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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 435

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 235/16, Beschluss v. 10.01.2017, HRRS 2017 Nr. 435


BGH 2 StR 235/16 - Beschluss vom 10. Januar 2017 (LG Erfurt)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Darstellung im Urteil in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, bestehen besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH NStZ 2002, 656, 657).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 1. Februar 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in jeweils fünf Fällen und wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in weiteren fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. a) Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2006 zusammen mit seiner Lebensgefährtin und deren Kindern, u.a. mit der am 21. November 2000 geborenen Geschädigten, in einem gemeinsamen Haushalt. Am 7. August 2010 heirateten er und seine Lebensgefährtin.

Im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 31. Dezember 2013 berührte der Angeklagte die Geschädigte an fünf verschiedenen nicht mehr feststellbaren Tagen im Bereich der Brust, zog sich und dem Kind die Hose aus, manipulierte mit seiner Hand an der unbedeckten Vagina der Geschädigten und berührte sie mit seinem unbedeckten erigierten Glied. „In mehreren Fällen“ sagte die Geschädigte zum Angeklagten, „dass es weh tue und dass er das lassen solle. Das führte aber nicht dazu, dass die sexuellen Handlungen aufhörten“ (Fälle II. 1. bis 5. der Urteilsgründe).

Innerhalb des vorgenannten Zeitraums forderte der Angeklagte das Kind an weiteren vier verschiedenen nicht mehr feststellbaren Tagen dazu auf, an ihm den Oralverkehr zu vollziehen. Das Kind leistete den Aufforderungen Folge und nahm den Penis des Angeklagten in den Mund; in einem Fall kam es zum Samenerguss im Mund der Geschädigten, die das Ejakulat „unter“ einen Teppich spuckte. „In den anderen Fällen kam es außerhalb des Mundes des Kindes zur Ejakulation“ (Fälle II. 6. bis 9. der Urteilsgründe).

An einem nicht mehr feststellbaren Tag im Zeitraum zwischen dem 1. Dezember 2013 und dem 31. Januar 2014 vollzog der Angeklagte mit der Geschädigten den vaginalen Geschlechtsverkehr; dabei benutzte er ein Kondom. Zu der Geschädigten sagte er danach u.a., dass er sie liebe, es ihr „kleines Geheimnis“ sei und sie es niemandem verraten dürfe (Fall II. 10. der Urteilsgründe).

b) Die Geschädigte offenbarte sich erstmals während ihrer Grundschulzeit, im März 2010, gegenüber einer Freundin, die ihrerseits davon der Hortleiterin erzählte. Die Geschädigte berichtete sodann auch der Hortleiterin und einer weiteren Mitarbeiterin des Hortes „von den sexuellen Übergriffen“. Sodann wurde die Mutter der Geschädigten informiert, die mit ihrer Tochter ins Krankenhaus fuhr. Aufgrund der dort vorgenommenen körperlichen Untersuchungen konnten „sexuelle Übergriffe weder bestätigt noch widerlegt werden“.

Die Mutter der Geschädigten spiegelte dieser sodann vor, sie habe den Angeklagten einem Lügendetektortest unterzogen. Ihrer Tochter überreichte sie daraufhin einen Brief mit dem Ergebnis des vermeintlichen Testes, wonach der Angeklagte „100%-ig die Wahrheit gesagt“ und die Geschädigte gelogen habe. Zunächst blieb das Kind dabei, dass seine Angaben zu den sexuellen Übergriffen der Wahrheit entsprochen hätten; etwa zwei bis drei Wochen später, noch im Jahr 2010 vor der Heirat ihrer Mutter mit dem Angeklagten, entschuldigte sich die Geschädigte bei dem Angeklagten.

In der Folgezeit traten zunehmend gesundheitliche, insbesondere psychische Probleme bei der Geschädigten auf. Sie unternahm Suizidversuche, „woraufhin es zu mehreren stationären Aufenthalten in der Kinderund Jugendpsychiatrie“ kam. Im Jahr 2013 offenbarte sich die Geschädigte einer weiteren Freundin. Der Angeklagte sei des Öfteren zu ihr ins Zimmer gekommen und habe sich nackt zu ihr ins Bett gelegt. Er sei dann mit seinem Glied an sie herangerückt. Sie habe ihm „einen Blasen“ müssen und es habe auch Geschlechtsverkehr gegeben.

Wegen eines Antrags auf Unterbringung der Geschädigten in einer geschlossenen Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie kam im Rahmen einer familiengerichtlichen Verhandlung im Juli 2014 der von der Geschädigten „bereits in der Grundschulzeit offenbarte sexuelle Missbrauch zur Sprache“, woraufhin die Richterin die Staatsanwaltschaft informierte.

c) Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten auch sexuelle Übergriffe zum Nachteil seiner am 24. Januar 2009 geborenen leiblichen Tochter zur Last gelegt. Aufgrund des Ergebnisses einer aussagepsychologischen Begutachtung sei deren allgemeine Aussagetüchtigkeit „noch nicht gegeben“, so dass die Jugendkammer insoweit die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hat.

2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen im Rahmen einer Gesamtwürdigung der erhobenen Beweise maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten gestützt. Deren Angaben entsprächen einem tatsächlichen Erleben und seien glaubhaft.

II.

Die Revision des Angeklagten hat Erfolg.

1. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hinsichtlich der sexuellen Übergriffe des Angeklagten hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 2008 - 5 StR 224/08, NStZ 2009, 401, 402) - sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (Senat, Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15 mwN). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (Senat, aaO).

Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 261 Rn. 3 und 38).

Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 1987 - 3 StR 141/87, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Beschluss vom 22. April 1997 - 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Urteil vom 3. Februar 1993 - 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15; Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 30. August 2012 - 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19; Urteil vom 6. April 2016 - 2 StR 408/15 mwN). Dabei sind gerade bei Sexualdelikten die Entstehung und die Entwicklung der belastenden Aussage aufzuklären (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656, 657).

b) Den danach an die Beweiswürdigung zu stellenden strengen Anforderungen ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Seine Beweiswürdigung leidet unter durchgreifenden Erörterungsmängeln.

aa) Bereits die Feststellungen und Erwägungen zur Aussageentstehung und -entwicklung, die für die Bewertung der Aussage von Geschädigten des sexuellen Missbrauchs von besonderer Bedeutung sind (vgl. auch BGH, Beschluss vom 24. April 2014 - 5 StR 113/14, NStZ-RR 2014, 219), sind widersprüchlich und lückenhaft.

Zwar teilt das Urteil mit, dass sich die Geschädigte bereits im März 2010 ihrer damaligen Freundin offenbart habe. Nach Aussage dieser Zeugin sei zwar das Wort „Vergewaltigung“ nicht gefallen, es seien aber „konkrete Angaben“ zu sexuellen Handlungen (UA S. 7, 13) gewesen, die indes das Landgericht nicht weiter erläutert. An anderer Stelle des Urteils führt das Landgericht hingegen - widersprüchlich - aus, dass diese Zeugin sich in der Hauptverhandlung nicht mehr habe erinnern können, was genau die Geschädigte damals gesagt habe (UA S. 13).

Soweit Angaben der Geschädigten gegenüber weiteren Zeugen festgestellt sind, erscheinen diese Angaben gegenüber denjenigen der Geschädigten im Ermittlungsverfahren detailarm und kaum aussagekräftig. Deswegen ist der Schluss des Landgerichts, die Angaben der Geschädigten „zum Kern des Geschehens (seien) stets nachvollziehbar und widerspruchsfrei“ (UA S. 15), für den Senat nicht nachvollziehbar, zumal an anderer Stelle festgestellt ist, dass die Angaben der Geschädigten „teilweise widersprüchlich“ sind (UA S. 22). Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in allen Einzelheiten wiederzugeben. In Fällen, in denen - wie hier - zum Kerngeschehen Aussage gegen Aussage steht, muss aber der entscheidende Teil einer Aussage in das Urteil aufgenommen werden, da dem Revisionsgericht ohne Kenntnis des wesentlichen Aussageinhalts ansonsten die sachlichrechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung nach den oben aufgezeigten Maßstäben verwehrt ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110, 111).

bb) Das Landgericht hat zwar die Möglichkeit einer Falschbelastung des Angeklagten durch die Geschädigte erörtert. Es hat die Offenbarungssituation gewürdigt und erörtert, ob es der Geschädigten möglicherweise nur darum gegangen sein könnte, „bei ihrem leiblichen Vater wohnen zu können oder jedenfalls aus der Wohnung ihrer Mutter auszuziehen“ (UA S. 19), zumal die Geschädigte gegen eine Heirat ihrer Mutter mit dem Angeklagten gewesen sei. Das Landgericht hat das (mögliche) Motiv für eine Falschbelastung unter anderem mit der Erwägung ausgeschlossen, dass die Geschädigte das Ziel, aus der Wohnung der Mutter auszuziehen, zur Zeit der polizeilichen Vernehmung im Jahr 2014 bereits erreicht habe. Indes übersieht die Jugendkammer, dass sich die Geschädigte zum Zeitpunkt der Erstoffenbarung im März 2010 noch in einer anderen familiären Situation befand, insbesondere weil die Heirat, die erst im August 2010 erfolgte, noch ausstand. Bereits zu einem Zeitpunkt vor der Erstoffenbarung hat sie ihren leiblichen Vater zudem nicht nur regelmäßig besucht sondern „ihrer Mutter mehrfach gesagt, dass sie gerne bei ihrem leiblichen Vater wohnen möchte“ (UA S. 11).

Hinzu kommt, dass es - auch nach der Einlassung des Angeklagten - zwischen ihr und ihrem Stiefvater „seit dem Jahr 2008“ (UA S. 10) vermehrt zu Schwierigkeiten und daraus resultierenden Sanktionen gekommen ist. Dass sie „zu ihrer Mutter kein gutes Verhältnis gehabt“ (UA S. 21) habe, erläutert die Jugendkammer im Einzelnen nicht näher.

cc) Ein Erörterungsmangel liegt schließlich auch darin, dass das Landgericht sich nicht näher damit auseinandergesetzt hat, dass die Geschädigte, „in der Folgezeit“ (UA S. 5, 9) wegen Suizidversuchen mehrfach in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen worden war und der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs im Rahmen einer familiengerichtlichen Verhandlung im Juli 2014 wegen eines Antrags auf (erneute) Unterbringung der Geschädigten in einer geschlossenen Einrichtung der Kinderund Jugendpsychiatrie von der Geschädigten „zur Sprache“ kam. Offen bleibt schon, ab wann und welche psychischen Probleme bei der Geschädigten auftraten, wann, warum und von welcher Art die Suizidversuche gewesen sind, und wie lange die jeweiligen stationären Aufenthalte in der Kinderund Jugendpsychiatrie dauerten. Inwieweit die jeweiligen Aussagen der Geschädigten, die zudem von einer Zeugin als Mädchen beschrieben wird, das „immer habe auffallen wollen und Wert darauf gelegt habe, im Mittelpunkt zu stehen“ (UA S. 7) und auch „nicht immer die Wahrheit gesagt habe“ (UA S. 14), von diesen „psychischen Problemen“ bzw. von - ebenfalls nicht näher ausgeführten - „Verhaltensauffälligkeiten“ (UA S. 20) geprägt sein könnten, erschließt sich dem Senat mangels näherer Erörterung durch das Landgericht nicht.

2. Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Tatrichter bei Einhaltung der sachlichrechtlichen Erörterungspflichten zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten gelangt wäre. Die Sache bedarf daher der Verhandlung und Entscheidung durch einen neuen Tatrichter.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 435

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 223 ; StV 2017, 367

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede