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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 179

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 102/23, Urteil v. 26.10.2023, HRRS 2024 Nr. 179


BGH 4 StR 102/23 - Urteil vom 26. Oktober 2023 (LG Arnsberg)

Ablehnung von Beweisanträgen (aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos: Indiztatsachen, keinerlei Sachzusammenhang, keine Beeinflussung des Urteils selbst im Fall ihres Erwiesenseins, erforderliche Begründung, Anführen der Erwägungen, Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen).

§ 244 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Indiztatsachen, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung keinerlei Sachzusammenhang besteht, oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten. Bei der Behauptung einer relevanten belastenden Tatsache durch die Staatsanwaltschaft muss deshalb eine bislang für den Angeklagten positive Beweislage durch die begehrte Beweiserhebung umschlagen können. Legt der Tatrichter rechtsfehlerfrei dar, dass die in dem Beweisantrag behauptete Tatsache auch dann, wenn sie durch die beantragte Beweisaufnahme bewiesen würde, ihn nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugen könnte, ist er nicht verpflichtet, den beantragten Beweis zu erheben.

2. Dabei muss nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihnen keine Bedeutung beimisst. Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte. Die erforderliche Begründung entspricht dabei grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen. Geht es um den Angeklagten belastende Beweisbehauptungen, hat die Ablehnung das ganze Beweisthema ohne Einengung, Verkürzung oder Unterstellung zu erfassen. Dies muss so geschehen, dass die Beweistatsache ohne Abstriche) sowie ohne Hinzufügung von nicht belegten, spekulativen Umständen in das bisher gewonnene Beweisgefüge einzustellen und als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 8. September 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB freigesprochen. Hiergegen richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge erhebt. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage wird dem Angeklagten zur Last gelegt, er sei am frühen Morgen des 23. Dezember 2020 mit seinem erigierten Penis in den Anus des bäuchlings auf seinem Bett schlafenden Nebenklägers eingedrungen. Dabei habe er ausgenutzt, dass der erheblich alkoholisierte und schlafende Geschädigte zu keinen Abwehrhandlungen oder Willensäußerungen in der Lage gewesen sei.

2. Das Landgericht hat den die Tatbegehung bestreitenden Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, weil es sich nicht davon zu überzeugen vermochte, dass sich das Geschehen im Zimmer des Nebenklägers - wie angeklagt - zugetragen hat.

a) Nach den Feststellungen warf der Zeuge K. am frühen Morgen des 23. Dezember 2020 unter Benutzung der Taschenlampenfunktion seines Mobiltelefons von außen einen kurzen Blick in das ansonsten unbeleuchtete Zimmer des mit ihm befreundeten Nebenklägers. Danach ging der Zeuge davon aus, er habe gesehen, wie sein Freund schlafend oder vom Alkohol bewusstlos auf dem Bauch im Bett gelegen und der Angeklagte sich auf ihn gelegt habe. Weiter meinte der Zeuge wahrgenommen zu haben, dass beide die Hose mindestens heruntergezogen gehabt hätten und der Intimbereich des Angeklagten sich unmittelbar über oder an dem Gesäß des Geschädigten befunden habe. Zudem hatte der Zeuge den Eindruck, der Angeklagte habe, wohl weil er auf das Licht der Taschenlampe aufmerksam geworden sei, den Kopf zum Fenster gedreht und in seine Richtung geschaut. Anschließend wandte sich der von seiner Wahrnehmung überraschte und erschrockene Zeuge von dem Geschehen ab und nahm in der Folge an, Geschlechtsverkehr zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger beobachtet zu haben, obgleich er weder den Penis des Angeklagten noch entsprechende Kopulationsbewegungen gesehen hatte. Dabei hielt er es für naheliegend, dass dies gegen den Willen seines Freundes oder jedenfalls ohne dessen Willen stattfand. Der Nebenkläger hatte nach dem Aufwachen gegen Mittag Beschwerden im Analbereich, die nach zwei bis drei Tagen nachließen. Bei einer am 29. Dezember 2020 durchgeführten ärztlichen Untersuchung konnten keine Verletzungen im Analbereich festgestellt werden.

b) Der Angeklagte hat angegeben, nach einer Feier den stark betrunkenen Nebenkläger nach Hause gebracht und in dessen Zimmer auf das Bett „gewuchtet“ zu haben. Dabei sei er möglicherweise auch halb über ihn gekommen oder auf ihn gefallen. Sie seien beide durchgängig komplett bekleidet gewesen. Ansonsten sei nichts geschehen.

Seine durchgreifenden Zweifel stützt das Landgericht maßgeblich darauf, dass „Vieles“ dafür spreche, dass sich die kurze Beobachtung und Bewertung des Zeugen K. in der Folge immer weiter dahingehend verselbständigt und verfestigt habe, analen Geschlechtsverkehr gesehen zu haben.

3. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrem Rechtsmittel unter anderem die Ablehnung eines Hilfsbeweisantrages, der auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Nachweis von Spermaspuren des Angeklagten auf den sichergestellten Kleidungsstücken und der Bettwäsche des Nebenklägers gerichtet war.

Das Landgericht hat den Hilfsbeweisantrag in den Urteilsgründen wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Hierzu hat es ausgeführt, dass selbst im Fall des Auffindens von dem Angeklagten zuzuordnenden Spermaspuren im Rahmen einer molekulargenetischen Untersuchung dies kein direkter Beweis für eine Vergewaltigung, sondern nur ein Indiz sei. Jedoch könne auch dann nicht hinreichend sicher darauf geschlossen werden, dass der Angeklagte mit seinem entkleideten Genitalbereich auf dem Nebenkläger gelegen habe und dabei mit seinem erigierten Penis in dessen Anus eingedrungen sei, denn eine Ejakulation des Angeklagten oder der Austritt von Sperma setze nicht zwingend eine Vergewaltigung voraus, sondern finde ebenso bei einvernehmlichen, aber auch bei autoerotischen Handlungen statt.

II.

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Die Rüge der Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 3 Var. 2 StPO dringt durch. Mit dieser Begründung durfte das Landgericht den Hilfsbeweisantrag nicht ablehnen.

a) Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Indiztatsachen, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung keinerlei Sachzusammenhang besteht, oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten. Bei der Behauptung einer relevanten belastenden Tatsache durch die Staatsanwaltschaft muss deshalb eine bislang für den Angeklagten positive Beweislage durch die begehrte Beweiserhebung umschlagen können. Legt der Tatrichter rechtsfehlerfrei dar, dass die in dem Beweisantrag behauptete Tatsache auch dann, wenn sie durch die beantragte Beweisaufnahme bewiesen würde, ihn nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugen könnte, ist er nicht verpflichtet, den beantragten Beweis zu erheben (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2015 - 4 StR 199/15 Rn. 13 mwN).

Dabei muss nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihnen keine Bedeutung beimisst. Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte. Die erforderliche Begründung entspricht dabei grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - 4 StR 293/14 Rn. 11 mwN; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 244 Rn. 152 mwN). Geht es - wie vorliegend - um den Angeklagten belastende Beweisbehauptungen, hat die Ablehnung das ganze Beweisthema ohne Einengung, Verkürzung oder Unterstellung zu erfassen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Februar 2015 aaO; Urteil vom 1. August 1989 - 1 StR 346/89, juris Rn. 3). Dies muss so geschehen, dass die Beweistatsache ohne Abstriche (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2018 - 4 StR 410/18 Rn. 12) sowie ohne Hinzufügung von nicht belegten, spekulativen Umständen in das bisher gewonnene Beweisgefüge einzustellen und als Teil des Gesamtergebnisses in ihrer indiziellen Bedeutung zu würdigen ist (vgl. KK-StPO/Krehl aaO; BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 - 2 StR 283/13 Rn. 6; Schneider, NStZ 2019, 103, 106; BGH, Urteil vom 26. Januar 1982 - 1 StR 802/81, NStZ 1982, 213 zur Wahrunterstellung).

b) Daran gemessen ist die Begründung, mit der das Landgericht den Hilfsbeweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen in den Urteilsgründen abgelehnt hat, rechtsfehlerhaft. Denn es hat die unter Beweis gestellte Tatsache nicht auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses in die Gesamtwürdigung eingestellt. Stattdessen hat es die grundsätzliche Aussagekraft eines fiktiven Nachweises von Sperma des Angeklagten in unzulässiger Weise relativiert, indem es eine Spurenlegung (auch) durch einvernehmlichen Geschlechtsverkehr bzw. durch eine autoerotische Handlung des Angeklagten für möglich gehalten hat. Hierbei handelt es sich aber um rein spekulative und fernliegende Überlegungen. Einvernehmliche sexuelle bzw. autoerotische Handlungen des Angeklagten sind weder mit seiner Einlassung noch mit der weiteren, in den Urteilsgründen dargestellten Beweislage in Einklang zu bringen. Das Landgericht stellt sogar selbst „klar“, dass es die Möglichkeit eines einvernehmlichen sexuellen Geschehens für eher fernliegend hält.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das freisprechende Urteil auf der fehlerhaften Ablehnung des Hilfsbeweisantrages beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Verfahrensverstoß zieht die Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen nach sich. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat zudem auf Folgendes hin:

Sollte das zur Entscheidung berufene Tatgericht Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite treffen, erfordert die sich aus § 264 StPO ergebende Kognitionspflicht, dass der - durch die zugelassene Anklage abgegrenzte - Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 13. April 2023 - 4 StR 429/22 Rn. 16 mwN; Urteil vom 15. Dezember 2022 - 3 StR 295/22 Rn. 12 mwN; Urteil vom 8. Dezember 2021 ? 5 StR 236/21 Rn. 10 mwN). Gemessen daran wird das neue Tatgericht nicht nur in den Blick zu nehmen haben, ob dem Angeklagten die Tatbegehung einer Vergewaltigung nachzuweisen ist. Die Angaben des Zeugen K. werden auch daraufhin zu bewerten sein, ob sich ihnen zumindest ein sexueller Übergriff nach § 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB entnehmen lässt.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 179

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede