HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 40
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 127/21, Urteil v. 10.11.2021, HRRS 2022 Nr. 40
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 30. November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und ihm Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zugesprochen. Nach der Anklage soll er zwischen dem 7. und dem 11. April 2020, wahrscheinlich in der Nacht zum 8. April 2020, das Tatopfer K. durch mehrere Stiche mit einem Küchenmesser getötet haben.
Gegen den Freispruch wendet sich die Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der aus Litauen stammende Angeklagte und das aus Polen stammende spätere Tatopfer K. bewohnten seit Ende Februar 2020 gemeinsam ein Zimmer in einer H. er Obdachlosenunterkunft. Am Nachmittag des 7. April 2020 stahl der Angeklagte in einem Einkaufsmarkt in der Nähe der Notunterkunft ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 10 cm, das in einer Plastikhülle verpackt war. Diese Umverpackung entsorgte er nicht, sondern nutzte sie als Aufbewahrungsbehältnis für das Messer. Im weiteren Verlauf des Tages, vielleicht auch erst in der Nacht auf den 8. April 2020, trank er Alkohol mit seinem Mitbewohner K. Dieser wurde zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt zwischen dem Abend des 7. April 2020 und dem frühen Nachmittag des 9. April 2020, hochwahrscheinlich am 8. April 2020, aus ungeklärtem Anlass mit dem Messer getötet, das vom Angeklagten am 7. April 2020 entwendet und ihm danach nicht ausschließbar gestohlen worden war. Das alkoholisierte Tatopfer starb an einer von drei Stichverletzungen, die ihm der Täter in einer nahe der Wohnunterkunft gelegenen Grünanlage zugefügt hatte. Die Umverpackung des Tatmessers wurde später am Tatort sichergestellt.
Nachdem sich der Angeklagte zunächst am 7. April 2020 - wie zuvor täglich - zur Übernachtung in der Wohnunterkunft angemeldet hatte, verbrachte er die Nacht auf den 8. April 2020 im Freien. Erst am 9. April 2020 meldete er sich wieder bei der Einrichtung und konsumierte später in deren Nähe unter anderem mit dem Bewohner Ka. Alkohol, bevor er spätestens am Folgetag die Unterkunft mitsamt seiner Habe endgültig verließ. Etwa eine Woche später entwendete er im selben Einkaufsmarkt wie am 7. April 2020 ein Küchenmesser derselben Art wie das zuvor gestohlene. Dieses Messer samt Umverpackung führte er in seinem Rucksack mit sich, als er am 3. Mai 2020 festgenommen wurde. Während der anschließenden Untersuchungshaft traf der Angeklagte erneut auf den inzwischen ebenfalls inhaftierten ehemaligen Bewohner der Notunterkunft Ka. Er äußerte ihm gegenüber sinngemäß zu wissen, dass „du es getan hast“, und forderte ihn auf, dies zuzugeben. Auf Nachfrage von Ka., wovon der Angeklagte spreche, entgegnete dieser sinngemäß, er wisse schon.
2. Das Landgericht hat sich von einer Täterschaft des Angeklagten, die er in der Hauptverhandlung bestritten hat, nicht überzeugen können.
Zwar biete die Hypothese einer Täterschaft des Angeklagten bei einer Gesamtbewertung den wahrscheinlichsten Erklärungsansatz für den Tod des Tatopfers. Bereits seine Einlassung, er habe das (zuerst gestohlene) Messer in seinem ungesicherten Spind verwahrt, sei zweifelhaft, da es ein für ihn wertvoller Gegenstand gewesen sei und eine Mitnahme in seinem Rucksack unproblematisch möglich gewesen wäre. Auch wäre eine Entwendung des Tatmessers innerhalb kürzester Zeit nach seinem eigenen Diebstahl ein „bemerkenswerter Zufall“. Zudem spreche für seine Täterschaft, dass er ausgerechnet am 8. April 2020 erstmals seit Wochen der Wohnunterkunft ferngeblieben sei. Ferner sei er bereits in der Vergangenheit durch aggressives und gewalttätiges Verhalten aufgefallen, wie insbesondere ein Vorfall am K. er Hauptbahnhof in der Nacht zum 13. November 2016 zeige, bei dem er, stark alkoholisiert, mit einem Messer nach einem der örtlichen Trinkerszene angehörenden Geschädigten gestochen habe, der allein durch glücklichen Zufall unverletzt geblieben sei.
Es bestünden aber erhebliche Zweifel an einer Täterschaft des Angeklagten. Zunächst sei es eher unwahrscheinlich, dass er - wenn er der Täter wäre - sich nach der Tat wieder ein Messer genau derselben Art wie das Tatmesser verschafft und dabei die Umverpackung behalten und für die Aufbewahrung des Messers genutzt hätte. Denn es hätte sich ihm aufdrängen müssen, dass ihn der Besitz eines solchen Messers samt Umverpackung bei einer polizeilichen Durchsuchung belasten würde. Außerdem könne von einer Flucht des Angeklagten nach dem Tod des Tatopfers keine Rede sein, da er zwar der Wohnunterkunft am 8. April 2020 ferngeblieben sei, diese aber am 9. April 2020 erneut aufgesucht und in deren Nähe in der Nacht auf den 10. April 2020 Alkohol getrunken habe. Schließlich deute sein Kommunikationsverhalten gegenüber dem ehemaligen Bewohner der Notunterkunft Ka. in der Untersuchungshaftanstalt darauf hin, dass er seinerzeit gedacht habe, jener sei für den Tod des Opfers verantwortlich. Ein ehrlich gemeinter Tatverdacht des Angeklagten würde bedeuten, dass er selbst nicht der Täter gewesen wäre.
Im Übrigen sei als Alternativhypothese die Täterschaft eines unbekannten Dritten mit einem Geschehensablauf zu erwägen, bei dem das Tatopfer selbst das Tatmesser aus dem Spind des Angeklagten entnommen haben, wenige Zeit später in einen gewalttätigen Streit mit dem unbekannten Täter geraten sein und dabei das Messer eingesetzt haben könnte. Im Laufe dieses Streits könnte der Täter den Geschädigten entwaffnet und sodann mit dem Messer getötet haben. Ein solcher Sachverhalt biete eine zwar eher unwahrscheinliche, aber doch immerhin plausible und mögliche Erklärung für den Tod des Opfers und könne deswegen nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden.
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts (§ 261 StPO) hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind. Insbesondere ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 3. Juni 2015 - 5 StR 55/15, NStZ-RR 2015, 255; vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116 mwN). Danach sind auch entlastende Angaben des Angeklagten nicht schon deshalb als unwiderlegbar hinzunehmen, weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 25. April 2017 - 5 StR 433/16, NStZ-RR 2017, 221, 222; vom 14. Oktober 2020 - 5 StR 165/20, NStZ 2021, 286 mwN).
2. Diesen Maßstäben genügt die Beweiswürdigung nicht. Sie ist widersprüchlich und offenbart, dass das Landgericht den Anforderungen an die tatgerichtliche Überzeugungsbildung nicht gerecht geworden ist.
Den Urteilsgründen lässt sich kein tatsachenfundierter Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass eine unbekannte Person dem Opfer die tödlichen Verletzungen mit dem vom Angeklagten erst kurz zuvor gestohlenen Messer beigebracht haben könnte. Die Schwurgerichtskammer selbst hält eine Alternativtäterschaft für eher unwahrscheinlich. Dabei hat sie schon die Darstellung des Angeklagten, er habe das Messer in seinem ungesicherten Spind verwahrt, nachvollziehbar als unplausibel bewertet. Hierzu im Widerspruch stützt sie indes allein auf diese als nicht glaubhaft erachtete Behauptung ihre Hypothese, das spätere Opfer könne als Mitbewohner des gemeinsamen Zimmers in der Wohnunterkunft das Messer an sich genommen haben. Die von ihr zu Recht in Zweifel gezogene Einlassung des Angeklagten vermag danach eine Alternativtäterthese über eine rein theoretische Ebene hinaus nicht zu begründen.
3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Schwurgerichtskammer bei fehlerfreier Beweiswürdigung die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte. Die Entlastungserwägung des Tatgerichts zum Kommunikationsverhalten des Angeklagten gegenüber dem ehemaligen Bewohner der Notunterkunft Ka. in der Untersuchungshaftanstalt ist angesichts unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten - wenn überhaupt - nicht derart gewichtig, dass sie den Freispruch ungeachtet der aufgezeigten Mängel maßgeblich tragen könnte.
4. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Hierbei wird das Landgericht die DNA-Spurenlage an der Verpackung des Tatmessers insgesamt und die von der Beschwerdeführerin vorgetragene hypothetische alternative Deutungsmöglichkeit des zweiten Diebstahls eines gleichartigen Messers in den Blick zu nehmen haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 40
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 55
Bearbeiter: Christian Becker