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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 882

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 624/23, Urteil v. 06.06.2024, HRRS 2024 Nr. 882


BGH 5 StR 624/23 - Urteil vom 6. Juni 2024 (LG Bremen)

Anforderungen an die Beweiswürdigung beim freisprechenden Urteil; lückenhafte Beweiswürdigung zur Notwehr.

§ 261 StPO; § 32 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 10. Juli 2023 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung, den Angeklagten S. überdies vom Vorwurf eines tateinheitlich begangenen versuchten Mordes freigesprochen. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft hinsichtlich aller Angeklagten mit jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen, die vom Generalbundesanwalt vertreten werden. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am 3. Dezember 2022 besuchten die Angeklagten als Zuschauer eine Kampfsportveranstaltung. Der Geschädigte A. war deren Mitorganisator. Möglicherweise gehörte auch er - so wie jedenfalls die Angeklagten - der Gruppierung „Hells Angels“ an. Nach dem Eintreffen der insgesamt rund zehnköpfigen Gruppe um die Angeklagten stellte sich heraus, dass für sie im „VIP-Bereich“ der Veranstaltungshalle zu wenig Plätze vorgesehen waren. Auf Verlangen der Gäste wurde der Geschädigte hinzugerufen. Zwischen ihm und der Gruppe um die Angeklagten entspann sich eine verbale Auseinandersetzung, die sich zu wechselseitigen Beleidigungen hochschaukelte.

Als der Angeklagte P. in Richtung des Geschädigten „ich ficke deine Mutter“ oder „ich ficke dich“ rief, stürmte dieser mit erhobener Faust auf ihn zu, um ihn zu schlagen und zu treten. Dabei war der Geschädigte, ein ehemaliger Weltmeister im Thai- und Kickboxen, noch immer gut trainiert und als Boxtrainer aktiv, dem Angeklagten P. körperlich deutlich überlegen. Er wurde jedoch sogleich von mehreren Personen aus der Gruppe rund um die Angeklagten eingekreist und auch geschlagen; es ergab sich eine unübersichtliche und hochdynamische Situation.

In die beginnende körperliche Auseinandersetzung brachte sich nun aus der Gruppe um die Angeklagten auch der Zeuge Ö. ein. Er zog sich binnen kurzer Zeit eine stark blutende Schnittwunde am Daumen der linken Hand zu, wobei die Strafkammer die genauen Umstände nicht aufzuklären vermochte; er wirkte mit der rechten Hand mit wutverzerrtem Gesichtsausdruck weiter auf den Geschädigten ein. Währenddessen standen die Angeklagten S. und W. wenige Meter entfernt mit Blickrichtung zum Geschehen; sie bekamen die Auseinandersetzung und „wahrscheinlich“ auch die Verletzung des Ö. mit. Anschließend bahnte sich der Angeklagte S. mit einem Messer in seiner rechten Hand seinen Weg durch das tumultartige Geschehen in Richtung des Geschädigten.

Der Kampf verlagerte sich nun vom vorderen in den hinteren Bereich der VIP-Lounge. Dort begann nach einem Gerangel des Geschädigten mit dem Angeklagten P. der Angeklagte W., mittels seines linken Armes mit äußerst kraftvoll ausgeführten Hieben „mehr oder weniger senkrecht“ von oben in die Richtung des unter ihm befindlichen Geschädigten einzuschlagen, während der Angeklagte P. versuchte, diesen festzuhalten. Obwohl W. 16-mal „mit voller Wucht“ auf den gebückt stehenden Geschädigten einhieb und P. ihn herunterdrückte, ging der Geschädigte weder zu Boden, noch fügte er sich in die Situation der personellen Übermacht.

Nun erreichte der Angeklagte S. den Geschädigten und versetzte ihm in kurzer Abfolge drei Stiche mit einem Messer in die Rücken- und Seitengegend, wobei er billigend in Kauf nahm, den Geschädigten hierdurch tödlich zu verletzen. Gleichwohl gelang es dem Geschädigten auch nach den Stichen noch, den Oberkörper des Angeklagten P. hinunterzudrücken, indem er seine Hände auf dessen Schulter drückte.

Nach Intervention einer unbekannt gebliebenen Person, die sich auf einem Tisch stehend in das Kampfgeschehen beugte und die Beteiligten auseinanderschob, löste sich die Auseinandersetzung auf. Die Angeklagten verließen mit ihrer Gruppe den Veranstaltungsort, während der Geschädigte, der aus eigener Kraft aufrecht gehen konnte, bis zum Eintreffen der Rettungskräfte vorläufig medizinisch versorgt wurde. Er zog sich drei Stichwunden, zwei neben der Wirbelsäule im oberen Rückenbereich und eine an der unteren linken Flanke zu. Wegen der Gefahr eines erheblichen Blutverlusts und der Entwicklung eines Pneumothorax bestand potentielle Lebensgefahr.

2. Das Landgericht hat durch das gemeinschaftliche Handeln der Angeklagten P. und W. jeweils den Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4, 25 Abs. 2 StGB als erfüllt angesehen, indem ersterer mit dem Geschädigten rang und ihn festhielt, während letzterer ihn schlug. Die durch den Angeklagten S. geführten Stiche hat es als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung im Sinne der §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 212 StGB qualifiziert. Es hat jedoch alle Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil sie bei ihrem Handeln „nicht ausschließbar“ gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gewesen seien.

a) So habe sich der Angeklagte P. ab dem Moment, in dem der Geschädigte mit erhobener Faust auf ihn zugekommen sei, einem rechtswidrigen Angriff gegenüber gesehen. Dieser sei bis zum Ende der Auseinandersetzung gegenwärtig geblieben, weil im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang die Wiederholung eines Verletzungsakts seitens des Geschädigten gedroht habe. Dies zeige sich nicht zuletzt darin, dass der Geschädigte noch nach den Hieben durch den Angeklagten W. und den Stichen durch den Angeklagten S. versucht habe, den Angeklagten P. hinunter zu ringen, und dies, obwohl er zu diesem Zeitpunkt - soweit ersichtlich - ausschließlich vom Angeklagten W. geschlagen worden sei.

b) Das Handeln der Angeklagten sei auch im Sinne des § 32 StGB erforderlich gewesen, um dem Angriff des Geschädigten zu begegnen. Denn es sei „möglich und wahrscheinlich“, dass es der Geschädigte war, der dem Zeugen Ö. seine Handverletzung zufügte und hierzu einen gefährlichen Gegenstand wie ein Messer oder eine Glasscherbe verwendete. Da die drei Angeklagten jeweils nahe am Geschehen gestanden und ihren Blick in diese Richtung gerichtet hätten, sei es „mindestens gut möglich und im Gesamtzusammenhang wahrscheinlich, dass sie das Tatgeschehen bis zu ihren jeweiligen Tathandlungen wie festgestellt mitbekamen, also auch die Verursachung der Verletzung des Zeugen Ö. “.

Die Messerstiche des Angeklagten S. seien daher erforderlich gewesen, denn ihm sei zuzugestehen gewesen, ebenfalls einen gefährlichen Gegenstand wie ein Messer zu wählen, um dem Geschädigten effektiv und schnell zu begegnen. S. sei zudem wenig Zeit zum Überlegen verblieben, da eine zeitliche Verzögerung angesichts der Gefahr eines fortdauernden Angriffs mit einem gefährlichen Gegenstand womöglich eine weitere Attacke des Geschädigten begünstigt hätte. Auch das vorangehende Festhalten und die Schläge seien als Verteidigung erforderlich gewesen. Hierbei hat die Strafkammer hinsichtlich des Angeklagten P. berücksichtigt, dass es sich bei dem Geschädigten um einen kampferprobten und gut trainierten Gegner handelte, der „(womöglich) weiterhin bewaffnet“ gewesen sei. Gleiches gelte wegen der „möglicherweise fortdauernden Bewaffnung“ auch für den Angeklagten W. .

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, da die zugehörige Beweiswürdigung (§ 261 StPO) sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht standhält.

Das Revisionsgericht muss es allerdings grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht Zweifel an dem Vorliegen eines den Angeklagten belastenden Sachverhalts nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich deshalb darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt, oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21 mwN; vom 24. November 2022 - 5 StR 309/22). Derartige Rechtsfehler sind hier jedoch gegeben.

1. Schon die zum Freispruch führende Annahme, dass der Angriff des Geschädigten auf den Angeklagten P. bis zum Ende des Geschehens angedauert habe und damit im Sinne des § 32 StGB gegenwärtig blieb, beruht auf einer lückenhaften Beweiswürdigung.

Das Landgericht hat sich insoweit darauf gestützt, dass der Geschädigte noch nach den Hieben durch den Angeklagten W. und den Stichen durch den Angeklagten S. versuchte, den Angeklagten P. hinunter zu ringen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt ausschließlich vom Angeklagten W. geschlagen worden sei. Dieser Erwägung liegt offenbar zugrunde, dass die Auseinandersetzung mit Anläufen des Geschädigten zu einem gewaltsamen Vorgehen gegen den Angeklagten P. begann und endete.

Bei ihrem Schluss auf eine kontinuierlich fortbestehende Angriffsintention des Geschädigten hat die Strafkammer jedoch das zwischenzeitliche Geschehen nicht erkennbar bedacht. Dieses war dadurch geprägt, dass der auf den Angeklagten P. losstürmende Geschädigte „sogleich von mehreren Personen aus der rund zehnköpfigen Gruppe rund um die Angeklagten eingekreist und auch geschlagen“ wurde und im Fortgang „sämtliche Gewalteinwirkungen“ aus dieser Gruppe „ausschließlich“ gegen den Geschädigten vorgenommen wurden. Zu diesen gehörten das - mit „wutverzerrtem Gesichtsausdruck“ vorgenommene - Einschlagen durch den Zeugen Ö., 16 „äußerst kraftvoll ausgeführte“ Hiebe des Angeklagten W. auf den zu diesem Zeitpunkt gebückt stehenden Geschädigten und das diese Hiebe ermöglichende Festhalten durch den Angeklagten P. sowie schließlich die drei Messerstiche des Angeklagten S. Zu vergleichbaren Handlungen des Geschädigten lässt sich dem Urteil - abgesehen von der zugunsten der Angeklagten angenommenen Möglichkeit, er habe mittels eines Messers oder Werkzeugs den Zeugen Ö. verletzt (dazu nachfolgend Ziffer 2) - nur entnehmen, dass er zeitweise den Hals des Angeklagten W. umklammerte, dass er zuletzt Schultern und Hals des Angeklagten P. umgriff und dessen Oberkörper hinunterzog sowie dass er am Abend des Tattags davon sprach, auch seinerseits einigen „ein paar geklatscht / geklebt“ und „Schläge verteilt“ zu haben.

Schon angesichts der einseitigen Verteilung der Anteile am aktiven Geschehen hätte sich eine Erörterung zu der Frage aufgedrängt, ob das letzte Vorgehen des Geschädigten gegen P. alternativ der bloßen Abwehr der zwischenzeitlich durch die Angeklagten gemeinsam geübten Gewalt gedient haben könnte, an der sich auch P. bis zuletzt direkt beteiligt hatte (vgl. zur Lückenhaftigkeit einer Beweiswürdigung in Fällen, in denen - obwohl der Sachverhalt dazu drängt - eine naheliegende Möglichkeit des Tathergangs außer Betracht gelassen wird BGH, Beschluss vom 21. Juni 1982 - 4 StR 299/82; Urteile vom 26. Juni 2003 - 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35; vom 3. Januar 2024 - 5 StR 406/23; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 129 mwN; MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 337 Rn. 29). Dass dem Geschädigten seitens der Angeklagten der Wille zur Beendigung signalisiert worden wäre, so dass sein weiteres Vorgehen allein als Fortführung seiner ursprünglichen Angriffsabsicht oder zumindest als nicht von einem Verteidigungswillen getragener Erwiderungsversuch (vgl. zur Abgrenzung zur einverständlichen Schlägerei BGH, Urteil vom 8. Mai 1990 - 5 StR 106/90, NJW 1990, 2263) interpretierbar wäre, wurde jedenfalls nicht festgestellt. Vielmehr endete die Auseinandersetzung erst, als von außen eine unbekannte Person eingriff. Dass der Geschädigte körperlich in der Lage war, trotz der schon erhaltenen Verletzungen und der massiven Ãœbermacht noch immer gegen einen seiner Kontrahenten vorzugehen, erlaubt als solches keine eindeutigen Schlüsse auf seine Intention.

Das Landgericht hätte zudem prüfen müssen, ob aus Äußerungen des Geschädigten am Abend des Tattages Schlussfolgerungen für die Frage der Fortdauer des Angriffs hätten gezogen werden können. Anlass zu solchen Überlegungen gab insbesondere, dass der Geschädigte dabei zwar zunächst auch auf die anfängliche Beleidigung durch den Angeklagten P. Bezug nahm, sodann aber äußerte, dass er „irgendwann die Augen geschlossen und jedem etwas verpasst“ habe. Auf die Frage, ob es ihm gut gehe, antwortete er, dass „auf einmal alles passiert“ sei, „ganz plötzlich“. Er „habe nichts gesehen und nichts verstanden“. Diese Äußerungen hätten der Würdigung bedurft, denn sie könnten möglicherweise dagegen sprechen, dass der Geschädigte bis zuletzt gewillt war, den Angeklagten P. wegen dessen Beleidigungen zu schlagen.

2. Weitere Rechtsfehler enthält die Beweiswürdigung für die Feststellungen zu einer möglichen Bewaffnung des Geschädigten und zu deren Wahrnehmung durch die Angeklagten, die der Einordnung der Tathandlungen als erforderliche Verteidigung zugrunde liegt. Eine Berücksichtigung der bei den Feststellungen in Bezug genommenen Abbildungen (Screenshots aus der Videoaufzeichnung) aufgrund eigener Anschauung ist dem Senat dabei nicht möglich, weil die Verweisungen jeweils nicht den Anforderungen des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO entsprechen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 267 Rn. 8 ff. mwN).

Die Beweiswürdigung der Strafkammer weist eine Lücke auf, weil ausweislich der Urteilsgründe auf der Videoaufnahme des Geschehens zu sehende Arm- und Handbewegungen des Geschädigten nicht in die Betrachtung einbezogen wurden, obwohl bei ihnen gerade kein Messer erkennbar wird (nachfolgend a). Zudem gründet diese Beweiswürdigung hinsichtlich des Angeklagten S. auf widersprüchlichen Angaben dazu, an welcher Position er sich bei Beginn seines Eingreifens befand (nachfolgend b).

a) Das Landgericht hat nicht in seine Würdigung einbezogen, dass nach den Feststellungen auf der genannten Videoaufnahme im zeitlichen Ablauf nach Sichtbarwerden der Verletzung des Zeugen Ö. zweimal Arm- und Handbewegungen des Geschädigten erkennbar werden. So sei dort zu sehen, wie der Angeklagte W. seine 16 Hiebe gegen den Geschädigten ausführt, „während dieser mit erhobenen Armen dessen Hals umklammert“. Nach den Stichen des Angeklagten S. werde zudem erkennbar, wie dieser nach hinten abdriftet und der Geschädigte währenddessen die Schultern und den Hals des Angeklagten P. „umgreift“ und dessen Oberkörper nach vorn hinunter „zieht“. Die Feststellungen deuten jeweils nicht an, dass der Geschädigte bei diesen Bewegungen ein Messer oder einen sonstigen gefährlichen Gegenstand in den Händen gehalten hätte.

Da dies gegen die Annahme der Strafkammer sprechen könnte, der Geschädigte habe unmittelbar zuvor mit einem derartigen Gegenstand den Zeugen Ö. verletzt, hätte sie sich hiermit auseinandersetzen müssen. Das gilt umso mehr angesichts der von ihr mehrfach betonten Dynamik des Geschehens, in welchem der Geschädigte ununterbrochen bedrängt wurde, was aus seiner Sicht kaum nahelegen konnte, ein gerade verwendetes Verteidigungswerkzeug einzustecken oder fallen zu lassen. Auch in die Überlegungen zu der Frage, ob die Angeklagten selbst von einer Bewaffnung des Geschädigten ausgingen, wären diese Armbewegungen einzubeziehen gewesen, nachdem sie unmittelbar den Angeklagten P. und W. galten und nach den - allerdings widersprüchlichen (siehe sogleich) - Feststellungen in der Nähe und Blickrichtung des Angeklagten S. stattfanden.

b) Hinsichtlich der Möglichkeit des Angeklagten S., einen etwaigen Messereinsatz des Geschädigten wahrzunehmen, kommt hinzu, dass das Urteil widersprüchliche Angaben dazu enthält, an welcher Position er sich zu dem Zeitpunkt befand, als er sich mit erhobenem Messer auf den Geschädigten zubewegte.

So ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte S. seinen Weg erst durch das Geschehen in Richtung des Geschädigten bahnen musste und hiermit begann, nachdem der Zeuge Ö. sich seine Verletzung zugezogen hatte. Laut den Feststellungen befand er sich in diesem Moment vom Geschehen „wenige Meter entfernt“. Den Geschädigten habe er (erst) erreicht, nachdem der Angeklagte W. diesem zwischenzeitlich seine 16 Hiebe verabreicht hatte und dieser trotzdem noch nicht zu Boden gegangen war. Zur Beschreibung der Videoaufzeichnung, auf die sich die Strafkammer für diese Feststellungen wesentlich gestützt hat, heißt es in den Urteilsgründen dagegen, der Angeklagte S. habe „direkt daneben“ gestanden, als in einer Blickachse zwischen den Personen die blutige Hand des Zeugen Ö. sichtbar geworden sei, der seinerseits in diesem Moment dabei war, zielgerichtet in Richtung des vornübergebeugten Geschädigten zu schlagen, sich also offenbar direkt neben diesem befand.

Diese auf die Würdigung desselben Beweismittels zurückgehenden Angaben sind nicht miteinander vereinbar. Den so entstandenen Widerspruch hätte die Strafkammer für ihre Entscheidung über die Rechtfertigung des Angeklagten S. auflösen müssen. Dabei kann dahinstehen, ob eine räumliche Nähe zwischen dessen Messer und dem Zeugen Ö. Anlass zur Prüfung gab, ob dessen Verletzung durch dieses Messer verursacht worden sein kann (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts). Denn angesichts des vom Landgericht als „tumultartig“ beschriebenen und von außen nur durch kurzzeitig sich öffnende „Blickachsen“ einsehbaren Geschehens kommt dem genauen Standort des Angeklagten S. jedenfalls Bedeutung zu für die Beurteilung der Frage, ob er einen etwaigen Messereinsatz des Geschädigten hätte wahrnehmen können.

Außerdem hat das Landgericht bei der Einordnung der Messerstiche als erforderliche Nothilfehandlung auch darauf abgestellt, dass dem Angeklagten nur wenig Zeit zum Überlegen verblieben sei. Für diese Annahme, die ohnehin in einem Spannungsverhältnis zur mitgeteilten Dauer der - noch nicht einmal das gesamte Geschehen zeigenden - Videosequenz von immerhin einer Minute und zehn Sekunden steht, besitzt S. s Standort und damit die zu überwindende Distanz zum Geschehen ebenfalls offensichtliche Relevanz.

III.

Das Urteil beruht auf den Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Sache bedarf daher hinsichtlich aller Angeklagten neuer Verhandlung und Entscheidung. Die zugehörigen Feststellungen sind schon deswegen aufzuheben, weil sie die Angeklagten potentiell belasten und für sie mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifbar waren (vgl. BGH, Urteile vom 21. April 2022 - 3 StR 360/21, NJW 2022, 2349; vom 8. November 2023 - 5 StR 259/23).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 882

Bearbeiter: Christian Becker