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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 976

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 99/17, Urteil v. 08.08.2017, HRRS 2017 Nr. 976


BGH 5 StR 99/17 - Urteil vom 8. August 2017 (LG Berlin)

Unerlässlichkeit der Sicherungsverwahrung (Verminderung des vom Verurteilten ausgehenden Risikos durch Therapie während der Haft; konkrete Feststellungen zur Durchführbarkeit der vom Sachverständigen empfohlenen Therapie; Berücksichtigung des Gewichts der zu erwartenden Straftaten).

§ 66 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Trotz des Vorliegens der formellen Voraussetzungen sowie eines Hanges zur Begehung schwerer Straftaten kann es an der Unerlässlichkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung gem. § 66 Abs. 2, Abs. 3 StGB fehlen, wenn eine Therapie des besonders therapiegeeigneten Angeklagten im Strafvollzug eine wesentliche Verminderung des von ihm ausgehenden Risikos verspricht. In diesem Fall muss das Urteil aber konkrete Feststellungen zu der Frage enthalten, wie sicher oder wahrscheinlich die Durchführbarkeit der vom Sachverständigen empfohlenen Therapie ist. Zudem muss das Gewicht der vom Angeklagten infolge seines Hangs zu erwartenden Straftaten bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Oktober 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von der Anordnung von Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und wegen sexueller Nötigung in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt (Einzelstrafen: ein Jahr und drei Monate, zweimal ein Jahr und zehn Monate, zwei Jahre und vier Monate sowie zwei Jahre und zehn Monate). Mit ihrer auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung sachlichen Rechts. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der bislang unbestrafte Angeklagte spätestens 2012 in den Abend- und Nachtstunden in Berlin Prenzlauer Berg unterwegs, um nach attraktiven, unbegleiteten jungen Frauen Ausschau zu halten. Er verfolgte die Frauen mit dem Ziel, sich ihrer zu bemächtigen und sie an der Scheide und den Brüsten anzufassen. Bei den nächtlichen Streifzügen brach er teilweise die Verfolgung ab. Es kam indes zu fünf Überfällen, von denen zwei Gegenstand von Anklage und Schuldspruch sind, wohingegen drei Überfälle unbekannt gebliebene junge Frauen betrafen.

Im ersten Fall warf er am 9. April 2012 gegen 5:00 Uhr morgens die von einer Tanzveranstaltung heimkehrende 25-jährige Nebenklägerin Ba. rücklings zu Boden, presste seine Hand auf ihren Mund und setzte sich auf sie. Anschließend fasste er ihr bei fortdauernder Gewaltanwendung unter ihrem Kleid an die Brüste und in den Schritt, wobei er auch einen Finger in ihre Scheide einführte. Bei der Nebenklägerin traten neben einigen Abwehrverletzungen schwerwiegende und langanhaltende psychische Folgen auf.

Im zweiten Fall folgte der Angeklagte am 28. Mai 2012 nachts gegen 1:30 Uhr der 24-jährigen Nebenklägerin W. in den Flur ihres Wohnhauses, ergriff sie und stieß sie rücklings auf die Treppenstufen. Er warf sich auf sie, presste ihr den Mund zu und griff unter der Kleidung an die Scheide der sich heftig wehrenden Nebenklägerin. Durch die Tat wurde eine schwerwiegende Angstproblematik ausgelöst. Die Nebenklägerin musste deshalb umziehen und leidet unter Angstattacken.

Die zweite Tatserie begann nach Ende einer Beziehung des Angeklagten zu einer Frau im November 2015. In der Nacht zum 1. November 2015 folgte er gegen 3:00 Uhr morgens der 16-jährigen Nebenklägerin J. bis ins Treppenhaus ihres Wohnhauses. Dort hielt er ihr den Mund zu und drückte sie an die Wand. Dann griff er an die Scheide der Nebenklägerin, die aufgrund ihrer Abwehrversuche nach hinten gegen das Treppengeländer fiel und sich verletzte. Auch bei ihr sind erhebliche psychische Folgen verursacht worden.

In der Nacht zum 25. Dezember 2015 verfolgte der Angeklagte gegen 5:00 Uhr die 25-jährige Nebenklägerin B., die mit der 19-jährigen Nebenklägerin H. auf dem Nachhauseweg war. Er folgte ihnen bis in die Wohnung der Nebenklägerin B. Der Nebenklägerin H. griff er kraftvoll an die Scheide, schob sie ins Schlafzimmer, stieß sie auf den Boden und legte sich auf sie. Als die Nebenklägerin B., die die Toilette aufgesucht hatte, hinzukam, schob er sie gegen die Zimmerwand, fixierte sie und fasste unter ihrem Slip an ihre Scheide. Da sie sich wehrte, schlug er sie mindestens dreimal ins Gesicht und versetzte ihr mehrere Boxschläge. Auch die Nebenklägerin H. war psychisch erheblich beeinträchtigt.

Am Neujahrsmorgen 2016 folgte der angetrunkene Angeklagte der 25 Jahre alten Nebenklägerin Sch. unbemerkt in ihren Hauseingang, drückte sie an die Wand und zu Boden. Die zierliche Nebenklägerin schlug mit dem Hinterkopf auf dem Steinboden auf. Trotz erheblicher Gegenwehr gelang es dem Angeklagten, ihren Slip wegzuschieben und sie an der Scheide zu berühren. Erst nach längerem Kampf ließ er von seinem Opfer ab, das ihn kräftig in den Finger gebissen hatte. Die psychischen Folgen dieses Überfalls waren für die Nebenklägerin Sch. gravierend.

2. Das sachverständig beratene Landgericht hat von der Anordnung von Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB abgesehen. Zwar lägen die formellen Voraussetzungen vor. Auch habe der Angeklagte einen Hang zur Begehung schwerer Straftaten wie der begangenen, weshalb er für die Allgemeinheit gefährlich sei. Jedoch erscheine die Anordnung nicht unerlässlich, weil eine Therapie des besonders therapiegeeigneten Angeklagten im Strafvollzug eine wesentliche Verminderung des von ihm ausgehenden Risikos verspreche.

II.

Die Nichtanordnung der Maßregel hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf die Nichtanordnung der Maßregel beschränkt.

a) Grundsätzlich ist eine Beschränkung des Rechtsmittels auf das Unterlassen einer Maßregelanordnung möglich; dies gilt auch für die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung (st. Rspr., vgl. Meyer-Goßner, 60. Aufl., § 318 Rn. 23 ff. mwN).

b) Zwischen Strafe und Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung besteht - von Ausnahmefällen abgesehen - keine Wechselwirkung (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2008 - 1 StR 183/08 mwN). Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben. Zwar kann die Rechtsmittelbeschränkung der Staatsanwaltschaft ausnahmsweise unwirksam sein, wenn das Gericht die Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung mit den zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzuges begründet und damit Strafe und Maßregel in einen inneren Zusammenhang setzt, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 2013 - 3 StR 148/13 mwN). Dies hat die Strafkammer vorliegend aber nicht getan, sondern wesentlich auf den - innerhalb der in derartigen Fällen nicht besonders langen Haftzeit - nach zwei Jahren zu erwartenden Therapieerfolg abgestellt.

2. Die Frage, ob nach § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB Sicherungsverwahrung anzuordnen ist, bedarf erneuter Prüfung.

a) Zutreffend hat das Landgericht die formellen Voraussetzungen von § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB bejaht und mit dem Sachverständigen einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten und dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit festgestellt. Dennoch hat es in Ausübung des ihm durch § 66 Abs. 2 und 3 StGB eingeräumten Ermessens davon abgesehen, den Angeklagten in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, weil eine Haltungsänderung des Angeklagten aufgrund einer Therapie zu erwarten sei. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

b) Insoweit gilt (vgl. BGH, Urteile vom 11. Juli 2013 - 3 StR 148/13, vom 15. Oktober 2014 - 2 StR 240/14, NStZ 2015, 510, 511 f., vom 22. Oktober 2015 - 4 StR 275/15, vom 28. Juni 2017 - 5 StR 8/17; je mwN):

Die Beurteilung, ob ein Angeklagter infolge seines Hanges zur Begehung schwerer Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist, richtet sich nach der Sachlage im Zeitpunkt der Aburteilung (vgl. auch § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB). Ob der Angeklagte nach Strafverbüßung weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich und daher der Vollzug der Sicherungsverwahrung geboten ist, bleibt der Prüfung nach § 67c StGB vorbehalten. Soweit indes allein die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 oder 3 StGB in Betracht kommt, ist es dem Tatrichter grundsätzlich gestattet, bei der Ausübung seines Ermessens die zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs auf die Gefährlichkeit des Angeklagten zu berücksichtigen. Ihm ist die Möglichkeit eröffnet, sich ungeachtet der hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Urteilsfindung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich der Angeklagte schon die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Bestimmungen Rechnung getragen, die in den Fällen des § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB - im Gegensatz zu Absatz 1 der Vorschrift - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Angeklagten nicht voraussetzen. Ein Absehen von der Verhängung der Sicherungsverwahrung bei Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Täter aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender sowie therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Nur denkbare positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus.

c) Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidung des Landgerichts, den Angeklagten nicht in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, rechtsfehlerhaft.

Das Landgericht stützt sich entscheidend auf die vom Sachverständigen geäußerte Erwartung, eine in der Sozialtherapeutischen Anstalt der Justizvollzugsanstalt Tegel vorzunehmende zweijährige Verhaltenstherapie, an die sich eine dauerhafte ambulante Fortsetzung anschließen müsse, könne die Bereitschaft des Angeklagten zur Begehung von Taten nach dem geschilderten Muster entscheidend verringern. Die positive Erfolgsaussicht der Therapie folge aus der besonders hohen Therapieeignung des Angeklagten. Zwar sei damit zu rechnen, dass die Lebensumstände nach Haftentlassung noch ungünstiger seien als zu den Tatzeiten, aufgrund der Therapie sei aber zu erwarten, dass der Angeklagte mit Frustrationen in kompetenterer Weise umzugehen gelernt habe. Auch der Umstand, dass der therapiewillige Angeklagte sich nicht mehr für rückfallgefährdet halte und deshalb noch keine vollständige Einsicht in die Notwendigkeit der vom Sachverständigen angeratenen Verhaltenstherapie habe, stehe der Prognose eines Therapieerfolgs nicht entgegen, da er aufgrund seiner Schuldgefühle für die Therapiemotivation besonders gut zu erreichen sei.

Mit diesen Ausführungen beschreibt die Strafkammer letztlich nicht mehr als die Hoffnung, dass der bisher noch nicht dazu motivierte Angeklagte eine noch nicht konkret geplante zweijährige Verhaltenstherapie in der Sozialtherapeutischen Anstalt der Justizvollzugsanstalt Tegel antritt sowie erfolgreich beendet und sich anschließend in ambulante Therapie begibt. Die Bundesanwaltschaft beanstandet zu Recht, dass sich dem Urteil keine konkreten Feststellungen zu der Frage entnehmen lassen, wie sicher oder wahrscheinlich die Aufnahme des Angeklagten in die entsprechende Therapieeinrichtung der genannten Justizvollzugsanstalt mit der vom Sachverständigen empfohlenen Therapie ist. Zudem hat das Landgericht bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht erkennbar das Gewicht der vom Angeklagten infolge seines Hangs zu erwartenden schwerwiegenden Straftaten eingestellt, die - wie die Anlasstaten erweisen - geeignet sind, die willkürlich ausgewählten jungen Frauen namentlich seelisch schwer zu schädigen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Oktober 2014 - 2 StR 240/14, NStZ 2015, 510, 511).

d) Sonstige Gründe, die der Anordnung von Sicherungsverwahrung zwingend entgegenstehen könnten, ergeben sich aus dem angefochtenen Urteil nicht (zum anwendbaren Recht vgl. Art. 316f Abs. 1 EGStGB; zu dem - auch in Mischfällen wie dem vorliegenden - anwendbaren Prüfungsmaßstab vgl. BGH, Urteil vom 7. Januar 2015 - 2 StR 292/14, NStZ 2015, 208).

3. Um dem neuen Tatgericht eine umfassende neue Prüfung der Maßregel zu ermöglichen, hebt der Senat die hierzu getroffenen Feststellungen insgesamt auf, auch wenn sie hinsichtlich des Hangs und der darauf beruhenden Gefährlichkeit rechtsfehlerfrei getroffen sind.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 976

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 310

Bearbeiter: Christian Becker