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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1098

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 616/19, Urteil v. 19.08.2020, HRRS 2020 Nr. 1098


BGH 5 StR 616/19 - Urteil vom 19. August 2020 (LG Berlin)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (ausnahmsweise Berücksichtigung der zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzuges bei der Ermessensausübung; konkrete Anhaltspunkte).

§ 66 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 oder 3 StGB ist es dem Tatgericht grundsätzlich gestattet, bei der Ausübung seines Ermessens die zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs auf die Gefährlichkeit des Angeklagten zu berücksichtigen. Ihm ist die Möglichkeit eröffnet, sich ungeachtet der hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Urteilsfindung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich der Angeklagte schon die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Bestimmungen Rechnung getragen, die im Gegensatz zu Absatz 1 der Vorschrift eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Angeklagten nicht voraussetzen.

2. Ein Absehen von der Verhängung der Sicherungsverwahrung bei Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Täter aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender und therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Nur denkbare positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Juni 2019 hinsichtlich des Angeklagten H. aufgehoben

im Strafausspruch,

mit den zugehörigen Feststellungen, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft, an eine andere als Jugendschutzkammer tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die Revisionen der Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil werden verworfen, diejenige des Angeklagten H. mit der Maßgabe, dass in den Fällen 182 bis 188 und 526 bis 528 der Urteilsgründe die tateinheitliche Verurteilung wegen der Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften entfällt. Die Angeklagten haben die Kosten ihrer Rechtsmittel und die den Nebenklägerinnen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten H. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 548 Fällen, davon in 16 Fällen in Tateinheit mit der Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften und in 14 Fällen in Tateinheit mit dem Herstellen kinderpornographischer Schriften, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen in Tateinheit mit dem Herstellen kinderpornographischer Schriften sowie wegen des Herstellens jugendpornographischer Schriften in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt und ihn betreffende Adhäsionsentscheidungen getroffen. Gegen die Angeklagte K. hat es wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 547 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit dem Herstellen kinderpornographischer Schriften, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen sowie wegen des Herstellens jugendpornographischer Schriften in zwei Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verhängt.

Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten K. bleibt ohne Erfolg, die mit der Sach- und einer Verfahrensrüge geführte Revision des Angeklagten H. erzielt lediglich den aus dem Tenor ersichtlichen geringfügigen Teilerfolg. Dagegen dringt die gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung bezüglich des Angeklagten H. gerichtete, mit der Verletzung materiellen Rechts begründete und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft durch; sie führt zugleich - insoweit allein zugunsten des Angeklagten H. (§ 301 StPO) - zur Aufhebung des ihn betreffenden Strafausspruchs.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Die Angeklagte K. ist die Mutter der Nebenklägerinnen S. K., geboren am 5. Mai 2002, Sa. K., geboren am 6. Oktober 2003, und A. K., geboren am 9. Dezember 2005. Im Frühjahr 2005 kam der bislang unbestrafte Angeklagte H. mit der Familie K. in Kontakt, als er sich bereit erklärte, in der Wohnung, in der die Angeklagte K., ihre Töchter, die vier Söhne und ihr Ehemann lebten, umfangreiche Umbaumaßnahmen durchzuführen, die sich über mehrere Jahre erstreckten. Der Angeklagte H. erkannte aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten und manipulativen Persönlichkeit schnell die besondere familiäre Situation der christlich geprägten Familie und die Persönlichkeitsstruktur der Angeklagten K. mit ihrer Neigung zur Unterwürfigkeit und ihrem besonderen Bedürfnis nach Zuwendung. Dies ausnutzend, gelang es ihm zunehmend, sich so in die Familie zu drängen, dass sich die Eheleute K. vollständig entfremdeten und die Angeklagte K. ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem Angeklagten H. entwickelte, das es ihm in der Folge ermöglichte, seine Interessen und Wünsche durchzusetzen. Auf Vermittlung der Angeklagten K. zog der Angeklagte H. mit seiner damaligen Ehefrau und seinen zwei Söhnen in eine Wohnung im selben Haus und band sich so eng an die Familie der Angeklagten K., dass deren Mutter ihn im Jahr 2006 adoptierte.

In der Wohnung der Familie K. kam es an zwei nicht näher feststellbaren Tagen zwischen dem achten Geburtstag der Nebenklägerin S. K. am 5. Mai 2010 und Sommer 2010 sowie zwischen dem 1. Oktober 2010 und Ende Februar 2013 in insgesamt 188 Fällen (Taten 1 bis 188) zu ungeschütztem vaginalen Geschlechtsverkehr des Angeklagten H. mit ihr. Das Landgericht ist zugunsten des Angeklagten H. von mindestens zwei Taten in jeder der 93 Schulwochen des genannten Zeitraums ausgegangen.

Nachdem der Ehemann der Angeklagten K. dem Angeklagten H. im März 2013 in einem lautstarken Streit ein Hausverbot erteilt, sich die Ehefrau des Angeklagten H. von diesem getrennt hatte und aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, verlagerte sich das Geschehen in dessen Wohnung. Auf Anruf des Angeklagten H. brachte die Angeklagte K. die Nebenklägerin S. K. - später, nachdem diese dem Angeklagten H. „zu alt“ geworden war, auf sein entsprechendes Verlangen alternativ auch die Nebenklägerinnen Sa. oder A. K. - in seine Wohnung. Dort vollzog er zwischen dem 1. März 2013 und dem 5. Mai 2016, dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin S. K., in 348 Fällen den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr mit dem Mädchen (Taten 189 bis 536). Das Landgericht ist zugunsten des Angeklagten H. davon ausgegangen, dass es zu mindestens drei Taten in jeder der 116 Schulwochen im genannten Zeitraum kam.

Zwischen dem 23. April 2014 und dem 17. Mai 2017 kam es in 13 Fällen (Taten 549 bis 561) zu sexuellen Handlungen des Angeklagten H. an der Nebenklägerin Sa. K., wobei der Angeklagte H. in sieben Fällen (Taten 549, 553 bis 554, 557 und 559 bis 561) mit seinem Penis in die Vagina des Mädchens eindrang.

Zwischen dem 7. November 2015 und dem 26. Dezember 2016 nahm der Angeklagte H. in vier Fällen (Taten 562 bis 565) sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin A. K. vor, in einem Fall (Tat 564) drang er mit dem Daumen in die Vagina des Mädchens ein.

Der Angeklagte H. fertigte in einer Vielzahl von Fällen von der kindlichen bzw. jugendlichen Nebenklägerin S. K. und bei sämtlichen festgestellten Übergriffen auf die kindlichen Nebenklägerinnen Sa. und A. K. Foto- und Videoaufnahmen an, die teilweise die sexuellen Handlungen des Angeklagten H. an den Mädchen, teilweise deren Geschlecht unnatürlich betont zeigten und die der Angeklagte H. sich zu einem späteren Zeitpunkt zum Zwecke der sexuellen Erregung ansehen wollte.

Die Angeklagte K. billigte bis auf einen Fall (Tat 1) sämtliche Taten des Angeklagten H. Sie ermöglichte ihm den Zugang zu ihren Töchtern, indem sie ihn in ihre eigene Wohnung einließ bzw. die Mädchen in seine Wohnung brachte. In Bezug auf die Nebenklägerin S. K. trug sie dafür Sorge, dass diese in den Schulwochen nicht an Unternehmungen der Familie teilnahm, sondern zu Hause blieb, damit der Angeklagte H. jederzeit auf sie zugreifen konnte. Die Angeklagte K. sorgte nicht nur dafür, dass ihre Töchter die sexuellen Übergriffe erduldeten, sondern sie erklärte ihnen auch, dass niemand davon wissen dürfe, weil sonst ihre Familie zerbreche. Wenn sich die Nebenklägerinnen gleichwohl dagegen wehrten, ihre Mutter zum Angeklagten H. zu begleiten, geriet die Angeklagte K. in Panik und begann zu schreien. Die Mädchen gingen dann regelmäßig mit, damit ihre Mutter sich beruhige und um Auseinandersetzungen zwischen den Angeklagten zu vermeiden. Die Angeklagte K. setzte insbesondere die Nebenklägerin S. K. mit der Erklärung unter Druck, an ihrer Stelle eine der jüngeren Schwestern mitzunehmen.

Bei einer Vielzahl von Taten zum Nachteil der Nebenklägerin S. K. war die Angeklagte K. im Raum anwesend. Die Taten 549, 553 und 557 bis 560 zum Nachteil der Nebenklägerin Sa. K. beging der Angeklagte H. ebenfalls in Anwesenheit der Angeklagten K., die auf ihre Tochter Sa. einredete, damit diese die sexuellen Übergriffe duldete. Ebenso war die Angeklagte K. bei allen vier festgestellten Taten zum Nachteil der Nebenklägerin A. K. im Raum anwesend und wirkte beruhigend auf das Mädchen ein, damit die sexuellen Handlungen ungestört erfolgen konnten. Bei einer Vielzahl von Taten, bei denen der Angeklagte H. allein war, stellte die Angeklagte K. sicher, dass er ungestört blieb. In drei Fällen fertigte die Angeklagte K. Foto- bzw. Videoaufnahmen vom Geschlechtsverkehr des Angeklagten H. mit der kindlichen Nebenklägerin S. K. bzw. von Geschlechtsteilen des jugendlichen Mädchens in unnatürlich betonter Pose.

Als im Zuge der Aufdeckung der Taten die Angeklagte K. ihre Töchter aufgrund eines entsprechenden familiengerichtlichen Beschlusses vom 18. Mai 2017 nicht mehr mit dem Angeklagten H. zusammentreffen ließ, versuchte dieser nicht, Kontakt zu den Nebenklägerinnen aufzunehmen.

2. Das sachverständig beratene Landgericht hat von der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB gegen den Angeklagten H. abgesehen. Zwar lägen die formellen Voraussetzungen vor. Auch habe der Angeklagte H. einen Hang zur Begehung schwerer Straftaten wie den verfahrensgegenständlichen, weshalb er für die Allgemeinheit gefährlich sei. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung sei in Ausübung des eingeräumten Ermessens aber nicht erforderlich.

II.

Die Revision der Angeklagten K. ist unbegründet. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Auch die Strafzumessung weist keinen Rechtsfehler zu ihren Lasten auf.

III.

Die Revision des Angeklagten H. erzielt lediglich einen geringfügigen Teilerfolg.

1. Die Verfahrensrüge ist aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 14. November 2019 dargelegten Gründen unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

2. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift ausgeführt hat, hält die tateinheitliche Verurteilung wegen Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften in den Fällen 182 bis 188 und 526 bis 528 der Urteilsgründe sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Diese tateinheitlichen Verurteilungen entfallen, weil die Tatvorwürfe insoweit bereits verjährt waren. Der Lauf der Verjährung seit Tatbegehung zwischen dem 1. Oktober 2010 und dem 15. Juni 2013 konnte durch die am 12. September 2018 durchgeführte Vernehmung des Angeklagten H. nicht mehr unterbrochen werden.

Der Senat kann aber ausschließen, dass das Landgericht in den Fällen 182 bis 188 und 526 bis 528 ohne die jeweils tateinheitliche Verurteilung wegen Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften auf geringere Einzelfreiheitsstrafen erkannt hätte. Die zugehörigen Strafzumessungsausführungen (UA S. 87 bis 89) stellen rechtlich unbedenklich auf das durch die demütigenden Aufnahmen erschwerte konkrete Tatbild ab. Ohnehin können selbst verjährte tateinheitliche Gesetzesverletzungen mit geringerem Gewicht strafschärfend verwertet werden.

3. a) Darüber hinaus hat die umfassende Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge lediglich hinsichtlich der im Fall 558 verhängten Einzelfreiheitsstrafe einen Rechtsfehler ergeben.

Für diese Tat hat das Landgericht bei dem Angeklagten H. - anders als bei der Angeklagten K. - berücksichtigt, dass auf dem bei der Tat erstellten kinderpornographischen Material das Eindringen des Penis des Angeklagten H. in die Vagina der Nebenklägerin Sa. K. zu sehen sei (UA S. 89 f.). Das wird indes von den Feststellungen zu dieser Tat (UA S. 33) nicht getragen, die ein Eindringen in den Körper der Nebenklägerin nicht ausweisen. Hierdurch wird der Schuldspruch wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht berührt, weil - wie angeklagt - ein Fall der gemeinschaftlichen Tatbegehung der Angeklagten (§ 176a Abs. 2 Nr. 2 StGB) vorliegt. Der Senat kann angesichts des konkreten Tatbildes auch ausschließen, dass das Landgericht ohne die offenbar versehentliche Annahme eines Eindringens in den Körper im Fall 558 eine mildere Einzelfreiheitsstrafe gegen den Angeklagten H. verhängt hätte.

b) Im Übrigen bemerkt der Senat ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts lediglich das Folgende:

Die Behauptung der Revision, das Landgericht habe nicht bedacht, dass einige Schulferien in den Tatzeiträumen unter der Kalenderwoche begonnen hätten, und deshalb eine zu hohe Gesamtzahl an - gegebenenfalls anteilig zu berücksichtigenden - Schulwochen für die Berechnung der Taten zugrunde gelegt, trifft schon rechnerisch nicht zu.

4. Der lediglich geringfügige Erfolg seiner Revision lässt es nicht unbillig erscheinen, den Angeklagten H. mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels und den insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerinnen zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).

IV.

1. Die Beschränkung der Revision der Staatsanwaltschaft auf das Unterbleiben der Maßregelanordnung nach § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB ist unwirksam. Denn das Landgericht hat den Angeklagten auch deshalb nicht in der Sicherungsverwahrung untergebracht, weil bei ihm aufgrund der Wirkungen des langjährigen Strafvollzugs eine Haltungsänderung erwartet werden könne. Damit hat es Strafhöhe und Maßregelanordnung, zwischen denen in der Regel keine Wechselwirkung besteht (vgl. BGH, Urteile vom 8. August 2017 - 5 StR 99/17, NStZ-RR 2017, 310 und vom 1. Juli 2008 - 1 StR 183/08 jeweils mwN), in einen inneren Zusammenhang gesetzt, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. BGH, Urteile vom 11. Juli 2013 - 3 StR 148/13; vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172; vom 4. September 2008 - 5 StR 101/08, NStZ 2010, 387).

2. In der Sache beanstandet die Staatsanwaltschaft zu Recht die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB gegen den Angeklagten. Das Unterbleiben der Maßregelanordnung hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Zutreffend hat das Landgericht die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB bejaht und mit der Sachverständigen einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten und dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit festgestellt. Dennoch hat es in Ausübung des ihm durch § 66 Abs. 2 und 3 StGB eingeräumten Ermessens davon abgesehen, den Angeklagten in der Sicherungsverwahrung unterzubringen. Das erweist sich als rechtsfehlerhaft.

a) Die Beurteilung, ob ein Angeklagter infolge seines Hanges zur Begehung schwerer Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist, richtet sich nach der Sachlage im Zeitpunkt der Aburteilung (vgl. auch § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB). Ob der Angeklagte nach Strafverbüßung weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich und daher der Vollzug der Sicherungsverwahrung geboten ist, bleibt der Prüfung nach § 67c StGB vorbehalten. Soweit indes allein die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 oder 3 StGB in Betracht kommt, ist es dem Tatgericht grundsätzlich gestattet, bei der Ausübung seines Ermessens die zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs auf die Gefährlichkeit des Angeklagten zu berücksichtigen. Ihm ist die Möglichkeit eröffnet, sich ungeachtet der hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Urteilsfindung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich der Angeklagte schon die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Bestimmungen Rechnung getragen, die in den Fällen des § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB - im Gegensatz zu Absatz 1 der Vorschrift - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Angeklagten nicht voraussetzen. Ein Absehen von der Verhängung der Sicherungsverwahrung bei Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Täter aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender und therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Nur denkbare positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus (BGH, Urteile vom 26. Mai 2020 - 1 StR 538/19; vom 8. August 2017 - 5 StR 99/17, NStZ-RR 2017, 310; vom 11. Juli 2013 - 3 StR 148/13, NStZ 2013, 707; vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172; vom 4. September 2008 - 5 StR 101/08, NStZ 2010, 387).

b) Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidung des Landgerichts, den Angeklagten nicht in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, ermessensfehlerhaft. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass im Zeitpunkt der Urteilsfällung nicht zu erwarten sei, dass sich der Angeklagte trotz seines Hanges in Zukunft der Begehung erheblicher Sexualstraftaten an vorpubertären Mädchen enthalten könne (UA S. 97 f.). Die Erwägungen, mit denen das Landgericht gleichwohl die Verhängung einer Freiheitsstrafe für ausreichend und die Maßregelanordnung für verzichtbar gehalten hat, sind teilweise widersprüchlich und lückenhaft.

Soweit das Landgericht darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte ungeachtet seiner pädophilen Strömungen dazu in der Lage sei, mit erwachsenen Frauen längere sexuelle Beziehungen zu unterhalten und daher ohne Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen ein sexuell erfülltes Leben zu führen, hat es nicht erkennbar erwogen, dass der Angeklagte auch während des hiesigen Tatzeitraums solche sexuellen Beziehungen zu erwachsenen Frauen geführt hat, diese Kontakte ihn aber von Übergriffen auf Kinder und Jugendliche nicht haben abhalten können.

Die Erwägung des Landgerichts, der unbestrafte, mittlerweile 51 Jahre alte Angeklagte habe bislang ein sozial angepasstes, regelkonformes Leben geführt, greift zu kurz. Die soziale Anpassung des Angeklagten stand dessen Taten nicht entgegen, sondern trug eher zu ihrer Verschleierung bei; die Sachverständige hat den Angeklagten anschaulich als „sozial angepassten Psychopathen“ bezeichnet. Die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe ein regelkonformes Leben geführt, erschließt sich angesichts der Vielzahl abgeurteilter schwerer Sexualstraftaten zum Nachteil dreier Mädchen über einen Zeitraum von etwa sieben Jahren nicht.

Im Ausgangspunkt zu Recht hat das Landgericht darauf verwiesen, dass der Angeklagte erstmals eine langjährige Freiheitsstrafe verbüßen und anschließend ein entsprechend deutlich höheres Lebensalter erreicht haben werde. Das allein genügt aber nicht, zumal der Angeklagte nicht so alt ist, dass mit weiteren Sexualstraftaten nach einer Haftentlassung bereits deshalb nicht mehr gerechnet werden müsste (vgl. BGH, Urteil vom 19. Februar 2013 - 1 StR 275/12).

Auch die gegen die Notwendigkeit einer Maßregelanordnung angestellte Überlegung des Landgerichts, der Angeklagte halte sich an ihm ausdrücklich auferlegte Verbote, ist nicht belegt. Dass der intelligente Angeklagte im Angesicht eines schwebenden familiengerichtlichen Verfahrens und der damit einhergehenden Distanzierung der Angeklagten K. die Kontaktaufnahmen zu den Nebenklägerinnen nicht fortsetzte, ist für die zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten wenig aussagekräftig. Das gilt umso mehr, als er sich nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen im Tatzeitraum mehrfach von Verboten und Widerständen (Versperren des Weges durch die Söhne und den Ehemann der Angeklagten K., Wohnungsverweis 2010, Hausverbot 2013) nicht hat aufhalten lassen, sondern sie umging.

Maßgeblich hat das Landgericht bei seiner Entscheidung, von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abzusehen, darauf abgestellt, dass seine ausgeprägte Intelligenz es dem teilgeständigen Angeklagten erlaube, seine Taten angemessen zu reflektieren und eine ausreichende Motivation zu entwickeln, um die Ursachen seiner Straffälligkeit mit Unterstützung der sozialtherapeutischen Anstalt aufzuarbeiten und entsprechende Verhaltensstrategien zur Vermeidung künftigen strafbaren Verhaltens zu entwickeln. Es sei daher zu erwarten, dass der Gefährlichkeit des Angeklagten durch den bevorstehenden langjährigen Strafvollzug „mit etwaigen den Strafvollzug begleitenden therapeutischen Maßnahmen und mit Weisungen im Rahmen der sich dem Strafvollzug anschließenden Führungsaufsicht“ (UA S. 100) in ausreichender Weise begegnet werden könne.

Mit diesen Ausführungen beschreibt das Landgericht indes letztlich nicht mehr als die Hoffnung, dass der Angeklagte in der Haft eine Therapie aufnehmen, sie erfolgreich abschließen und auch gegebenenfalls erforderliche Folgemaßnahmen nach einer Haftentlassung wahrnehmen werde. Dies lässt besorgen, dass das Landgericht die Möglichkeit einer Verhaltensänderung mit deren erwartbarem Erfolg gleichgesetzt hat (vgl. BGH, Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172).

Dass sich die Hoffnung des Landgerichts auf eine Beseitigung der Gefährlichkeit des Angeklagten während des Strafvollzugs realisieren wird, liegt keineswegs auf der Hand. Auch wenn der Angeklagte angegeben hat, sich „etwaig notwendigen therapeutischen Gesprächen nicht verschließen“ zu wollen (UA S. 42), so hätte doch der Erörterung bedurft, ob die Persönlichkeitsakzentuierung des Angeklagten der Erfolgsaussicht therapeutischer Maßnahmen entgegenstehen könnte (vgl. zu diesem Aspekt BGH, Urteil vom 4. September 2008 - 5 StR 101/08, NStZ 2010, 387). Das Landgericht hat den Angeklagten nach der Einschätzung der Sachverständigen und verschiedener Zeugen nachvollziehbar als Menschen mit derart starken dissozialen und narzisstischen Zügen beschrieben, dass er dem Typus des sozial angepassten Psychopathen zuzuordnen sei; es handle sich um eine manipulative Persönlichkeit, die rücksichts- und bedenkenlos ihre Ziele erreichen wolle und impulsives aggressives Verhalten strategisch einsetze.

Zudem hat das Landgericht an verschiedenen Stellen des Urteils (UA S. 42, 71, 79) ausdrücklich ausgeführt, dass die durch den Angeklagten geäußerte Reue über die von ihm eingeräumten Taten nicht von Verantwortungsübernahme, Einfühlungsvermögen in Bezug auf die Geschädigten und von ihm empfundener Schuld gekennzeichnet gewesen sei, sondern sich darauf bezogen habe, formal gegen ein Gesetz verstoßen zu haben. Eine tiefergehende kritische Auseinandersetzung mit seinen Taten sei dem Angeklagten erkennbar bislang nicht möglich gewesen. Dieser - lediglich auf das Fehlen von gefährdungsmindernden Umständen abstellende (vgl. zur Abgrenzung von der Verwertung zulässigen Verteidigungsverhaltens BGH, Beschluss vom 21. August 2014 - 1 StR 320/14, NStZ-RR 2015, 9) - Gesichtspunkt wäre bei der Frage einer konkreten Erfolgsaussicht therapeutischer Maßnahmen zu erwägen gewesen. Das gilt umso mehr, als das Landgericht ausgeführt hat (UA S. 98), dass es dem Angeklagten an einer selbstkritischen Reflektion des eigenen Verhaltens und insbesondere an einer Einsicht in seine sexuellen Neigungen, die Ansatzpunkt für eine künftige therapeutische Bearbeitung seiner delinquenzrelevanten Persönlichkeitszüge sein könnte, fehle.

Schließlich hätten die konkreten Erfolgsaussichten therapeutischer Maßnahmen im Strafvollzug auch angesichts der zurückhaltenden Beurteilung durch die psychiatrische Sachverständige eingehenderer Begründung bedurft. Die Sachverständige hat ausgeführt, es sei zwar nicht auszuschließen, dass im Rahmen einer Therapie bzw. des Strafvollzuges auf den Angeklagten eingewirkt werden könne, allerdings habe eine therapeutische Intervention bisher nicht stattgefunden, und die Erfolgsaussichten seien aufgrund des Alters des Angeklagten und seiner eingeschliffenen Verhaltensweisen angesichts der vorliegenden Psychopathie schwer zu prognostizieren.

3. Um dem neuen Tatgericht eine umfassende Prüfung der Maßregelanordnung zu ermöglichen, hebt der Senat die hierzu getroffenen Feststellungen insgesamt auf, auch wenn sie hinsichtlich des Hangs und der darauf beruhenden Gefährlichkeit rechtsfehlerfrei getroffen sind.

4. Die gebotene Aufhebung des Urteils, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist, führt wegen des ausgeführten untrennbaren Zusammenhangs - allein zugunsten des Angeklagten H. (§ 301 StPO) - zur Aufhebung der verhängten Einzelfreiheitsstrafen und des Gesamtstrafenausspruchs. Der Senat kann nicht völlig ausschließen, dass das Landgericht trotz des besonders großen Schuldumfangs bei Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten geringere Strafen verhängt hätte. Der Aufhebung von Feststellungen bedarf es insoweit nicht, weil diese rechtsfehlerfrei getroffen worden sind (§ 353 Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1098

Bearbeiter: Christian Becker