HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2006
7. Jahrgang
PDF-Download

III. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

533. BGH 1 StR 57/06 - Beschluss vom 9. Mai 2006 (OLG Karlsruhe)

BGHSt; (keine) Revisionserstreckung bei Revisionsausschluss gemäß § 55 Abs. 2 JGG (analoge Anwendung; Bindung der Erstreckung an einen Widerspruch bzw. an eine Zustimmungslösung); redaktioneller Hinweis.

§ 121 Abs. 2 GVG; § 357 StPO; § 55 Abs. 2 JGG

1. § 357 StPO ist nicht zu Gunsten eines früheren Mitangeklagten anwendbar, für den die Revision wegen § 55 Abs. 2 JGG unzulässig war. (BGHSt)

2. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Vorschrift des § 357 StPO auch zu Gunsten von früheren Mitangeklagten anzuwenden, die Revision eingelegt haben, wenn sie die Revision später zurückgenommen haben (vgl. BGH NJW 1996, 2663, 2665), ihre Revision auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt haben (vgl. BGH NJW 1954, 441) oder sie nicht zulässig begründet haben (vgl. BGHR StPO § 338 Nr. 7 Entscheidungsgründe 2). (Bearbeiter)

3. Die Rechtsnatur des § 357 StPO als einer rechtskraftdurchbrechenden Ausnahmeregelung verbietet zwar nicht von Vornherein jede erweiternde Auslegung oder Analogie, legt es aber nahe, von seiner Anwendung nur zurückhaltend Gebrauch zu machen. (Bearbeiter)


Entscheidung

545. BGH 4 ARs 3/06 - Beschluss vom 3. Mai 2006

Anfrageverfahren zur Rügeverkümmerung (Erheblichkeit einer Protokollberichtigung nach erhobener Verfahrensrüge; Gewohnheitsrecht; Kontinuität der Rechtsprechung); Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls: Ergänzung im Wege des Freibeweisverfahrens; Wahrheit im Strafverfahren); Zulässigkeit des Anfrageverfahrens (Entscheidungserheblichkeit); unterbliebene Verlesung des Anklagesatzes (Beruhen; einfach gelagerte Fälle).

§ 274 StPO; Art. 6 EMRK; § 132 Abs. 3 GVG; § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, die der vom 1. Strafsenat beabsichtigten Entscheidung entgegensteht. Danach darf eine Protokollberichtigung, durch die einer zulässigen Verfahrensrüge zum Nachteil des Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen würde, bei der Revisionsentscheidung nicht berücksichtigt werden.

2. Der Beschleunigungsgrundsatz findet dort seine Grenze, wo das insgesamt ausgewogene - gerade auch dem Schutz des Angeklagten dienende - Rechtsmittelrecht der Rechtskraft der Entscheidung entgegensteht (vgl. BGH StV 2006, 237, 238 f.; 241 f.).

3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beruht das Urteil bei einem einfach gelagerten Sachverhalt nicht auf der unterbliebenen Verlesung des Anklagesatzes (vgl. nur BGH NStZ 1982, 431, 432; 1991, 28; 1995, 200, 201; 2000, 214).

4. Die Kontinuität der Rechtsprechung, das auf ihr beruhende Vertrauen der Rechtsunterworfenen und der Rechtsanwender, die Sache werde nach denselben Maßstäben entschieden, die bisher galten, ist ein eigener Wert. Dieser allgemeine Grundsatz wurzelt in dem Gedanken der Rechtssicherheit, die wesentliches Element der rechtstaatlichen Praxis ist. Die Änderung einer ständigen Rechtsprechung setzt daher voraus, dass schwerwiegende Gründe dafür sprechen müssen (vgl. BVerfGE 19, 38, 47; BGH [1.Strafsenat] StV 2000, 670, 674).


Entscheidung

513. BGH 2 ARs 53/06 - Beschluss vom 31. Mai 2006

Anfrageverfahren; Rügeverkümmerung nach Protokollberichtigung (Beweiskraft des Hauptverhandlungsproto-

kolls; besonderes Freibeweisverfahren; Recht auf Verfahrensbeschleunigung und Beschleunigungsgrundsatz); Verfahrensrüge (Wegfall der Tatsachengrundlage).

§ 274 StPO; § 132 Abs. 3 GVG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Der Senat stimmt der Rechtsansicht des anfragenden 1. Strafsenats zur Protokollberichtigung zu. Er gibt entgegenstehende eigene Rechtsprechung auf.

2. Das Gebot der Verfahrensbeschleunigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK erfordert, dass im Falle einer Protokollberichtigung in der Revisionsinstanz das berichtigte, von den Unterschriften der Urkundspersonen gedeckte Protokoll zugrunde zu legen ist und nicht ein von den Verantwortlichen als unrichtig bezeichnetes, das zu einer unnötigen Aufhebung des Urteils führen würde.

3. Im Falle einer Protokollberichtigung gilt die absolute Beweiskraft für das berichtigte Protokoll.


Entscheidung

561. BGH 5 ARs 13/06 - Beschluss vom 9. Mai 2006

Rügeverkümmerung; Recht auf ein faires Verfahren.

Art. 6 EMRK; § 274 StPO

Der 5. Strafsenat tritt einer Änderung der ständigen Rechtsprechung zur Protokollberichtigung ("Rügeverkümmerung") mehrheitlich entgegen: Er wird seine diesbezügliche Rechtsprechung nicht ändern.


Entscheidung

526. BGH 3 StR 429/05 - Beschluss vom 25. April 2006 (LG Krefeld)

Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs (fehlende Begründung; völlig ungeeignete Begründung; Entscheidung in eigener Sache; Verspätung; Austausch des Zurückweisungsgrundes durch das Revisionsgericht; Verschleppungsabsicht; Missbrauch); gesetzlicher Richter (faires Verfahren); redaktioneller Hinweis.

§ 26a StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 338 Nr. 3 StPO

1. Der fehlenden Begründung eines Ablehnungsgesuchs wegen Besorgnis der Befangenheit wird in ständiger Rechtsprechung der Fall gleichgestellt, dass die Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet ist. Bei der Prüfung, ob die für eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gegebene Begründung in dem genannten Sinne völlig ungeeignet ist, muss im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch ein strenger Maßstab angelegt werden. Eine Begründung ist jedenfalls dann nicht völlig ungeeignet, wenn der Richter zur Prüfung sein eigenes Verhalten beurteilen und somit eine Entscheidung in eigener Sache treffen muss.

2. An die Auslegung des Begriffs "unverzüglich" im Sinne des § 26 a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist im Interesse einer zügigen Durchführung des Verfahrens ein strenger Maßstab anzulegen. Die Ablehnung muss zwar nicht "sofort", aber "ohne schuldhaftes Verzögern", d. h. ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerungen geltend gemacht werden. Durch die Sachlage begründet ist eine Verzögerung, die dadurch entsteht, dass der Antragsteller, nachdem er Kenntnis vom Ablehnungsgrund erlangt hat, eine gewisse Zeit zum Überlegen und zum Abfassen des Gesuchs benötigt.

3. Ist eine Äußerung der Vorsitzenden Anlass zur Stellung eines Befangenheitsantrages, die gefallen ist, nachdem bereits die Schlussvorträge gehalten worden waren und nach der nur noch das letzte Wort des Angeklagten ausstand, handelt der Angeklagte nur noch dann "unverzüglich" i. S. v. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO, wenn er seine Entschließung über die Ablehnung trifft und ggf. die Ablehnung erklärt, bevor er von dem Recht zum letzten Wort Gebrauch macht oder darauf verzichtet. Das bedeutet nicht, dass er die Ablehnung sofort erklären muss. Dem Angeklagten ist auch in dieser Situation eine angemessene Zeitspanne zum Überlegen und zur Beratung mit seinem Verteidiger einzuräumen. Erforderlich und zumutbar ist es aber, dass der Angeklagte nunmehr zumindest eine Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragt, um sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen und sich mit seinem Verteidiger zu beraten.


Entscheidung

535. BGH 4 StR 131/06 - Beschluss vom 11. Mai 2006 (LG Halle)

Kein Teilfreispruch bei nicht auszuschließender Tateinheit; Anwesenheit des Angeklagten und Ausschließung bei der Vernehmung (absoluter Revisionsgrund; wesentlicher Teil der Hauptverhandlung; Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung eines als Geschädigter vernommenen Zeugen; Ausschluss des Beruhens im Einzelfall; Auswirkung der Nichtvereidigung als Regelfall); Konfrontationsrecht (Fragerecht).

§ 267 StPO; § 247 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 59 StPO; § 60 StPO

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehören die Verhandlung über die Vereidigung ebenso wie die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen nicht mehr zu dessen Vernehmung, sondern bilden einen selbständigen Verfahrensabschnitt. Danach ist in der Regel der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben, wenn der Angeklagte während dieser Verhandlungsteile von der Hauptverhandlung ausgeschlossen war (vgl. BGHSt 26, 218; BGH NStZ 2000, 440; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 19, 20 und StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 25).

2. Der absolute Revisionsgrund kann jedoch trotz förmlicher Erfüllung seiner Voraussetzungen (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 25) bei Besonderheiten des Verfahrensgangs im Zusammenhang mit der Vernehmung ausscheiden. Es kann unter Umständen ausnahmsweise jegliches Beruhen des Urteils auf der bloßen Abwesenheit des Angeklagten während der Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des Zeugen denkgesetzlich ausgeschlossen werden (vgl. BGHR StPO § 338 Beruhen 1 und StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Besetzungsrüge 6). Zu einem solchen Einzelfall, in dem insbesondere eine Simultanvideoübertragung erfolgte, eine Vereidigung nicht beantragt wurde und in dem die Verteidigung auf eine

weitere Befragung des betroffenen Zeugen verzichtet hatte.


Entscheidung

537. BGH 4 StR 40/06 - Beschluss vom 3. Mai 2006 (LG Paderborn)

Verwertungsverbot bei im Einzelfall unzureichender Belehrung über ein bestehendes Zeugnisverweigerungsrecht (fortdauernde Schwägerschaft; Beruhen mit Blick auf das hypothetische Aussageverhalten des betroffenen Zeugen: Anschluss als Nebenkläger und Antrag, die Revision des Angeklagten zu verwerfen).

§ 52 Abs. 3 StPO; § 337 StPO; § 1590 Abs. 1, Abs. 2 BGB

1. Ein unter Verwendung eines Vordrucks gegebener und abstrakt gehaltener Hinweis auf die Vorschrift des § 52 Abs. 1 StPO kann im Einzelfall eine unzureichende Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht sein. Zwar steht die Art und Weise der Belehrung gemäß § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO im Ermessen des vernehmenden Richters, beim Kollegialgericht also des Vorsitzenden (vgl. BGHSt 9, 195, 197). Allerdings wird sich in der Regel der Fälle eine Belehrung nach den Angaben zur Person anbieten, weil sich häufig aus den persönlichen Daten das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts erst ergibt (vgl. BGH StV 1984, 405). Die Belehrung muss so klar und sachgemäß sein, dass der Zeuge das Für und Wider seiner Entscheidung abwägen kann (vgl. BGH StV 1984, 405). Hierfür kann es ausreichen, dass ein Zeuge darauf hingewiesen wird, dass er ein Zeugnisverweigerungsrecht habe, "falls" er zu den in § 52 Abs. 1 StPO bezeichneten Angehörigen des Angeklagten gehöre (vgl. BGHSt 32, 25, 30 f.). Dies gilt jedoch nur, wenn der Zeuge eine solche Belehrung für den auf ihn zutreffenden Fall erhält, dass er Angehöriger des Angeklagten ist (vgl. BGHSt 32, 25, 31). Daran kann es fehlen, wenn der Zeuge davon ausgegangen ist, dass er nicht mehr der Stiefsohn des Angeklagten sei.

2. Dass der betroffene Zeuge nun als Nebenkläger die Verwerfung der Revision des Angeklagten beantragt hat, muss für die Frage, ob ein Urteil auf einer rechtsfehlerhaften Nichtbelehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht beruht, außer Betracht bleiben, die grundsätzlich nur aufgrund der Urteilsgründe und des bis zur Urteilsverkündung entstandenen Akteninhalts beantwortet werden kann (vgl. BGH StV 2002, 3; BGHR StPO § 52 Abs. 3 Satz 1 Verletzung 3).


Entscheidung

532. BGH 1 StR 37/06 - Urteil vom 9. Mai 2006 (LG München)

Aufklärungsrüge (Abgrenzung von der Rüge der mangelnden Verwertung eines in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismittels); Beweiswürdigung (Lückenhaftigkeit; Zweifelsgrundsatz: in dubio pro reo als Entscheidungsregel, Gesamtwürdigung; Erörterungsmangel).

§ 244 Abs. 2 StPO; § 261 StPO

1. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 24, 27). Es ist daher verfehlt, ihn isoliert auf einzelne Indizien anzuwenden; er kann erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung zum Tragen kommen (vgl. BGHSt 49, 112, 122 f.; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 20; NStZ-RR 2004, 238, 239).

2. Die Nichtverwertung von eingeführten Beweismitteln ist nicht mit der Aufklärungsrüge, sondern vielmehr mit einer Rüge der Verletzung des § 261 StPO zu beanstanden, die darauf zielt, dass der Tatrichter nicht das gesamte Ergebnis der Hauptverhandlung seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat.


Entscheidung

515. BGH 3 StR 23/06 - Urteil vom 11. Mai 2006 (LG Osnabrück)

Freisprechendes Urteil (Begründungspflicht; lückenhafte Beweiswürdigung); Mittäterschaft (Abgrenzung zur Beihilfe); Anordnung der Telefonüberwachung (richterlicher Beurteilungsspielraum).

§ 267 StPO; § 25 StGB; § 27 StGB; § 100a StPO

1. Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, wenn sich das Urteil im Rahmen der zur Schuldfrage erforderlichen Gesamtwürdigung nicht mit allen wesentlichen Indizien auseinandergesetzt hat, die geeignet sind, das Beweisergebnis zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen.

2. Ob ein Tatbeteiligter eine Tat als Täter oder Gehilfe begeht, ist in wertender Betrachtung nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können sein der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft, so dass Durchführung und Ausgang der Tat maßgeblich auch von seinem Willen abhängen.


Entscheidung

505. BGH 2 StR 61/06 - Beschluss vom 26. April 2006 (LG Aachen)

Gleichartige Tateinheit (Urteilsformel); Angemessenheit der Rechtsfolge.

§ 260 Abs. 4 StPO; § 354 Abs. 1a StPO

Bei gleichartiger Tateinheit ist in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen, wie oft der Tatbestand verwirklicht wurde.