zum Schutz der Selbstbelastungsfreiheit in funktionalen Vernehmungen sind nicht gleichermaßen anwendbar, wenn der Beschuldigte noch nicht inhaftiert ist, auf ihn nicht in Vernehmungen Druck hin zu einer Aussage ausgeübt worden ist, und er seinen Willen noch nicht geäußert hat, schweigen zu wollen. Jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte durch die Umstände eines V-Mann-Einsatzes unter keinen Druck gerät, mit dem V-Mann zu sprechen und sich selbst zu belasten, und wenn selbstbelastende Gesprächsaufnahmen zu frei entstandenen Gesprächen nicht unvermittelt als (eine Art) Geständnis zur Urteilsgrundlage gemacht werden, liegt keine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit vor.


Entscheidung

304. BVerfG 2 BvR 1372/07 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. Februar 2009 (LG Halle/Saale/AG Halle-Saalkreis/Staatsanwaltschaft Halle)

Abfrage von Kreditkartendaten in einem Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornographie (Operation „Mikado“); Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Schutzbereich; Eingriff; Normenklarheit; Verhältnismäßigkeit); (keine) Anwendung der Vorschriften über die Rasterfahndung (Anwendung der Generalklausel des § 161 StPO; Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 161 StPO; § 161a StPO; § 98a StPO; § 184b Abs. 4 StGB

1. Die Abfrage von Kreditkartendaten durch die Staatsanwaltschaft stellt – anders als bei den Betroffenen, deren Daten letztlich übermittelt worden sind – keinen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung von Betroffenen dar, deren Kreditkartendaten bei den kreditkartenausgebenden Unternehmen lediglich maschinell geprüft, mangels Übereinstimmung mit den Suchkriterien aber nicht als Treffer angezeigt und der Staatsanwaltschaft daher nicht übermittelt wurden.

2. § 161 Abs. 1 StPO stellt eine verfassungsrechtlich ausreichende gesetzliche Grundlage für die Abfrage von nach bestimmten konkreten Merkmalen spezifizierte Kreditkartendaten dar.

3. Eine Rasterfahndung liegt nicht vor, wenn die Strafverfolgungsbehörde von privaten Stellen Auskünfte zu speziellen Täter-Daten erhält, also nicht die Gesamtdateien zum weiteren Abgleich mit anderen Dateien übermittelt bekommt. Auch eine Suchabfrage in Dateien derselben Speicherstelle ist keine Rasterfahndung. 4. Eine Ermittlungsmaßnahme gestützt auf § 161 Abs. 1 StPO ist nicht allein deswegen unzulässig, weil sie heimlich erfolgt oder weil nicht allgemein zugängliche Daten unter Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erlangt werden.

5. § 161 Abs. 1 StPO steht unter einer strengen Begrenzung auf den Ermittlungszweck der Aufklärung von Straftaten. Auf die Ermittlung anderer Lebenssachverhalte und Verhältnisse erstreckt sich diese Eingriffsermächtigung nicht. Bei einer strafrechtlichen Ermittlung dürfen daher keine Sachverhalte und persönlichen Verhältnisse ausgeforscht werden, die für die Beurteilung der Täterschaft und für die Bemessung der Rechtsfolgen der Tat nicht von Bedeutung sind. Voraussetzung für Ermittlungsmaßnahmen nach § 161 Abs. 1 StPO sind zureichende tatsächliche Anhaltspunkte einer Straftat (§ 152 Abs. 2 StPO). Eine Aufzählung aller kriminalistischen Vorgehensweisen, die von § 161 Abs. 1 StPO erfasst werden, ist dagegen nicht möglich und für Maßnahmen, die mit weniger intensiven Grundrechtseingriffen verbunden sind, auch nicht erforderlich.

6. Die bei Ermittlungsmaßnahmen unvermeidliche Gefahr, dass ein Unschuldiger zunächst verdächtig erscheinen könnte, etwa wenn mit einer gestohlenen Kreditkarte bezahlt wurde, Buchungen falsch gespeichert wurden oder sich ein Kunde bei demselben Anbieter zu demselben Preis nur Zugang zu legalen Inhalten verschafft hat, wird demgegenüber allenfalls wenige Fälle betreffen und führt nicht dazu, dass Daten über Kreditkartenzahlungen nicht zur Grundlage staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gemacht werden dürften.


Entscheidung

303. BVerfG 2 BvR 1082/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 6. Dezember 2008 (BGH/LG Bamberg)

(Unzulässige) Beschränkung der Revision auf die Anordnung des teilweisen Vorwegvollzugs einer Maßregel; Willkürverbot (reformatio in peius; Gleichheitsgrundsatz); Recht auf ein faires Verfahren (Eröffnung einer Rechtsmittelrücknahmemöglichkeit durch sachdienlichen Hinweis); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Erfordernis einer Anhörungsrüge).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 64 Abs. 1 StGB; § 349 Abs. 4 StPO; § 354 Abs. 1 StPO; § 302 StPO; § 356a StPO; § 90 Abs. 2 BVerfGG

1. Die Auffassung des Bundesgerichtshofs (BGH 1 StR 167/08 v. 15. April 2008 = HRRS 2008 Nr. 518), nach der die Beschränkung der Revision auf die Anordnung des teilweisen Vorwegvollzugs unwirksam sei, weil die Frage der Dauer des Vorwegvollzugs nicht losgelöst von der Frage der Anordnung der Maßregel beurteilt werden könne, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Es könnte unter Fairnessgesichtspunkten geboten sein, einen Revisionsführer durch einen sachdienlichen Hinweis ausdrücklich die Möglichkeit zu eröffnen, seine Revision zurückzunehmen (§ 302 StPO), wenn deren

Aufrechterhaltung zu einem von ihm offensichtlich nicht gewollten „Erfolg“ (vorliegend Aufhebung des Maßregelausspruchs und Wegfall der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) führen würde (im Ergebnis wegen mangelnder Anhörungsrüge offen gelassen).


Entscheidung

301. BVerfG 2 BvR 287/09 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 19 Februar 2009 (LG Augsburg/AG Augsburg)

Anordnung molekulargenetischer Untersuchung zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren (Begründungsanforderungen; wiederholte Begehung sonstiger Straftaten); einstweilige Anordnung (irreparabler Rechtsverlust durch Entnahme von DNA-Proben beim bereits längere Zeit straffrei lebenden Betroffenen).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG; § 81 f, § 81 g, § 162 Abs. 1 StPO; § 32 BVerfGG

Im Fall einer Anordnung nach § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO hat das Gericht einzelfallbezogen darzulegen, warum die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichsteht. Ferner bedarf es einer Darlegung positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Weiter erhöhte Begründungsanforderungen bestehen, wenn ein anderes Gericht bereits im Rahmen der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung eine günstige Sozialprognose getroffen hat (vgl. BVerfGE 103, 21, 35 ff.).


Entscheidung

300. BVerfG 2 BvR 2693/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. November 2008 (AG Bochum)

Untätigkeit des Rechtspflegers (Rechtsschutzgarantie; Nichtprotokollierung von Rechtsbeschwerden); Rechtswegerschöpfung (Erinnerung als nicht von vornherein ausgeschlossener Rechtsbehelf).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 11 Abs. 2 RPflG; § 118 Abs. 3 StVollzG

1. Mit der grundrechtlichen Garantie auf effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) wäre es nicht vereinbar, wenn für den Fall, dass ein Handeln oder Unterlassen des zuständigen Rechtspflegers das durch § 118 Abs. 3 StVollzG eingeräumte Recht verletzt, eine Rechtsbeschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle einzulegen, keinerlei gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stände.

2. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine in den Verantwortungsbereich der Justiz fallende verzögerte Protokollierung und die damit verbundene Verweisung des Betroffenen auf den Weg des Wiedereinsetzungsantrages eine Verletzung des durch § 118 Abs. 3 StVollzG eingeräumten verfahrensrechtlichen Anspruchs des Gefangenen darstellt, mit der Folge, dass hiergegen gerichtlicher Rechtsschutz zu gewähren und demgemäß die Erinnerung gemäß § 11 Abs. 2 RPflG als statthaft anzusehen wäre, haben zunächst – unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass eine Grundrechtsverletzung durch Verzögerungen im Justizbetrieb nicht schon durch fehlendes Verschulden der konkret befassten Justizorgane ausgeschlossen wird – die Fachgerichte zu beurteilen.


Entscheidung

299. BVerfG 2 BvR 2341/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 9. Dezember 2008 (BGH/OLG Frankfurt am Main)

Ausschluss eines Pflichtverteidigers (Begünstigung; Weiterleitung von Briefen; Begründungsanforderungen); Berufsfreiheit; Recht auf ein faires Verfahren und Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung (kein Anspruch auf Beibehaltung eines Pflichtverteidigers bei Begünstigungsverdacht).

Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 257 StGB

1. § 138a Abs. 1 StPO ist als solcher verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschluss vom 4. Juli 1975 - 2 BvR 482/75 -, NJW 1975, S. 2341). 2. Der Ausschluss als Verteidiger ist keine Strafe, sondern eine prozessuale Maßnahme, die der Gefahr vorbeugen soll, dass im Strafverfahren ein Verteidiger mitwirkt, der wegen seines Verhaltens außerstande ist, die Verteidigung so wahrzunehmen, wie es seiner Stellung als Beistand des Beschuldigten und als Organ der Rechtspflege entspricht. Der Verteidiger ist aufgrund seiner Beistandsverpflichtung gegenüber dem Beschuldigten zwar gehalten, dessen Interessen umfassend wahrzunehmen, darf sich jedoch in keinem Fall mit unerlaubten Mitteln der Wahrheitsfindung hindernd in den Weg stellen und hat die Verteidigung den Zwecken des Strafverfahrens entsprechend zu führen. Dies tut er nicht, wenn sein Verhalten den Tatbestand der strafbaren Begünstigung seines Mandanten erfüllt.

3. Die Anwendung des § 138a StPO begründet selbst dann, wenn die Vorschrift auf den Pflichtverteidiger nicht anwendbar sein sollte, keinen Grundrechtsverstoß, weil das Ausschließungsverfahren höhere Anforderungen als an die einfache Rücknahme der Bestellung zum Pflichtverteidiger statuiert.

4. Da im Rahmen der Beurteilung einer fairen Verfahrensgestaltung in einer Gesamtschau auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen sind (vgl. BVerfGE 47, 239, 250; 80, 367, 375), besteht für den Beschuldigten kein bindender Anspruch auf Beiordnung eines bestimmten Rechtsbeistandes (vgl. BVerfGE 9, 36, 38) und auch kein Recht, dass der Pflichtverteidiger seines Vertrauens stets im Verfahren verbleibt ohne Rücksicht auf mögliches zweckfremdes Verteidigungsverhalten (vgl. BVerfGE 39, 238, 243).


Entscheidung

298. BVerfG 2 BvR 1032/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 2. März 2009 (KG Berlin)

Garantie des gesetzlichen Richters im strafprozessualen Revisionsrecht (Divergenzvorlage; Willkür); Diebstahl (gefährliches Werkzeug; Taschenmesser; Be-

wusstsein vom Vorhandensein während der Tat); allgemeines Willkürverbot.

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; § 121 Abs. 2 GVG; § 242 Abs. 1 StGB; § 244 Abs. 1 Nr. 1 a StGB; § 15 StGB

1. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG mit der Begründung verneint wird, dass Rechtsfrage nicht nur für die beabsichtigte eigene Entscheidung, sondern auch für die frühere(n) Entscheidunge(n) erheblich sein muss.

2. Das Bundesverfassungsgericht prüft nicht im Einzelnen nach, ob eine entscheidungserhebliche Divergenz vorlag; entscheidend ist vielmehr, ob der angegriffene Beschluss sich mit den als divergierend in Betracht kommenden Entscheidungen auseinander setzt und nachvollziehbar begründet, warum mit Rücksicht auf den anderen Sachverhalt eine entscheidungserhebliche Abweichung nicht vorliegen soll (vgl. BVerfGE 101, 331, 360).