HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 977
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 178/22, Beschluss v. 21.12.2022, HRRS 2023 Nr. 977
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 10. Dezember 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) in den Fällen II. 1. b) aa) bis cc) der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und fünf Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat - soweit hier von Belang - im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte zog im Jahr 1994 zu seiner Lebensgefährtin, der Zeugin D., in eine Doppelhaushälfte in R., in der sie mit ihren Töchtern, der am 10. Dezember 1985 geborenen T. (im Folgenden: Zeugin T.), der am 22. April 1987 geborenen B. (im Folgenden: Nebenklägerin B.) und der am 21. Februar 1990 geborenen De. (im Folgenden: Nebenklägerin De.) lebte. Am 1. Juli 1996 wurde eine gemeinsame Tochter geboren. Während der berufsbedingten Abwesenheiten der Zeugin De. in den Abendstunden und an den Wochenenden betreute der arbeitslose Angeklagte die Töchter. Dabei kam es zu nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten zwischen dem 1. Februar 1999 und dem Auszug des Angeklagten im Jahr 2002 zu folgenden Vorfällen:
a) An einem Abend betrat der Angeklagte das Zimmer der damals mindestens acht und höchstens zwölf Jahre alten Nebenklägerin De., die im Bett lag, aber noch nicht schlief. Der nur mit einer kurzen Hose bekleidete Angeklagte setzte sich auf den Boden neben das Bett und berührte die Nebenklägerin unter ihrem Schlafanzug am Körper, entblößte den Genitalbereich des Kindes und streichelte es an der Scheide; dabei führte er einen Finger in die Vagina des Kindes ein und manipulierte dabei an seinem Penis (Fall II. 1. b) aa) der Urteilsgründe).
b) An einem weiteren Abend begab sich der Angeklagte erneut in das Zimmer der Nebenklägerin De. und führte die gleichen sexuellen Handlungen aus, wobei er das Kind zusätzlich mit dem Mund im Vaginalbereich „stimulierte“; aufgrund seiner Bartstoppeln führte dies zu einer Hautreizung und Schmerzen (Fall II. 1. b) bb) der Urteilsgründe).
c) An einem weiteren Abend, jedenfalls vor dem 14. Geburtstag der damals mindestens elfjährigen Nebenklägerin B., begab sich der Angeklagte in das zu diesem Zeitpunkt von ihr gemeinsam mit der Zeugin T. bewohnte Zimmer. Er ging zum Bett der Nebenklägerin, kniete dort nieder und beabsichtigte, sie im Bereich ihrer Scheide zu berühren. Die Nebenklägerin, der diese Vorgehensweise bereits bekannt war, versuchte dies zu verhindern, indem sie ihre Knie eng zusammenpresste. Der Angeklagte schob die Beine gegen den Widerstand der Nebenklägerin auseinander und berührte sie unter der Hose im Bereich der Scheide, wobei er mit dem Finger in diese eindrang (Fall II. 1. b) cc) der Urteilsgründe).
2. Der Angeklagte hat die Tatbegehung bestritten. Die insoweit sachverständig nicht beratene Strafkammer hat ihre Überzeugung von seiner Täterschaft auf die Angaben der Nebenklägerinnen De. und B. sowie der Zeugin T. gestützt, die sie als erlebnisbasiert und glaubhaft angesehen hat. Auf der Grundlage ihrer Angaben hat sich das Landgericht ? über die drei verfahrensgegenständlichen Taten hinaus ? von einer Vielzahl weiterer, gleichartiger Übergriffe zu Lasten der beiden Nebenklägerinnen sowie der im Tatzeitraum mindestens 13 und höchstens 17 Jahre alten Zeugin T. überzeugt. In Anwendung des Zweifelssatzes ist das Landgericht von mindestens zehn weiteren Übergriffen auf jedes der drei Mädchen ausgegangen, die sich über den gesamten Tatzeitraum erstreckten. Bei der Bemessung der Einzelstrafen hat das Landgericht „deutlich zu Lasten des Angeklagten“ berücksichtigt, dass die konkret angeklagten Taten „nicht die Gesamtheit der damals von ihm begangenen sexuellen Übergriffe darstellen, sondern nur einen Bruchteil“.
1. Die auf die Sachrüge gebotene Nachprüfung des Urteils führt zur Aufhebung der Verurteilung in den Fällen II. 1. b) aa) bis cc) der Urteilsgründe. Denn die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung hält auch unter Berücksichtigung des einschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 29. Januar 2020 - 4 StR 434/19 Rn. 7; Tiemann in KK-StPO, 9. Aufl., § 261 Rn. 188; jew. mwN) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) In Fällen, in denen - wie hier - „Aussage gegen Aussage“ steht, sind besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung als solche und deren Darstellung in den schriftlichen Urteilsgründen zu stellen. Das Tatgericht ist gehalten, alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, einzubeziehen und in einer Gesamtschau zu würdigen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 16. Dezember 2021 ? 3 StR 302/21 Rn. 36; Urteil vom 25. April 2018 - 2 StR 194/17, NStZ 2019, 42; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16 Rn. 16). Diese Beweiskonstellation erfordert eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben des Belastungszeugen, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20 Rn. 8; Beschluss vom 19. Mai 2020 ? 2 StR 7/20 Rn. 4 mwN). Die dabei angestellten tragenden Erwägungen sind sodann in den schriftlichen Urteilsgründen so darzulegen, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 ? 4 StR 480/20 Rn. 3 mwN).
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
aa) Es fehlt bereits an einer nachvollziehbaren Darstellung einer Analyse der Aussageinhalte der drei Zeuginnen.
In den Urteilsgründen ist dazu lediglich ausgeführt, dass die „inhaltliche Qualität und Detailliertheit“ der Angaben aller drei Zeuginnen nicht besonders hoch sei und sie lediglich zur Schilderung typischer, wiederkehrender Geschehensabläufe in der Lage gewesen seien; daher sei auch in Betracht zu ziehen, dass alle drei Zeuginnen fähig gewesen wären, ihre Angaben zu erfinden. Unter Berücksichtigung des Zeitablaufs von mindestens 20 Jahren und des Umstands, dass es sich nach den Schilderungen der Zeuginnen um Vorgänge gehandelt haben soll, die sich immer wieder in gleicher Art und Weise wiederholten, sei aber festzustellen, dass die Angaben der drei Zeuginnen „auch nicht vollkommen allgemein“ gehalten seien, sondern eine „durchaus erhebliche Anzahl konkreter Angaben und Details“ enthielten. Dabei hat das Landgericht auf Einzelheiten der Angaben der Nebenklägerin De. und der Zeugin T. verwiesen. Eine Inhaltsanalyse im Hinblick auf die Bekundungen der Nebenklägerin B. kann den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht entnommen werden.
Auf der Grundlage dieser Angaben kann die tatgerichtliche Wertung, die Aussagen aller drei Zeuginnen wiesen einen Detaillierungsgrad auf, der als Qualitätsmerkmal auf den Erlebnisbezug ihrer Angaben hindeute, nicht nachvollzogen werden.
bb) Auch die vom Landgericht vorgenommene Konstanzanalyse (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 28. April 2022 - 4 StR 299/21 Rn. 8; Beschluss vom 16. März 2022 - 4 StR 30/22 Rn. 6; Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR 409/16, NStZ 2017, 551, 552; Beschluss vom 5. April 2016 - 1 StR 53/16 Rn. 3; Beschluss vom 7. Juli 2014 ? 2 StR 94/14, NStZ-RR 2015, 120) ist nicht nachvollziehbar dargelegt. Die Urteilsgründe beschränken sich auf die Wiedergabe der Wertung, dass sich inhaltlich „eine sehr hohe Konstanz verglichen mit den Angaben der Zeuginnen bei der Polizei“ ergeben habe.
cc) Angesichts der Schwierigkeit der Beweislage vermag der Senat nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesen Darstellungsmängeln beruht. Das Urteil unterliegt daher insoweit bereits auf die Sachrüge hin der Aufhebung. Auf die hierauf bezogene und allein den Strafausspruch zu diesen Taten betreffende Verfahrensrüge einer Verletzung der Hinweispflicht kommt es daher nicht an.
2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Feststellungen im Fall II. 2. b) der Urteilsgründe - der Tat zum Nachteil der Nebenklägerin L. im Jahr 2021 ? beruhen auf einer tragfähigen Beweiswürdigung. Zwar hat das Landgericht den Umstand, dass „die Zeuginnen T., B. und De. übereinstimmend sehr ähnliche Handlungen des Angeklagten“ schilderten, als Indiz gewertet und angenommen, dass „der Angeklagte bei Lu. mit derselben Motivation in der ihm noch gut geläufigen Handlungsweise vorging wie ca. 20 Jahre zuvor“. Das Landgericht hat seine Überzeugung aber ersichtlich maßgeblich auf die von ihm und von der aussagepsychologischen Sachverständigen als erlebnisbasiert und glaubhaft erachteten ? früheren ? Angaben des Kindes gestützt. Bei dieser Sachlage schließt der Senat aus, dass das Urteil im Fall II. 2. b) auf diesem Beweisanzeichen beruht.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass sich das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht eingehender als bisher geschehen mit der Entstehungsgeschichte der Erstangaben der Nebenklägerinnen und einem möglichen Falschaussagemotiv bzw. mit der Hypothese eines Komplotts zu beschäftigen haben wird.
Sollte das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wiederum über die drei verfahrensgegenständlichen Taten hinaus Feststellungen zu weiteren Taten des Angeklagten treffen und diese strafschärfend berücksichtigen wollen, wird es zu beachten haben, dass die Verwertung von Taten, deren Verfolgung ein Verfahrenshindernis entgegensteht, im Rahmen der Strafzumessung voraussetzt, dass diese prozessordnungsgemäß und so bestimmt festgestellt sind, dass ihr wesentlicher Unrechtsgehalt abgeschätzt und eine unzulässige strafschärfende Berücksichtigung eines bloßen Verdachts ausgeschlossen werden kann (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 24. April 2018 ? 4 StR 60/18 Rn. 4; Beschluss vom 15. Oktober 2015 - 3 StR 350/15, StV 2016, 558; Beschluss vom 7. Januar 2015 - 2 StR 259/14 NStZ 2015, 555; Beschluss vom 20. August 2014 - 3 StR 315/14, StV 2015, 552, 553; Beschluss vom 7. August 2014 - 3 StR 438/13, NStZ-RR 2014, 340; Urteil vom 30. November 1990 - 2 StR 230/90 NStZ 1991, 182; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 46 Rn. 41; Kinzig in Schönke/Schröder, 30. Aufl., § 46 Rn. 33; Schneider in LK-StGB, 13. Aufl., § 46 Rn. 159; jew. mwN). Die Feststellung, dass es „eine Vielzahl weiterer, gleichartiger Übergriffe zu Lasten der beiden Nebenklägerinnen und auch zu Lasten der Zeugin T. gegeben“ habe, die sich über den gesamten Tatzeitraum erstreckten, genügt dafür schon deshalb nicht, weil sowohl die Zeugin T. als auch die Nebenklägerin B. im Tatzeitraum die Schutzaltersgrenze der §§ 176 und 176a StGB a.F. überschritten.
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Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede