HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 884
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 671/19, Urteil v. 24.06.2020, HRRS 2020 Nr. 884
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 9. August 2019 wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte im Fall 5 der Urteilsgründe des versuchten schweren Wohnungseinbruchdiebstahls und im Fall 6 der Urteilsgründe des Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung schuldig ist.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Die Revision des Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte im Fall 4 der Urteilsgründe des schweren Wohnungseinbruchdiebstahls schuldig ist und im Fall 8 der Urteilsgründe von Strafe abgesehen wird.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Wohnungseinbruchdiebstahls in zwei Fällen, versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls, Diebstahls in zwei Fällen, versuchten Diebstahls und wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten erzielen den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg und sind im Übrigen unbegründet.
1. Nach den Urteilsfeststellungen brach der Angeklagte von Oktober 2015 bis Januar 2018 mit Diebstahlsabsicht in Gewerbe- und Wohnimmobilien ein, um sich eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang zu erschließen. In zwei Fällen handelte er gemeinsam mit zwei Mittätern (Fälle 1 und 6), wobei deren Identität nur in einem Fall festgestellt werden konnte (Fall 1). Die übrigen vier Taten verübte er allein. Im Oktober 2017 versuchte der Angeklagte vergeblich, in ein Wohnhaus einzubrechen, dessen einzige Bewohnerin einige Wochen zuvor in ein Pflegeheim gezogen und wenige Tage vor dem Einbruch verstorben war. Das Haus war daher nicht bewohnt, allerdings noch möbliert (Fall 5). In diesem und einem weiteren Fall gelang es ihm nicht, in das betreffende Wohnhaus einzudringen (Fälle 2 und 5). In fünf Fällen wurden Türen und teils auch Fenster beschädigt (Fälle 1 bis 3, 5 und 6).
2. Soweit Wohnhäuser betroffen waren, hat das Landgericht die Taten als versuchten oder vollendeten Wohnungseinbruchdiebstahl nach 1 2 3 § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB oder § 244 Abs. 4 StGB gewertet. Im Übrigen hat es besonders schwere Fälle des versuchten oder vollendeten Diebstahls gemäß §§ 242, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 StGB angenommen. Im Fall 5 hat es einen versuchten (schweren) Wohnungseinbruchdiebstahl abgelehnt, weil das Tatobjekt mit dem Auszug der Wohnungsinhaberin seine Eigenschaft als Wohnung verloren habe. Von einer bandenmäßigen Begehung in den Fällen 1 und 6 hat es sich nicht überzeugen können.
3. Zu den Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, die das Landgericht jeweils als Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG gewertet hat, hat es Folgendes festgestellt:
Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt vor dem 11. November 2016 reiste der Angeklagte, der eine albanische Staatsangehörigkeit besitzt, in das Gebiet der Bundesrepublik ein. Am 11. November 2016 wurde er durch Polizeibeamte auf einem Parkplatz einer Kontrolle unterzogen. Dabei konnte er sich lediglich mit einer albanischen ID-Karte ausweisen, verfügte allerdings nicht über einen gültigen Reisepass oder ein sonstiges Reisedokument, das ihn zum Überschreiten der Grenze berechtigt hätte. Zudem bestand für den Angeklagten eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS), wonach er zur Einreiseverweigerung in das Gebiet der Schengenstaaten ausgeschrieben worden war (Fall 7).
Am 9. September 2018 reiste der Angeklagte über Ungarn in den Schengenraum ein, ohne über einen Aufenthaltstitel zu verfügen, der ihn als albanischen Staatsangehörigen zu einem längeren Aufenthalt als 90 Tage berechtigt hätte. Ohne zuvor aus dem Schengenraum ausgereist zu sein, wurde er am 9. Januar 2019 von Beamten im Zug kontrolliert und aufgrund eines bestehenden Haftbefehls festgenommen (Fall 8).
Die Staatsanwaltschaft hat ihr - vom Generalbundesanwalt nur teilweise vertretenes - Rechtsmittel ausweislich der insoweit maßgeblichen Revisionsbegründung wirksam auf die Fälle 1, 5 und 6 beschränkt (vgl. BGH, Urteil vom 7. August 1997 - 1 StR 319/97, NStZ 1998, 210). Die Revision hat nur zu einem geringen Teil Erfolg.
1. Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Recht, dass das Landgericht den Angeklagten im Fall 5 lediglich wegen versuchten Diebstahls statt wegen versuchten schweren Wohnungseinbruchdiebstahls verurteilt hat.
a) Die Strafkammer hat ihrer rechtlichen Wertung bereits ein zu enges Verständnis vom Wohnungsbegriff des § 244 StGB zugrunde gelegt.
Wohnungen sind Räumlichkeiten, die Menschen wenigstens vorübergehend zur Unterkunft dienen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2016 - 1 StR 462/16, BGHSt 61, 285, 289). Über diese Zwecksetzung hinaus bedarf es keiner weiteren Voraussetzungen. Insbesondere ist nicht erforderlich, dass die Wohnung im Tatzeitraum als solche genutzt wird. Entgegen der Auffassung der Strafkammer sind mithin auch unbewohnte Immobilien Wohnungen im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Dies gilt jedenfalls solange, als sie nicht als Wohnstätte entwidmet sind (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2020 - 3 StR 526/19, NJW 2020, 1750 f.; siehe zu leerstehenden Wohnungen auch Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 244 Rn. 30; SSWStGB/Kudlich, 4. Aufl., § 244 Rn. 40; MüKoStGB/Schmitz, 3. Aufl., § 244 Rn. 60).
b) Ausgehend von diesem Fehlverständnis hat die Strafkammer den Unrechtsgehalt der Tat nicht ausgeschöpft und daher ihre Kognitionspflicht nach § 264 StPO verletzt (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 20. März 2012 - 1 StR 648/11, NStZ-RR 2012, 215). Denn sie hat übersehen, dass sich der Angeklagte wegen eines versuchten schweren Wohnungseinbruchdiebstahls gemäß § 244 Abs. 4, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat.
aa) Allerdings handelt es sich bei einem unbewohnten - also nicht nur vorübergehend verlassenen - Wohnhaus nicht um eine dauerhaft genutzte Privatwohnung im Sinne des § 244 Abs. 4 StGB.
Dafür spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift, der über die dem Wohnungsbegriff des § 244 StGB immanente Zwecksetzung hinaus eine (dauerhafte) Nutzung der Wohnung verlangt. Aus dieser zusätzlichen Tatbestandsvoraussetzung folgt, dass die Wohnstätte zur Tatzeit tatsächlich bewohnt sein muss (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2011 - 1 StR 95/11, NStZ 2012, 39 f.; Beschluss vom 22. Januar 2020 - 3 StR 526/19, aaO, Rn. 18 mwN, zur insoweit entsprechenden Auslegung des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Die Beschränkung des § 244 Abs. 4 StGB auf bewohnte Immobilien gebieten auch Sinn und Zweck der Vorschrift, die den Wohnungseinbruchdiebstahl zum Verbrechen qualifiziert (§ 12 Abs. 1 StGB). Sowohl der Qualifikationstatbestand des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB als auch der des § 244 Abs. 4 StGB finden ihre Rechtfertigung darin, dass ein Wohnungseinbruchdiebstahl einen schwerwiegenden Eingriff in den privaten Lebensbereich darstellt, der gravierende Folgen und eine massive Schädigung des Sicherheitsgefühls der von der Tat Betroffenen zur Folge haben kann (vgl. BT-Drucks. 18/12359, S. 1 f.; 13/8587, S. 43). Die im Vergleich zu § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB erhöhte Mindestfreiheitsstrafe des schweren Wohnungseinbruchdiebstahls nach § 244 Abs. 4 StGB, für den das Gesetz zudem keinen minder schweren Fall vorsieht, findet ihre Entsprechung in der höheren Intensität des Eingriffs in die Privat- und Intimsphäre, der mit dem Einbruch in eine zur Tatzeit tatsächlich bewohnte Wohnung verbunden ist.
bb) Die Strafkammer hat jedoch nicht bedacht, dass es bei einem (fehlgeschlagenen) Versuch nicht auf die objektiven Umstände, sondern gemäß § 22 StGB auf die Vorstellung des Täters von der Tat beim unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung ankommt (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 17. Oktober 1996 - 4 StR 389/96, BGHSt 42, 268, 272). Entscheidend ist daher das Vorstellungsbild des Angeklagten vom Einbruchsobjekt beim Versuch, die Hauseingangstür, die Hintertür und ein Fenster des Gebäudes aufzuhebeln (vgl. zum Versuchsbeginn BGH, Beschluss vom 28. April 2020 - 5 StR 15/20). Angesichts der noch vorhandenen Möblierung des erst seit wenigen Wochen unbewohnten Hauses lässt sich dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe entnehmen, dass der gewerbsmäßig in Wohnungen einbrechende Angeklagte im Sinne eines Eventualvorsatzes von einem tatsächlich bewohnten Haus ausgegangen ist. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat er sich mithin wegen eines (untauglichen) Versuchs eines schweren Wohnungseinbruchdiebstahls nach § 244 Abs. 4, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
c) Der Senat hat den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO geändert. § 265 StPO steht nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht erfolgreicher als geschehen hätte verteidigen können. Er schließt angesichts des unveränderten Tatbildes indes aus, dass das Landgericht bei zutreffender Wertung trotz der nur leicht erhöhten Strafrahmenuntergrenze (§ 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB) eine höhere Strafe verhängt hätte (§ 337 Abs. 1 StPO).
2. Das Landgericht hat - worauf es in den Urteilsgründen selbst hinweist - aufgrund eines Versehens versäumt, den Angeklagten im Fall 6 auch wegen einer tateinheitlich verwirklichten Sachbeschädigung schuldig zu sprechen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2018 - 2 StR 481/17, BGHSt 63, 253, 257 ff.). Der Senat hat den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO geändert. § 265 StPO steht auch hier nicht entgegen (s.o.). Er schließt aus, dass der Strafausspruch auf dem Rechtsfehler beruht (§ 337 Abs. 1 StPO), da das Landgericht den durch den Einbruch verursachten Sachschaden strafschärfend verwertet hat.
Im Fall 1 kommt eine entsprechende Schuldspruchänderung nicht in Betracht, da insofern - anders als im Fall 6 - weder ein Strafantrag vorliegt noch von der Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht worden ist (§ 303c StGB).
3. Das Absehen von einer Einziehung nach § 73 Abs. 1 StGB im Fall 1 ist nicht rechtsfehlerfrei begründet. Das Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte keine (Mit-)Verfügungsgewalt an den entwendeten Zigaretten erlangt habe, weil er und seine Mittäter diese nach einer über die Autobahn und durch mehrere Ortschaften führenden Fluchtfahrt in der Nähe des Fluchtfahrzeugs zurückgelassen hätten. Damit hat es einen zu engen rechtlichen Maßstab an das Erlangen im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB angelegt (vgl. BGH, Urteil vom 24. Mai 2018 - 5 StR 623/17 und 5 StR 624/17). Allerdings war die Einziehung ohnehin nach § 73e Abs. 1 StGB ausgeschlossen, weshalb es auf den vom Landgericht benannten Gesichtspunkt nicht ankommt.
4. Soweit die Beschwerdeführerin die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten wegen schweren Bandendiebstahls (§ 244a Abs. 1 StGB) in den Fällen 1 und 6 rügt, hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Ihre Angriffe gegen die Beweiswürdigung decken - eingedenk des nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsumfangs (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179) - keinen Rechtsfehler auf. Insbesondere hat sich das Landgericht trotz der für sich genommen bedenklichen Formulierung, die eine bandenmäßige Begehung bestreitende Einlassung des Angeklagten sei „nicht zu widerlegen“ (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 19. September 2017 - 1 StR 436/17, NStZ-RR 2018, 20, 21; KKStPO/Ott, StPO, 8. Aufl., § 261 Rn. 90), bei der Würdigung der Einlassung von den zutreffenden rechtlichen Maßstäben leiten lassen (vgl. insofern BGH, Urteil vom 16. August 1995 - 2 StR 94/95, BGHR StPO § 261 Einlassung 6). Entgegen der Revision ist die Beweiswürdigung nicht lückenhaft. Auch insoweit teilt der Senat die Auffassung des Generalbundesanwalts.
5. Angesichts des nur unwesentlichen Teilerfolgs hat die Staatskasse die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen (vgl. SSWStPO/Steinberger-Fraunhofer, 4. Aufl., § 473 Rn. 22).
Die Revision des Angeklagten hat lediglich in geringem Umfang Erfolg.
1. Die Verfahrensrüge ist jedenfalls unbegründet. Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht den „Hilfsbeweisantrag“ mangels Benennung einer ladungsfähigen Anschrift der Zeugen nicht als Beweisantrag im Rechtssinne, sondern unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) behandelt hat (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 1993 - 3 StR 446/93, BGHSt 40, 3, 6 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 21). Im Übrigen waren - worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hinweist - die Zeugen unerreichbar im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 5 StPO aF.
2. Die Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz können im Ergebnis bestehen bleiben, allerdings sieht der Senat in richtlinienkonformer Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Fall 8 der Urteilsgründe von Strafe ab.
a) Der Angeklagte hat sich nach den Feststellungen nicht - wie das Landgericht angenommen hat - wegen unerlaubter Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG), sondern wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar gemacht, im Fall 7 zudem tateinheitlich wegen passlosen Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Der Angeklagte durfte sich als albanischer Staatsangehöriger ohne Aufenthaltstitel für höchstens 90 Tage im Schengenraum aufhalten und benötigte für einen rechtmäßigen Kurzaufenthalt einen biometrischen Reisepass (näher BGH, Beschluss vom 22. April 2020 - 2 StR 329/19). In keinem der beiden Fälle verfügte er über einen Aufenthaltstitel, im Fall 7 auch nicht über einen Pass, Pass- oder Ausweisersatz (§ 48 Abs. 2 AufenthG). Feststellungen zu einer unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet in nichtverjährter Zeit enthält das Urteil hingegen nicht. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, weil sich der insoweit geständige Angeklagte nicht erfolgreicher als geschehen hätte verteidigen können.
b) Die Urteilsgründe berücksichtigen einen möglichen Vorrang des Rückführungsverfahrens nicht. Dies ist lediglich im Fall 7 unschädlich, im Fall 8 führt es zu einem Absehen von Strafe.
aa) Jedenfalls die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG) sind aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98) europarechtskonform auszulegen (vgl. EuGH [Große Kammer], Urteile vom 7. Juni 2016, C-47/15 [„Affum“], ZAR 2016, 344 mit Anm. Hörich/Bergmann, und vom 6. Dezember 2011, C-329/11 [„Achughbabian“], ZAR 2016, 443; EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-444/17 [„Arib“], NVwZ 2019, 947 mit Anm. Pfersisch ZAR 2019, 385; vom 26. Juli 2017 - C-225/16 [„Ouhrami“], InfAuslR 2017, 375; vom 1. Oktober 2015, C-290/14 [„Celaj“], NVwZ-RR 2015, 952; vom 19. September 2013, C-297/12 [„Filev/Osmani“], NJW 2014, 527; vom 6. Dezember 2012, C-430/11 [„Sagor“], ZAR 2013, 118 mit Anm. Hörich/Bergmann; vom 28. April 2011, C-61/11 [„El Dridi“], InfAuslR 2011, 320; vgl. auch EuGH, Urteil vom 10. April 2012, C-83/12 [„Vo“], NJW 2012, 1641; aus der inländischen Rspr.: BGH, Urteile vom 4. Mai 2017 - 3 StR 69/17, NStZ 2018, 286 mit Anm. Kudlich; vom 8. März 2017 - 5 StR 333/16, BGHSt 62, 85; Beschlüsse vom 4. Juni 2019 - 2 StR 202/18, NStZ 2020, 357; vom 13. Juli 2016 - 1 StR 279/16, StV 2017, 256; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Mai 2020 - 2 RVs 35/20; OLG Hamm, InfAuslR 2017, 128; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 26 27 25. Januar 2012, 3-1/12 [Rev] 1 Ss 196/11, NStZ-RR 2012, 219 [Ls.]; KG, NStZ-RR 2012, 347; OLG Frankfurt, InfAuslR 2014, 79 und StV 2015, 356; OLG München, NStZ 2013, 484; OLG München, Urteil vom 16. Juli 2012 - 4 StRR 10/12; aus der Literatur: Hörich/Bergmann NJW 2012, 3339; dies., ZRP 2014, 109; Kleinlein NVwZ 2016, 1141; Hailbronner, Ausländerrecht, 115. Lfg., § 95 AufenthG Rn. 15a ff.; MüKoStGB/Gericke, 3. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 30 ff.; BeckOK AuslR/Hohoff, Stand 1. März 2020, § 95 AufenthG Rn. 27; NKAuslR/Fahlbusch, 2. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 50 ff.; Hörich in Huber, AufenthG, 2. Aufl., § 95 Rn. 50 ff.; Senge in Erbs/Kohlhaas, 229. Lfg., § 95 AufenthG Rn. 13; Winkelmann/Stephan in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 18 ff.).
bb) Um den Vorrang des Rückführungsverfahrens auch praktisch wirksam zu sichern, sollen gegen Drittstaatsangehörige, die sich illegal in einem Mitgliedsstaat aufhalten oder dort illegal eingereist sind, für diesen illegalen Aufenthalt und die illegale Einreise keine freiheitsentziehenden Sanktionen verhängt und vollstreckt werden, weil diese geeignet sind, das Rückführungsverfahren zu verzögern (grundlegend EuGH [Große Kammer] „Achughbabian“, aaO Rz. 50; „Affum“, aaO Rz. 52, 63). Dies hat der Europäische Gerichtshof auch angenommen, wenn der Aufenthalt des Ausländers den Behörden bis dahin unbekannt war und deshalb bis zur Ergreifung kein Rückführungsverfahren vorgenommen werden konnte (vgl. die Fallkonstellation bei EuGH „Affum“, aaO). Der Erlass einer Geldstrafe ist nur gestattet, wenn weder die Durchführung des Strafverfahrens das Rückführungsverfahren verzögert noch eine Umwandlung der Geldstrafe in eine freiheitsentziehende Sanktion möglich ist (EuGH „Sagor“, aaO Rz. 35 ff.).
Anders verhält es sich, wenn ein Rückführungsverfahren schon abgeschlossen ist, was regelmäßig die freiwillige Rückkehr oder die zwangsweise Durchsetzung der Rückführung voraussetzt. Reist der betreffende Drittausländer unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot anschließend erneut illegal in das Bundesgebiet ein und hält er sich hier illegal auf, kann er auch mit freiheitsentziehenden Sanktionen belegt werden (EuGH „Achughbabian“, aaO Rz. 28; „Sagor“, aaO Rz. 31; „Celaj“, aaO Rz. 20). Strafbar wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein Drittstaatsangehöriger auch ab dem Zeitpunkt, in dem er sich durch Untertauchen dem Rückführungsverfahren entzieht, nachdem die Behörden Kenntnis von seinem illegalen Aufenthalt erlangt haben und das Rückführungsverfahren auf ihn anwenden wollen (vgl. HansOLG Hamburg, aaO; Gericke, aaO Rn. 32). Dies gilt auch für einen unerlaubten Aufenthalt nach endgültigem Scheitern des Rückführungsverfahrens (vgl. Kleinlein, aaO), sofern nicht andere Gründe wie insbesondere der Anspruch auf Duldungserteilung bei den Behörden bekanntem Aufenthalt (vgl. BVerfG, NStZ 2003, 488 mit Anm. Mosbacher) dem entgegenstehen.
Die Rückführungsrichtlinie schließt für die Mitgliedstaaten schließlich auch nicht die Möglichkeit aus, die Verwirklichung anderer Straftatbestände als derjenigen im Zusammenhang mit dem bloßen Umstand der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, auch wenn das Rückführungsverfahren nicht abgeschlossen ist (EuGH „Arib“ Rz. 66; „Affum“ Rz. 65). Die Rückführungsrichtlinie ist zudem für die Strafbarkeit von Schleusern ohne Belang (BGH, Urteil vom 8. März 2017 - 5 StR 333/16, BGHSt 62, 85; Urteil vom 4. Mai 2017 - 3 StR 69/17, NStZ 2018, 286 mit Anm. Kudlich; Beschlüsse vom 24. Oktober 2018 - 1 StR 212/18, NStZ 2019, 283, und vom 4. Juni 2019 - 2 StR 202/18, NStZ 2020, 357).
cc) Da das deutsche Recht bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe regelmäßig die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht (§ 43 StGB), ergibt die richtlinienkonforme Auslegung von § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG, dass gegen illegal einreisende und hier aufhältige Drittausländer wegen dieser Straftaten weder Freiheits- noch Ersatzfreiheitsstrafen verhängt (EuGH „El Dridi“, aaO Rz. 58) oder vollstreckt (EuGH „Affum“, aaO Rz. 52) werden dürfen, sofern ein Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Für die genannten Straftaten darf demnach lediglich die geringstmögliche, in keinem Fall freiheitsentziehende Sanktion verhängt werden. Dies ist das Absehen von Strafe bei gleichzeitigem Schuldspruch (vgl. Gräfe, Sinn und System des Absehens von Strafe, 2012, S. 3 ff.; SSWStGB/Claus, 4. Aufl., § 60 Rn. 1 ff.).
Prozessual kann der Vorrang des Rückführungsverfahrens durch eine europarechtskonforme (entsprechende) Anwendung von § 154b Abs. 3 StPO auf die Durchsetzung des Rückführungsverfahrens gesichert werden. Zudem wird beim Absehen von Strafe die Einstellungsmöglichkeit nach § 153b StPO eröffnet. Hierdurch kann gewährleistet werden, dass es aufgrund der Durchführung eines Strafverfahrens nicht zu einer Verzögerung des Rückführungsverfahrens kommt.
Soweit der 3. Strafsenat demgegenüber erwogen hat, die Strafbarkeitseinschränkung durch die Annahme eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes, die Annahme eines Prozesshindernisses oder die Beachtung eines Vollstreckungshindernisses in europarechtskonformer Handhabung von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, § 154b Abs. 3 und 4 StPO oder § 456a StPO sicherzustellen (BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 - 3 StR 69/17, NStZ 2018, 286; vgl. auch Gericke, aaO), vermag der Senat dem nicht zu folgen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dürfen für den illegalen Aufenthalt und die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen vor Durchführung des Rückführungsverfahrens lediglich keine freiheitsentziehenden Sanktionen verhängt werden. Dies hindert aber nicht, durch einen Schuldspruch (mit entsprechender Kostenfolge, vgl. § 465 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 StPO) das begangene Unrecht zu kennzeichnen, gerade wenn das Strafverfahren - wie hier - eigentlich wegen anderer Tatvorwürfe geführt wird und deshalb die Verfolgung von Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG faktisch keine Verzögerung des Rückführungsverfahrens zur Folge hat. Einen Freispruch aufgrund eines persönlichen Strafaufhebungsgrundes oder eine Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses sieht der Senat nicht als gebotene Reaktion auf die rechtswidrige und schuldhafte Verwirklichung (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2017 - 5 StR 333/16, BGHSt 62, 85, 88 f.) der in Rede stehenden Straftatbestände an. Die Annahme eines Vollstreckungshindernisses verlagert die Problematik hingegen in einen späten Verfahrensabschnitt und erweist sich gerade in Fällen wie dem vorliegenden (Gesamtstrafenbildung) als wenig praktikabel.
c) Im Ergebnis können Schuld- und Strafausspruch im Fall 7 deshalb bestehen bleiben. Der Senat entnimmt dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, dass gegen den Angeklagten 2016 nach erfolgter Durchführung eines Rücküberführungsverfahrens eine (wirksame) Einreisesperre für den Schengenraum bestand, wie er zu diesem Zeitpunkt im Schengener Informationssystem eingetragen war.
Anders verhält es sich im Fall 8 der Urteilsgründe. Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, dass weiter eine Einreisesperre bestand; schließlich konnte der Angeklagte im September 2018 unbeanstandet die ungarische Grenze überqueren, wie der Einreisestempel in seinem Pass belegt. Nach seiner Festnahme aufgrund eines Haftbefehls wegen der verfahrensgegenständlichen Vorwürfe wurde auch kein Rückführungsverfahren erfolgreich durchgeführt. Im Ergebnis führt dies dazu, dass für diesen Fall von Strafe abzusehen ist. Dies nimmt der Senat entsprechend § 354 Abs. 1 StPO selbst vor.
d) Der Wegfall der für Fall 8 verhängten Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen lässt angesichts der Höhe der übrigen Einzelstrafen (fünf Freiheitsstrafen über ein Jahr) den Gesamtstrafenausspruch unberührt.
3. Die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes des § 244 Abs. 4 StGB ist durch die Bezeichnung als „schwerer Wohnungseinbruchdiebstahl“ kenntlich zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. März 2019 - 3 StR 2/19, NStZ 2019, 674). Der Senat hat den Schuldspruch für Fall 4 deshalb in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO geändert.
4. Der lediglich geringfügige Erfolg seines Rechtsmittels lässt es nicht unbillig erscheinen, den Angeklagten mit dessen gesamten Kosten zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 884
Externe Fundstellen: NJW 2020, 2816; NStZ 2020, 679; NStZ-RR 2021, 121; StV 2021, 493
Bearbeiter: Christian Becker