HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 432
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 489/20, Beschluss v. 24.02.2021, HRRS 2021 Nr. 432
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 19. August 2020
a) im Fall II. 4. a) der Urteilsgründe im Schuldspruch dahingehend berichtigt, dass der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Herstellen kinderpornographischer Schriften verurteilt ist;
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen II. 2. und II. 4. b) der Urteilsgründe verurteilt worden ist;
c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Ravensburg vom 25. Oktober 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Zudem hat das Landgericht angeordnet, dass von der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe ein Monat wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gilt. Die auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte manipulierte am 27. Juli 2012 in sexueller Motivation mit Finger und Zunge an der Scheide der damals vierjährigen L., der Tochter seiner Lebensgefährtin R. Die Geschädigte erlitt dadurch eine kleine Verletzung an der linken Schamlippe (Fall II. 2. der Urteilsgründe).
Zwischen dem 8. März 2018 und dem 30. April 2018 forderte der Angeklagte die nunmehr neun Jahre alte Geschädigte L., die zuvor auf Wunsch des Angeklagten ein fraulich wirkendes Neckholder-Kleid und einen Tanga-Slip angezogen hatte, zu sexuellen Posen auf, von denen er Fotos anfertigte. So musste die Geschädigte unter anderem auf Geheiß des Angeklagten auf dem Boden sitzend die Beine spreizen, den Tanga-Slip beiseite ziehen und mit ihren Fingern die Schamlippen auseinanderschieben. Ferner führte sie auf Anweisung des Angeklagten einen länglichen, pinkfarbenen Kunststoffgegenstand bestehend aus aneinandergereihten haselnussgroßen Kugeln in ihre Scheide ein. Zudem umfasste die Geschädigte auf Aufforderung des Angeklagten dessen Penis mit der rechten Hand (Fall II. 4. a) der Urteilsgründe).
Im April 2018 zog der Angeklagte der Geschädigten L. in deren Kinderzimmer die von ihr getragene kurze Hose nach unten und führte einen Finger in ihre Scheide ein. Als L. sagte, er solle aufhören, weil ihr das weh tue, kam der Angeklagte dieser Aufforderung nach (Fall II. 4. b) der Urteilsgründe).
2. Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten und sich dahingehend eingelassen, dass er hinsichtlich der erhobenen Vorwürfe von einem Komplott der Familie K. ausgehe, die ihn von Anfang an habe loswerden wollen. Die Strafkammer hat die Verurteilung im Fall II. 2. der Urteilsgründe im Wesentlichen auf die Angaben der Großeltern der Geschädigten, W. und Re., sowie ihrer Tante M. gestützt und dabei auf entsprechende Mitteilungen der Geschädigten gegenüber diesen einige Tage nach der Tat abgestellt. Hinsichtlich Fall II. 4. b) der Urteilsgründe hat die Strafkammer ihre Überzeugung maßgeblich auf die Angaben der Geschädigten in der Hauptverhandlung gestützt. In beiden Fällen hat das Landgericht zudem die im Fall II. 4. a) der Urteilsgründe gefertigten Lichtbilder herangezogen, die die (generelle) Richtigkeit der Angaben der Geschädigten belegten. Den Ausführungen des aussagepsychologischen Sachverständigen, der eine Erlebnisbasiertheit der Angaben der Zeugin L. in allen Fällen verneint hat, ist das Landgericht nicht gefolgt.
Den Freispruch vom Vorwurf eines weiteren sexuellen Missbrauchs im Jahr 2013 zum Nachteil von L. sowie vom Vorwurf der Körperverletzung im Februar 2018 und des sexuellen Missbrauchs im Frühjahr 2018 jeweils zum Nachteil seiner im Jahr 2012 geborenen Tochter Ro. hat das Landgericht damit begründet, dass es sich insoweit jeweils keine Überzeugung von den Taten zu bilden vermochte.
1. Wie von dem Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift angeregt, war der Schuldspruch im Fall II. 4. a) der Urteilsgründe entsprechend § 354 Abs. 1 StPO dahingehend zu berichtigen, dass der Angeklagte in diesem Fall wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Herstellen kinderpornographischer Schriften verurteilt ist.
2. In den Fällen II. 2. und II. 4. b) der Urteilsgründe hält die Beweiswürdigung sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denk- oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn das Tatgericht zu hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung stellt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. Juli 2019 - 4 StR 231/19 Rn. 7; Urteil vom 5. September 2019 - 3 StR 219/19 Rn. 8, jeweils mwN).
b) Dabei stellen besondere Beweissituationen erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung.
aa) So sind aufgrund des eingeschränkten Beweiswerts von Angaben eines Zeugen vom Hörensagen bei der Beurteilung der Aussage strengere Anforderungen an die Tragfähigkeit einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung zu stellen, weil das Tatgericht die Glaubwürdigkeit der unmittelbaren Beweisperson und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben nicht originär, sondern nur vermittelt über Berichte anderer beurteilen kann (vgl. BGH, Urteile vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02 Rn. 13 f. und vom 1. Februar 2005 - 1 StR 327/04 Rn. 18, BGHSt 50, 11, 15; KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 99). Auf die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen kann daher eine Feststellung nur dann gestützt werden, wenn sie durch andere wichtige und im unmittelbaren Bezug zum Tatgeschehen stehende Gesichtspunkte bestätigt wird (vgl. BGH, Urteile vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 Rn. 13, BGHSt 44, 153, 158 und vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02 Rn. 13; Beschluss vom 9. April 2013 - 5 StR 138/13 Rn. 4).
bb) Zudem bestehen gesteigerte revisionsgerichtliche Anforderungen an die Sachdarstellung und Erörterung der Beweislage in Fällen von „Aussage gegen Aussage“, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht aufrechterhält, der anfänglichen Schilderung einzelner Taten nicht gefolgt wird oder sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2008 - 5 StR 585/07 Rn. 9 und vom 12. September 2012 - 5 StR 401/12 Rn. 8). Auch sonst hat das Tatgericht in Fällen, in denen es den Angeklagten aufgrund derselben Zeugenaussage teilweise verurteilt, während es sich von anderen angeklagten Taten nicht überzeugen kann, genau darzulegen, warum es der Zeugenaussage in den Verurteilungsfällen folgt (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - 1 StR 612/19 Rn. 4 mwN).
cc) Überdies sind besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen, wenn das Tatgericht eine von einem Sachverständigengutachten abweichende eigene Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Belastungszeugen vornimmt. In einer solchen Konstellation muss sich das Tatgericht konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen und seine Auffassung tragfähig sowie nachvollziehbar begründen, um zu belegen, dass es mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch nimmt, nachdem es zuvor glaubte, sachverständiger Beratung zu bedürfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 - 2 StR 7/20 Rn. 7 und vom 2. Dezember 2014 - 4 StR 381/14 Rn. 9 f.).
b) Diesen Anforderungen wird das Urteil des Landgerichts in den Fällen II. 2. und II. 4. b) der Urteilsgründe nicht gerecht.
aa) Hinsichtlich Fall II. 2. der Urteilsgründe begegnet die Beweiswürdigung bereits deshalb Bedenken, weil das Landgericht seine Überzeugung von dem Tatgeschehen entscheidend auf die Angaben von Zeugen vom Hören-Sagen stützt und dabei maßgeblich auf die Aussagen der Großeltern und Tante der Geschädigten, denen die Geschädigte, die das Geschehen weder bei einer polizeilichen Vernehmung am 27. Juni 2014 noch in der Hauptverhandlung erinnerte, einige Tage nach der Tat unmittelbar vor der Abfahrt in einen Kroatienurlaub und im Urlaub berichtete. Es fehlt vorliegend jedoch an einer Bestätigung der Feststellungen durch andere wichtige und im unmittelbaren Bezug zum Tatgeschehen stehende Gesichtspunkte. Soweit das Landgericht die im Jahr 2018 vom Angeklagten von L. in sexuellen Posen gefertigten Lichtbilder heranzieht, vermögen diese Fotos eine im Jahr 2012 begangene, andere Tat nicht zu belegen.
Die Beweisführung zu Fall II. 2. der Urteilsgründe ist aber auch deswegen rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht die Beweiswürdigung, die dem Teilfreispruch zugrunde liegt, nicht erkennbar in seine Beweiswürdigung zum Verurteilungsfall einbezogen hat. In einem der den Freisprüchen zugrundeliegenden Fall (Anklageziffer 4) ist dem Angeklagten vorgeworfen worden, auch seine Tochter Ro. im Frühjahr 2018 sexuell missbraucht zu haben, indem er ihr sein Geschlechtsteil in den Mund gesteckt habe. Insoweit vermochte die Strafkammer gestützt auf die Angaben der Großmutter W. und der Geschädigten L., denen Ro., die sich in einer polizeilichen Vernehmung und in der Hauptverhandlung nicht an das Geschehen erinnern konnte, von dem Vorfall berichtet hatte, keine Überzeugung von der Tat zu gewinnen. Das Landgericht folgte diesbezüglich den Ausführungen des Sachverständigen Roh., der eine Erlebnisbasiertheit der Angaben Ro. s als fraglich bewertet hat. Dieser Fall hätte vom Verurteilungsfall abgegrenzt und überdies genau dargelegt werden müssen, warum im Verurteilungsfall die Angaben der Zeugin W. zutreffen sollten, im Freispruchsfall hingegen nicht, zumal der Sachverständige Roh. bezogen auf die Angaben der L. eine mögliche Suggestion durch andere und damit auch durch die Großeltern als möglich bezeichnet hat.
Schließlich genügt auch die Darstellung der Ausführungen des Sachverständigen, dessen Bewertung das Landgericht bezogen auf die Angaben der Zeugin L. nicht gefolgt ist, nicht den rechtlichen Anforderungen. Das Landgericht hat insoweit - im Übrigen lediglich zu Fall II. 4. a) der Urteilsgründe - generell ausgeführt, dass bezogen auf die Angaben der L. „aufgrund äußerer Einflüsse eine mögliche Suggestion durch andere und somit eine Erlebnisbezugsproblematik bestehen könnte“ und mögliche suggestive Einflüsse - durch suggestive Fragen in den polizeilichen Vernehmungen in den Jahren 2014 und 2018, den jahrelangen innerfamiliären Konflikt zwischen der Kindsmutter und den Kindsgroßeltern sowie die „Spieltherapie“ von 2012 bis 2014 bei der Beratungsstelle B. (Hilfe gegen sexuellen Missbrauch) - benannt (UA S. 27). Es fehlt jedoch eine konkrete Darstellung und Erörterung der Ausführungen des Sachverständigen, insbesondere auch mit Bezug zu den einzelnen Angaben der Zeugin L., die eine revisionsrechtliche Prüfung dieser Beweiswürdigung ermöglichen.
bb) Auch hinsichtlich Fall II. 4. b) der Urteilsgründe hätte sich das Landgericht mit der Beweiswürdigung, die dem Teilfreispruch in dem zuvor bereits genannten Fall Anklageziffer 4 zugrunde lag und in dem die Strafkammer sich nicht von der Richtigkeit der Angaben der Zeugin L. - über eine ihr gegenüber erfolgte Tatschilderung durch Ro. - überzeugen konnte, auseinandersetzen müssen.
Ein durchgreifender Rechtsfehler liegt zudem darin, dass die Darstellung der Ausführungen des Sachverständigen zu Fall II. 4. b), dessen Bewertung das Landgericht bezogen auf die Angaben der Zeugin L. auch in diesem Fall nicht gefolgt ist, nicht den rechtlichen Anforderungen genügt. Auch insoweit fehlt jedoch eine konkrete Darstellung und Erörterung der Ausführungen des Sachverständigen, die eine revisionsrechtliche Prüfung dieser Beweiswürdigung ermöglichen.
3. Der Senat schließt angesichts der vorhandenen objektiven Beweismittel im Fall II. 4. a) der Urteilsgründe in Form der von der Tat gefertigten Lichtbilder aus, dass sich die Fehler in der Beweisführung zu den Taten in den Fällen II. 2. und II. 4. b) der Urteilsgründe auf die Beweiswürdigung zu Fall II. 4. a) der Urteilsgründe ausgewirkt haben könnten.
4. Die Sache bedarf daher in den Fällen II. 2. und II. 4. b) der Urteilsgründe der neuen Verhandlung und Entscheidung naheliegend unter Hinzuziehung eines weiteren aussagepsychologischen Sachverständigen. Die Aufhebung der in den Fällen II. 2. und II. 4. b) der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.
5. Die Kompensationsentscheidung auf Grund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bleibt von der Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs unberührt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2019 - 1 StR 50/19 Rn. 10 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 432
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 182
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede