HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 349
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 457/05, Urteil v. 23.02.2006, HRRS 2006 Nr. 349
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 14. Juni 2005 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen 103 Fällen gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige (§ 29a Abs. 1 Nr. 1, § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG), wegen 29 Fällen des (gewerbsmäßigen) Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG) und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur umfassenden Aufhebung des Urteils.
1. Das fristgerecht (§ 341 Abs. 1 StPO) eingelegte Rechtsmittel ist zulässig. Der vom Angeklagten im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht erweist sich als unwirksam.
a) Ein Rechtsmittelverzicht ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 12 m.w.N.). Die Rechtsprechung erkennt allerdings Ausnahmen von diesem Grundsatz an. In Betracht kommen namentlich drei Fallgruppen, die zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führen können: Schwerwiegende Willensmängel (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 17, 18 m.w.N.), vorangegangene Urteilsabsprachen ohne anschließende qualifizierte Rechtsmittelbelehrung (vgl. BGH - Großer Senat für Strafsachen [GS] - NJW 2005, 1440, zum Abdruck in BGHSt 50, 40 bestimmt) und sonstige Umstände der Art und Weise des Zustandekommens des Rechtsmittelverzichts (BGHSt 45, 51). Hier liegt ein Unwirksamkeitsgrund der dritten Fallgruppe - unter Berücksichtigung der zur zweiten Fallgruppe entwickelten Grundsätze - vor.
b) Die Revision macht allerdings geltend, es habe eine Urteilsabsprache vorgelegen; da dem Angeklagten gleichwohl keine qualifizierte Belehrung über seine fortbestehende Rechtsmittelbefugnis erteilt worden sei, sei der Rechtsmittelverzicht unwirksam. Nach dem Hauptverhandlungsprotokoll (vgl. § 274 StPO; hierzu BGH - GS - aaO S. 1446) ist zwar weder eine solche qualifizierte noch überhaupt eine Rechtsmittelbelehrung erteilt worden. Indes ist nicht der Nachweis erbracht worden, dass dem Verfahren eine verfahrensbeendende Absprache im Sinne der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zugrunde lag:
aa) Nach den Erklärungen, die zum Ablauf der Hauptverhandlung von den daran mitwirkenden Berufsrichtern, dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und der Pflichtverteidigerin - von dieser insbesondere auch in der Revisionshauptverhandlung - abgegeben worden sind, steht zur Überzeugung des Senats folgender Sachverhalt fest: Die Verteidigerin war ursprünglich bestrebt, über eine Anwendung des § 31 BtMG eine Bewährungsstrafe für den Angeklagten zu erreichen, der freilich vor der Hauptverhandlung noch keinerlei Sacheinlassung abgegeben hatte. Bei einem Vorgespräch hatte der Strafkammervorsitzende eine Anwendung des § 31 BtMG, dessen Grundlagen gegebenenfalls in Aussetzung der Hauptverhandlung überprüft werden könnten, für erwägenswert erachtet.
Indes erfuhr die Verteidigerin vor Beginn der Hauptverhandlung, dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ein solches Vorgehen für unvertretbar halte, die Staatsanwaltschaft aber im Fall eines Geständnisses mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten "leben könne".
Daran anschließend erkundigte sich die Verteidigerin bei dem Strafkammervorsitzenden "nach der Strafvorstellung des Gerichts" und erfuhr von ihm, dass "die Kammer bei einer geständigen Einlassung des Angeklagten eine Strafe in Erwägung ziehe, die drei Jahre und sechs Monate nicht übersteige". Der beisitzende Richter nahm diese Äußerung wahr.
Nach Verlesung der Anklage und Belehrung über die Einlassungsfreiheit erklärte sich der Angeklagte aussagebereit; er wurde vom Strafkammervorsitzenden gesondert "auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses hingewiesen sowie ergänzend gemäß § 31 BtMG belehrt". Eine daran anschließende, von der Verteidigerin erbetene Verhandlungspause von 25 Minuten nutzte diese zur Besprechung mit dem Angeklagten. Unmittelbar danach gab sie zunächst eine - nicht näher protokollierte - Erklärung zur Sache ab, deren Inhalt sich sodann der Angeklagte "zu Eigen machte". Im weiteren Verlauf der nach der Unterbrechung bis zum Beginn der Urteilsberatung eine halbe Stunde dauernden Hauptverhandlung sind - abgesehen von Prozesserklärungen, Verlesungen, einer Teileinstellung und den Schlussvorträgen - lediglich Äußerungen des Angeklagten zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen protokolliert.
Der Staatsanwalt beantragte in seinem Schlussvortrag die Verurteilung des Angeklagten zu drei Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe.
Die Verteidigerin schloss sich diesem Antrag an. Nach Verkündung des Urteils, in dem eben diese in den Vorgesprächen bezeichnete, übereinstimmend beantragte Strafe verhängt wurde, erfolgte ohne Rechtsmittelbelehrung und ohne dass dem Angeklagten ausweislich des Protokolls ausdrücklich Gelegenheit zur Rücksprache mit seiner Verteidigerin gegeben wurde, sofort allseitiger Rechtsmittelverzicht.
bb) Damit liegt weder eine ausdrückliche noch eine konkludente verfahrensbeendende Absprache vor: Die Berufsrichter, die ihr Verhalten nicht als Urteilsabsprache bewerten, haben eine einzuhaltende bindende Zusage ausdrücklich nicht abgegeben, die Pflichtverteidigerin hat eine solche - ungeachtet ihrer begründeten Hoffnung, das angesprochene, von ihr letztlich als für ihren Mandanten günstig gewertete Verhandlungsergebnis zu erreichen - auch selbst dem Prozessverlauf nicht entnommen. Weder sind die Schöffen nachweislich in eine Urteilsabsprache einbezogen worden, noch ist ein Verständigungsergebnis in öffentlicher Hauptverhandlung in Gegenwart aller betroffenen Prozessbeteiligten ausdrücklich angesprochen worden. Auf Einhaltung der für eine Urteilsabsprache von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aufgestellten Formerfordernisse (BGHSt 43, 195) vor Abgabe eines Geständnisses hat die Verteidigerin jedenfalls nicht nachdrücklich gedrängt. Damit sind letztlich nur unverbindliche Vorgespräche erwiesen, die freilich im Anschluss zu einem weitgehend konsensualen Vorgehen aller Verfahrensbeteiligter geführt haben. Infolge des überwiegend informellen Vorgehens fehlte es gleichwohl noch an einer von allen Beteiligten verbindlich gewollten verfahrensbeendenden Absprache (vgl. hierzu BGHR StPO vor § 1/faires Verfahren - Vereinbarung 14).
c) Der Rechtsmittelverzicht ist allerdings wegen folgender, auch vom Gericht zu verantwortender Umstände seines Zustandekommens unwirksam: Im Vorfeld der Hauptverhandlung kam es zum Austausch übereinstimmender Vorstellungen über die Höhe der Strafe für den Fall, dass der Angeklagte ein Geständnis ablegt. Diese Umstände wurden jedoch nicht in öffentlicher Hauptverhandlung erörtert. Dies wäre aus Gründen der Fairness und Transparenz bei dem Ausmaß der bei den Vorgesprächen erzielten übereinstimmenden Vorstellungen und angesichts des hiernach abgeleisteten Geständnisses geboten gewesen (vgl. BGHSt 43, 195, 205 f.). Vielmehr wurde auf der von allen Beteiligten lediglich außerhalb der Hauptverhandlung geschaffenen weitgehend konsensualen Grundlage nach als geständige Einlassung des Angeklagten gewerteter Verteidigererklärung die Hauptverhandlung deutlich verkürzt durchgeführt. Unmittelbar nach Urteilsverkündung hat das Gericht den Rechtsmittelverzicht des Angeklagten entgegengenommen, obgleich es ihn weder gemäß § 35a StPO über sein Recht belehrt hatte, Rechtsmittel gegen dieses Urteil einzulegen, noch ihm zuvor ausdrücklich Gelegenheit zur Rücksprache mit seiner Verteidigerin zur Beratung über einen Rechtsmittelverzicht gegeben hatte (vgl. zu alledem BGH - GS - aaO S. 1445 f.).
Dem Senat unterliegen damit folgende Umstände zur Würdigung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (vgl. auch BGH NStZ 2004, 636): fehlende Transparenz von übereinstimmenden Willensbekundungen von Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung über die Strafhöhe; Belehrung gemäß § 31 BtMG nach Austausch der Auffassungen von Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung darüber, dass eine Anwendung dieser Norm ausgeschlossen ist; Abgabe eines Geständnisses in Kenntnis der Vorstellungen von Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung über die Strafhöhe; fehlende Rechtsmittelbelehrung; Entgegennahme eines Rechtsmittelverzichts ohne ausdrückliche Gewährung einer Gelegenheit zur Beratung mit der Verteidigerin.
Zwar ist jeder dieser Umstände für sich gesehen noch nicht geeignet, die Unwirksamkeit der Prozesserklärung des Rechtsmittelverzichts zu begründen (vgl. Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 302 Rdn. 23 ff. m.w.N.). Jedoch ergibt sich solches vorliegend aus dem in seiner Gesamtheit durchgreifend bedenklichen Vorgehen des Gerichts, das damit im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelverzicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen hat.
Diese Wertung folgt auch aus den Erwägungen des Großen Senats für Strafsachen: Danach ist im Interesse der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren und aus Gründen der "Verfahrenshygiene" eine strikte Zurückhaltung des Gerichts bei der Förderung eines Rechtsmittelverzichts nach einem Hinwirken auf ein Geständnis des Angeklagten in Erwartung eines in Aussicht gestellten Verfahrensergebnisses geboten. Die trotz ausschließlich informeller Ausgestaltung eingehenden Vorgespräche und die hiermit verbundene Beeinflussung des Prozessverhaltens des Angeklagten verlangen für die Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts eine ähnliche Bewertung wie bei einer Urteilsabsprache. Hier hat der Angeklagte die Anklagevorwürfe in Kenntnis der übereinstimmenden Vorstellungen von Staatsanwaltschaft, Gericht und seiner Verteidigerin über die Strafhöhe eingestanden.
Nach der Verkündung des damit ebenfalls übereinstimmenden Urteils befand sich der Angeklagte in einer vom Gericht mitverursachten Gefahr, einen Rechtsmittelverzicht als folgerichtigen und unvermeidlichen Abschluss des überaus kurzen Hauptverfahrens zu akzeptieren. Dies machte wenigstens die Erteilung der von § 35a StPO vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung und die Einräumung einer Beratung mit der Verteidigerin vor Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Fairnessgründen unerlässlich, um dem Angeklagten seine ungeachtet des Prozessablaufs uneingeschränkte Rechtsmittelbefugnis zu verdeutlichen.
2. Die damit zulässige Revision hat auch umfassend Erfolg.
a) Zu den Verfahrensrügen merkt der Senat an:
aa) Die Rüge eines - ersichtlich zu Unrecht behaupteten - Verstoßes gegen § 136a StPO durch Ankündigung einer Verhaftung des Angeklagten für den Fall der Verweigerung eines Geständnisses oder durch Aufzeigen einer allzu beträchtlichen "Sanktionsschere" hat die Wahlverteidigerin in der Revisionshauptverhandlung nicht aufrechterhalten.
bb) Bei der Divergenz zwischen den Charakterisierungen des Geständnisses im Urteil (UA S. 7, 10) und dem protokollierten Ablauf der Hauptverhandlung liegt nicht ganz fern, dass die auf Verletzung des § 261 StPO gestützte Verfahrensrüge wegen eines für den Schuldspruch allein nicht tragfähigen Geständnisses durchgreifen würde (vgl. BGHR StPO § 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 25). Dies bedarf indes keiner Entscheidung.
b) Zur Urteilsaufhebung führt jedenfalls die Sachrüge.
Mit der Annahme von 132 (richtig: 126, UA S. 11 f.) real konkurrierenden Taten des Verkaufs von Einzelmengen von einem bis zu 50 Gramm Marihuana zwischen Herbst 2002 und Herbst 2004 an überwiegend jugendliche Abnehmer übersieht das Landgericht die Möglichkeit einer Zusammenfassung von Einzelverkaufshandlungen zur Tateinheit durch den vorausgegangenen Erwerb einer größeren zum Weiterverkauf bestimmten Rauschgiftmenge.
Die Möglichkeit einer so begründeten Bewertungseinheit (vgl. auch für Verbrechen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG: BGH NStZ 2004, 109 m.w.N.) - oder mehrerer Bewertungseinheiten - lag hier auf der Hand, und zwar schon angesichts der Einzelverkäufe aus einem Ladengeschäft heraus, insbesondere aber auf Grund der abschließenden Sicherstellung einer zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmten Menge von über 130 Gramm Marihuana (Gegenstand des Schuldspruchs nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG).
Ersichtlich war die Strafkammer fixiert auf die Anklagefassung, an der sich das Urteil bis auf eine geringfügige Teileinstellung vollständig - bis hin zu dem erwähnten Zählfehler - orientiert, und auf den beschrittenen Weg informeller Verständigung; dies ist in Fällen, in denen Verständigungsanläufe nicht auf der notwendigen Basis gründlicher Durcharbeitung der Sache erfolgen, immer wieder zu beobachten (vgl. dazu Widmaier NJW 2005, 1985, 1986). Die Strafkammer hat danach die gebotene, hier vor etwa notwendigen Schätzungen zunächst durch Befragung des aussagewilligen Angeklagten ohne weiteres mögliche Sachaufklärung unterlassen, die zur rechtlich zutreffenden Beurteilung der gesamten angeklagten Straftaten unerlässlich war.
Hierauf beruht eine unhaltbare Beurteilung der Konkurrenzen. Allein durch die Annahme von 103 tatmehrheitlichen, jeweils auch bei kleinsten Verkaufsmengen nicht minder schweren Verbrechen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 BtMG, daneben von 29 (richtig: 23, s. o.) tatmehrheitlichen, entsprechend auch bei kleinsten Verkaufsmengen besonders schweren Vergehen nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BtMG wird der Angeklagte auch beschwert. Feststellungen des Landgerichts auch nur teilweise aufrechtzuerhalten, hält der Senat bei der hier zur Überprüfung gestellten Verfahrensweise nicht für angezeigt.
[Redaktioneller Hinweis: Zum defizitären Umgang des Bundesgerichtshofs mit der Verfahrensfairness und der Dogmatik des Rechtsmittelverzichts gerade im Kontext der Verfahrensabsprachen bereits Frank Meyer HRRS 2005, 235 ff. m.w.N.]
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 349
Externe Fundstellen: NStZ 2006, 464; StV 2006, 292
Bearbeiter: Karsten Gaede