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HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 790

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 148/13, Urteil v. 11.07.2013, HRRS 2013 Nr. 790


BGH 3 StR 148/13 - Urteil vom 11. Juli 2013 (LG Bückeburg)

Rechtsfehlerhaftes Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung (Berücksichtigung der zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs; Erforderlichkeit konkreter Anhaltspunkte für eine günstige Prognose).

§ 66 StGB

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 21. Dezember 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist

sowie zu Gunsten des Angeklagten im Strafausspruch.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zehn Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen. Hiergegen richtet sich die zunächst auf den Rechtsfolgenausspruch und sodann auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts.

1. Die Beschränkung der Revision auf das Unterlassen der Maßregelanordnung ist unwirksam. Das Landgericht hat den Angeklagten maßgeblich deswegen nicht in der Sicherungsverwahrung untergebracht, weil aufgrund der Wirkungen des langjährigen Strafvollzugs bei dem Angeklagten eine Haltungsänderung erwartet werden könne. Damit hat es Strafhöhe und Maßregelanordnung in einen inneren Zusammenhang gesetzt, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (BGH, Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, juris Rn. 2).

2. Die Revision beanstandet mit Recht, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat.

Zutreffend hat das Landgericht die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB bejaht. Dem Sachverständigen folgend hat es außerdem einen Hang des Angeklagten zur Begehung erheblicher Straftaten und dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung vom 22. Oktober 2010 festgestellt, der jedenfalls im Hinblick auf die Tat vom 22. September 2011 gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 1 EGStGB in Verbindung mit der Weitergeltungsanordnung im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., BVerfGE 128, 326) hier Anwendung findet. Dennoch hat es in Ausübung des ihm durch § 66 Abs. 2 StGB eingeräumten Ermessens davon abgesehen, den Angeklagten in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, weil eine Haltungsänderung des Angeklagten während der Dauer des Strafvollzugs zu erwarten sei. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Beurteilung, ob ein Angeklagter infolge seines Hanges zur Begehung schwerer Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist, richtet sich nach der Sachlage im Zeitpunkt der Aburteilung. Dies ist in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB für die Fälle der obligatorischen Verhängung der Sicherungsverwahrung nunmehr ausdrücklich geregelt. Ob der Angeklagte nach Strafverbüßung weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich und daher der Vollzug der Sicherungsverwahrung geboten ist, bleibt der Prüfung nach § 67c StGB vorbehalten (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2004 - 1 StR 474/03, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 7; Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172 f.).

Soweit indes allein die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 oder 3 StGB in Betracht kommt, ist es dem Tatrichter grundsätzlich gestattet, bei der Ausübung seines Ermessens die zu erwartenden Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs auf die Gefährlichkeit des Angeklagten zu berücksichtigen. Ihm ist die Möglichkeit eröffnet, sich ungeachtet der hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Urteilsfindung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich der Angeklagte schon die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Bestimmungen Rechnung getragen, die in den Fällen des § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB - im Gegensatz zu Absatz 1 der Vorschrift - eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Angeklagten nicht voraussetzen. Ein Absehen von der Verhängung der Sicherungsverwahrung bei Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte erwarten lassen, dass dem Täter aufgrund der Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und diesen begleitender resozialisierender sowie therapeutischer Maßnahmen zum Strafende eine günstige Prognose gestellt werden kann. Nur denkbare positive Veränderungen und Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug reichen nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 22. Oktober 2004 - 1 StR 140/04, NStZ 2005, 211, 212; Urteil vom 25. November 2010 - 3 StR 382/10, NStZ-RR 2011, 78; Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172 f.).

b) Nach diesen Maßstäben leidet die Entscheidung des Landgerichts, den Angeklagten nicht in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, an durchgreifenden Ermessensfehlern.

Sie stützt sich zunächst darauf, dass der Angeklagte während der Untersuchungshaft therapeutische Gespräche geführt habe, in deren Rahmen er eine gewisse "Opferempathie" habe erkennen lassen, die Therapeutin bei den Gesprächen das Gefühl gehabt habe, er bedauere die Sexualstraftaten, und er seine Bereitschaft zu einer Sozialtherapie geäußert habe. Auf dieser Grundlage ist der psychiatrische Sachverständige zu der - vom Landgericht geteilten - Einschätzung gelangt, dass sich die Prognose verbessert habe, weil sich durch eine Sozialtherapie die kognitiven Verzerrungen des Angeklagten verändern könnten und durch den Strafvollzug eine Haltungsänderung hinsichtlich seiner weiterhin grundsätzlich vorhandenen Bereitschaft, sich "sowohl Materielles als auch Nichtmaterielles zu nehmen", bewirkt werden könnte. Damit werden indes nur denkbare Wirkungen des künftigen Strafvollzugs benannt, die kaum mehr als eine Hoffnung beschreiben. Über die im Ansatz vorhandene allgemeine Unrechtseinsicht und Therapiebereitschaft des Angeklagten hinaus werden konkrete Anhaltspunkte für einen erwartbaren Erfolg der resozialisierenden und therapeutischen Maßnahmen im Strafvollzug nicht benannt.

Soweit das Landgericht ergänzend darauf abhebt, es sei nach Ansicht des Sachverständigen auch nicht zu erwarten, dass der Angeklagte nach seiner Haftentlassung noch einmal in eine vergleichbare Lebenssituation gerate wie zu den Tatzeiten (UA S. 54), steht dies zudem in einem nicht aufgelösten Widerspruch zu den sonstigen gutachterlichen Ausführungen. Danach habe sich der Angeklagte "in der Vergangenheit immer wieder Frauen mit Kindern gesucht oder habe mit seinen Lebenspartnerinnen Kinder gezeugt. Der Angeklagte könne nach seiner Entlassung aus der Haft wieder ähnliche Situationen konstituieren" (UA S. 53).

Nach alledem muss über die Sicherungsverwahrung nochmals entschieden werden; denn die aufgrund der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts (aaO) auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots in vorliegendem Fall weiterhin (BGH, Urteil vom 23. April 2013 - 5 StR 617/12; Urteil vom 12. Juni 2013 - 5 StR 129/13) vorzunehmende "strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung" steht der Anordnung der Sicherungsverwahrung hier nicht von vornherein entgegen.

3. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils im (unterbliebenen) Maßregelausspruch führt zu Gunsten des Angeklagten (§ 301 StGB) zur Aufhebung auch des gesamten Strafausspruchs. Im Hinblick auf die Erwägungen des angefochtenen Urteils zu den möglichen Wirkungen des langjährigen Strafvollzugs vermag der Senat nicht auszuschließen, dass die verhängten Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, wenn das Landgericht die nunmehr erneut im Raum stehende Sicherungsverwahrung verhängt hätte (vgl. BGH, Urteil vom 4. September 2008 - 5 StR 101/08, juris Rn. 23; Urteil vom 25. November 2010 - 3 StR 382/10, juris Rn. 14; Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, juris Rn. 17).

4. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin: § 51 BZRG enthält ein umfassendes Verwertungsverbot für getilgte oder tilgungsreife Eintragungen, das auch bei der Prüfung von Maßregeln der Besserung und Sicherung zu beachten ist. Eine Verwertung derartiger Voreintragungen kann auch nicht auf § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG gestützt werden. Diese Bestimmung lässt eine Berücksichtigung früherer Taten nur für die Beurteilung des Geisteszustandes des Betroffenen zu, nicht aber zur Begründung einer (nicht krankheitsbedingten) Gefährlichkeitsprognose (BGH, Beschluss vom 21. August 2012 - 4 StR 247/12, NStZ-RR 2013, 84).

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 790

Externe Fundstellen: NStZ 2013, 707

Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel