HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 990
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 199/15, Urteil v. 30.07.2015, HRRS 2015 Nr. 990
1. Auf die Revision der Nebenklägerin Z. H. wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 10. Dezember 2014 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt; im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein eingezogen und angeordnet, dass dem Angeklagten vor Ablauf von fünf Jahren keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Die gegen dieses Urteil gerichteten Revisionen des Angeklagten und der Nebenklägerin B. H. hat der Senat mit Beschlüssen vom 18. Juni 2015 verworfen. Die Nebenklägerin Z. H. erhebt mit ihrem Rechtsmittel Verfahrensrügen sowie sachlich-rechtliche Beanstandungen. Das Rechtsmittel, das sich nicht gegen den Teilfreispruch des Angeklagten, sondern allein dagegen richtet, dass der Angeklagte nicht auch wegen eines versuchten vorsätzlichen Tötungsdelikts verurteilt wurde, hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Das Rechtsmittel der Nebenklägerin Z. H. ist wirksam darauf beschränkt, dass der Angeklagte, soweit er verurteilt wurde, nicht auch eines versuchten vorsätzlichen Tötungsdelikts zum Nachteil dieser Nebenklägerin schuldig gesprochen wurde.
Zwar hat die Nebenklägerin unbeschränkt Revision eingelegt und auch einen unbeschränkten Aufhebungsantrag gestellt. Aus der Begründung des Rechtsmittels entnimmt der Senat jedoch, dass dieses allein dagegen gerichtet ist, dass der Angeklagte nicht auch wegen eines versuchten vorsätzlichen Tötungsdelikts durch das Zu- und Überfahren der Nebenklägerin verurteilt wurde. Dies wird dadurch belegt, dass sie schon mit der Revisionseinlegung mitgeteilt hat, dass (lediglich) eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags angestrebt werde, und sich die Nebenklägerin auch in der Revisionsbegründung allein mit dieser Tat befasst, nicht aber mit den dem Freispruch zugrunde liegenden Schüssen aus einer Gaspistole in Richtung der Nebenklägerin und deren Familienangehörigen, die nach deren Angaben in der Hauptverhandlung gar nicht vom Angeklagten abgegeben wurden.
1. Soweit infolge der Beschränkung der Revision von Bedeutung hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Zwischen den Familien H. und K. bestanden Streitigkeiten, in deren Mittelpunkt die Eheleute A. und Ze. K., geborene H., standen. Ze. K., ihre Schwester Z. H. und ihre Mutter B. H. standen neben weiteren Familienangehörigen auf Seite der Familie H. ; der Angeklagte A. K. gehörte dem Lager der Familie K. an.
Am 11. November 2013 waren Angehörige der Familie H., unter anderem Ze. K., die damals vom Angeklagten getrennt lebte, sowie B. und Z. H., auf dem Weg zu einer Rechtsanwaltskanzlei, nachdem am Vortag im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung mit Angehörigen der Familie H. der Angeklagte verletzt worden war. Als sie den Imbiss eines Angehörigen der Familie K. passierten, kam es zu einer Schlägerei zwischen Mitgliedern der Familien H. und K., die durch Passanten beendet wurde. Anschließend gingen die sechs Mitglieder der Familie H. weiter auf dem rechten Bürgersteig in Richtung der Rechtsanwaltskanzlei. Dort bemerkte sie der Angeklagte, der mit seinem Pkw in Laufrichtung der Familie H. hinter diesen an einer Fußgängerampel stand. Er beschleunigte sein Fahrzeug „mit quietschenden Reifen“, fuhr auf den Bürgersteig und hielt auf einer Strecke von ca. 50 Meter zielgerichtet „deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit“ auf die Mitglieder der Familie H. zu, um zumindest Z. H. zu verletzen. Z. H., die mit ihrer Mutter in etwas Abstand zu den anderen Familienangehörigen ging, drehte sich um, als die „quietschenden Reifen“ zu hören waren, und sah den Angeklagten; sie ging aber weiter, da sie nicht dachte, dass der Angeklagte tatsächlich auf sie zu- bzw. sie anfahren würde. Sie wurde jedoch von dem vom Angeklagten gesteuerten Pkw frontal erfasst und stürzte anschließend von der Motorhaube vor dem Fahrzeug auf den Boden, wo sie auf dem Rücken liegen blieb. Der Angeklagte, der den Pkw zunächst schräg zur Hauswand hin angehalten hatte, rangierte sein Fahrzeug vor und zurück, um vom Bürgersteig herunterzufahren. Z. H. versuchte währenddessen, sich wieder aufzurichten und nahm dabei Blickkontakt zum Angeklagten auf. Gleichwohl fuhr der Angeklagte auf sie zu, wobei er sie mit dem Fahrzeug derart an der Nase traf, dass sie einen Nasenbeinbruch erlitt. Beim erneuten Zurücksetzen drückte der Angeklagte sodann B. H. mit seinem Fahrzeug gegen die Hauswand, wodurch sie verletzt wurde. Anschließend fuhr er erneut „billigend in Kauf nehmend, dass Z. H. immer noch vor seinem Fahrzeug auf dem Boden lag und verletzt werden könnte“ nach vorne und überrollte deren Oberschenkel.
2. Die (allgemeine) Strafkammer des Landgerichts, die das Verfahren nach Vorlage durch das Amtsgericht wegen „besonderen Umfangs“ übernommen hatte, hat hinsichtlich der Körperverletzung zum Nachteil von Z. H. durch das erste Anfahren direkten und im Übrigen bedingten Körperverletzungsvorsatz des Angeklagten angenommen; bedingten Tötungsvorsatz vermochte sie indes nicht festzustellen. Zwar sei der Angeklagte „deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit“ auf Z. H. zugefahren, jedoch sei diese nicht „so konkret und erheblich in Gefahr gebracht worden ..., dass daraus ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Angeklagte ein ernst zu nehmendes Todesrisiko für gegeben erachtet und in Kauf genommen hat“. Auch beim Überfahren „liegt kein derart risikobehaftetes Geschehen vor, aufgrund dessen die Kammer auf einen Tötungsvorsatz schließen kann. In dieser Situation kam es dem Angeklagten auf das Verlassen des Gehweges an.“ Sie bewertet das Verhalten des Angeklagten daher als gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB in Tateinheit mit in gleichartiger Tateinheit stehenden gefährlichen Körperverletzungen (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) zum Nachteil von B. und Z. H. Eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB sieht die Strafkammer nicht als gegeben an, weil sich „die Tatumstände ... nicht als derart gefährlich“ dargestellt hätten.
3. Die Nebenklägerin Z. H. beanstandet mit ihrem Rechtsmittel unter anderem die Ablehnung von zwei Beweisanträgen, die zum einen auf die Erholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens zur Geschwindigkeit des Pkws des Angeklagten („mindestens 40 km/h“), zum anderen auf die Vernehmung des Zeugen Ah. K. gerichtet waren. Dieser Zeuge sollte bekunden, dass der Angeklagte am Tattag ca. eine Stunde „vor dem Tatgeschehen bei dem Zeugen anrief und drohte, die Mitglieder der Familie H. umzubringen, sie mit dem Pkw zu überfahren und wenn sie nicht tot seien, dann sie zu erschießen oder mit dem Dönermesser abzustechen“. Hierdurch sollte die Tötungsabsicht des Angeklagten belegt werden.
Das Landgericht hat beide Beweisanträge wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Hierzu hat es - ähnlich wie zum ersten - beim zweiten Beweisantrag lediglich ausgeführt: „Die Beweisbehauptung ... ist für die Entscheidung aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung (§ 244 Abs. 3 S. 2, 2. Var. StPO). Ein möglicher Tötungsvorsatz ist für die angeklagte gefährliche Körperverletzung und den gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr ohne Bedeutung. Darüber hinaus will die Kammer weitere mögliche Schlüsse aus einem solchen Gespräch nicht ziehen.
Mit dieser Begründung durfte das Landgericht den Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen Ah. K. nicht ablehnen; sie ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.
1. Bereits die Annahme von Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Aus tatsächlichen Gründen bedeutungslos sind Indiztatsachen, wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung keinerlei Sachzusammenhang besteht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten. Bei Behauptung einer relevanten belastenden Tatsache durch die Staatsanwaltschaft oder einen Nebenkläger muss deshalb eine bislang für den Angeklagten positive Beweislage durch die begehrte Beweiserhebung umschlagen können. Legt der Tatrichter rechtsfehlerfrei dar, dass die in dem Beweisantrag behauptete Tatsache auch dann, wenn sie durch die beantragte Beweisaufnahme bewiesen würde, ihn nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugen könnte, ist er nicht verpflichtet, den beantragten Beweis zu erheben (zum Ganzen hinsichtlich einer Revision der Staatsanwaltschaft: BGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - 4 StR 293/14, NStZ 2015, 355, 356 mwN).
b) Daran gemessen ist die Annahme von Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen hinsichtlich der in dem zweiten Beweisantrag aufgestellten Beweisbehauptung rechtsfehlerhaft. Denn die Ankündigung einer von einem entsprechenden Vorsatz getragenen Tötungshandlung ist für die Beweiswürdigung hinsichtlich der subjektiven Seite der tatsächlich vorgenommenen, der Ankündigung entsprechenden Handlung regelmäßig von erheblicher Bedeutung (vgl. zur Bewertung des Zufahrens auf einen Fußgänger als versuchtes Tötungsdelikt: Senat, Urteile vom 29. Januar 2015 - 4 StR 433/14, NStZ 2015, 392 ff.; vom 25. Oktober 2012 - 4 StR 346/12, NStZ 2013, 156 ff).
Zudem lassen die Ausführungen der Strafkammer in dem Ablehnungsbeschluss besorgen, dass das Landgericht in unzulässiger Weise die Ablehnungsgründe der Bedeutungslosigkeit aus rechtlichen und aus tatsächlichen Gründen miteinander vermengt hat. Zwar trifft es zu, dass Tötungsvorsatz für die Bewertung einer Handlung als gefährliche Körperverletzung oder als gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr - aus Rechtsgründen - ohne Bedeutung ist, weil er sich auf keines der dortigen Tatbestandsmerkmale bezieht. Maßgeblich sind insofern jedoch nicht (nur) die in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss bejahten Straftatbestände, sondern die Tatbestandsmerkmale sämtlicher der tatrichterlichen Kognition unterliegenden Straftatbestände, mögen sie dem Angeklagten auch erst durch einen Hinweis im Sinne des § 265 Abs. 1 StPO angelastet worden sein oder angelastet werden können (vgl. auch BGH, Urteil vom 29. April 2010 - 3 StR 63/10, juris Rn. 10; Beschluss vom 13. Februar 2014 - 1 StR 336/13, juris Rn. 41).
2. Ferner ist der Beschluss, mit dem das Landgericht den Beweisantrag abgelehnt hat, unzureichend begründet.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsachen abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihnen keine Bedeutung beimisst. Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte. Die erforderliche Begründung entspricht dabei grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen; sie ist auf konkrete Erwägungen zu stützen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Oktober 2013 - 3 StR 135/13, NStZ-RR 2014, 54, 55; vom 18. März 2015 - 2 StR 462/14, juris Rn. 5). Geht es um den Angeklagten belastende Beweisbehauptungen, muss die Ablehnung das ganze Beweisthema ohne Einengung, Verkürzung oder Unterstellung erfassen und darlegen, warum dem Tatrichter die im Beweisantrag behauptete Tatsache in Verbindung mit dem bisherigen Beweisergebnis nicht ausreichen würde, um zu einer Verurteilung zu gelangen (zum Ganzen: BGH, Urteil vom 26. Februar 2015 - 4 StR 293/14, NStZ 2015, 355, 356; vgl. insbesondere zu einem Beweisantrag des Nebenklägers ferner BGH, Urteil vom 7. April 2011 - 3 StR 497/10, NStZ 2011, 713, 714 jeweils mwN).
b) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen genügt der Beschluss des Landgerichts offensichtlich nicht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 1. Oktober 2013 - 3 StR 135/13, NStZ-RR 2014, 54, 55).
3. Im Hinblick auf die mehrfachen Rechtsfehler des Landgerichts bedarf keiner Entscheidung, ob hinsichtlich des dem Nebenkläger zustehenden Beweisantragsrechts eine weniger restriktive Anwendung der gesetzlichen Ablehnungsgründe als beim Angeklagten vertretbar ist (so BGH, Beschluss vom 28. April 2010 - 5 StR 487/09, NStZ 2010, 714; hiergegen mit überzeugender Begründung BGH, Urteil vom 7. April 2011 - 3 StR 497/10, NStZ 2011, 713, 714).
Ferner kommt es nicht darauf an, dass die Verfahrensrüge, die den auf die Erholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrag zum Gegenstand hat, unzulässig ist (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), da sie insbesondere den Inhalt der ausdrücklich zum „Teil des Beweisantrags“ gemachten Daten-DVD nicht mitteilt (vgl. allgemein BGH, Beschlüsse vom 17. Juli 2014 - 4 StR 78/14, NStZ 2014, 604, 606 mwN; zu einer entsprechenden Bezugnahme in einem Urteil auch BGH, Urteil vom 2. November 2011 - 2 StR 332/11, BGHSt 57, 53; Beschlüsse vom 14. September 2011 - 5 StR 355/11, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 3 Verweisung 3; vom 14. März 2012 - 2 StR 547/11, StV 2013, 73).
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 990
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel