HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 861
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 30/21, Beschluss v. 10.06.2021, HRRS 2021 Nr. 861
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 28. September 2020 aufgehoben
a) im Ausspruch über die im Fall 1 der Urteilsgründe verhängte Einzelstrafe und im Gesamtstrafenausspruch,
b) im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen und
c) soweit eine Entscheidung über die Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung unterblieben ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs und mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort, mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr und mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von fünf Jahren angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen verbrachte der wegen Straßenverkehrsdelikten vorbestrafte Angeklagte im September 2016 mehrere Stunden auf einem Fest, auf dem er in der Annahme, später von einem Bekannten abgeholt zu werden, erhebliche Mengen Alkohol sowie Amphetamin konsumierte. Nachdem die übrigen Gäste und ein Shuttle-Bus das Fest verlassen hatten, realisierte der Angeklagte, dass er wider Erwarten nicht abgeholt werden würde. Er fuhr deshalb selbst mit seinem Fahrzeug über die B 406 in S., obwohl er wusste, dass er nicht über die erforderliche Fahrerlaubnis verfügte, und hätte erkennen können und müssen, dass er aufgrund der genossenen Rauschmittel zum Führen eines Kraftfahrzeugs nicht mehr in der Lage war. Seine Blutalkoholkonzentration betrug zu diesem Zeitpunkt mindestens 1,64‰ und maximal 2,54‰. Infolge überhöhter Geschwindigkeit und seiner drogen- und alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit erkannte der Angeklagte einen mit niedriger Geschwindigkeit in seiner Fahrtrichtung vor ihm fahrenden und aus einer Entfernung von 100 Metern erkennbaren Roller zu spät und kollidierte trotz einer noch eingeleiteten Vollbremsung mit diesem, wodurch der Fahrer des Rollers gegen die Windschutzscheibe des Pkw des Angeklagten geschleudert und tödlich verletzt wurde (Fall 1). Obwohl er davon ausging, dass der Rollerfahrer schwer verletzt war und ohne sofortige Hilfe versterben könnte, fuhr der Angeklagte weiter und versenkte sein Fahrzeug anschließend in der Sa., um seine vorausgegangenen Straftaten zu verdecken. Ein Versterben des Rollerfahrers infolge der unterlassenen Rettungsmaßnahmen nahm er billigend in Kauf (Fall 2).
2. Der Schuldspruch weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Auch der Strafausspruch im Fall 2 der Urteilsgründe ist nicht zu beanstanden. Dagegen hat der Strafausspruch im Fall 1 der Urteilsgründe keinen Bestand.
a) Das Landgericht hat angenommen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten infolge seines Alkohol- und Drogenkonsums nicht ausschließbar erheblich vermindert war (§ 21 StGB). Während es im Fall 2 der Urteilsgründe den Strafrahmen des § 211 StGB gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert hat, hat es im Fall 1 eine Verschiebung des der Zumessung zugrunde gelegten Strafrahmens des § 222 StGB abgelehnt, da bei einer Gesamtwürdigung die Schuldminderung durch schulderhöhende Umstände aufgewogen werde. Als schulderhöhend sei zu werten, dass der Angeklagte mit seiner Trunkenheitsfahrt bis zum Unfall gleich mehrere Delikte verletzt habe und er sich seiner Alkoholisierung ebenso „bewusst“ gewesen sei, wie des Umstandes, dass er den Shuttle-Bus hätte nutzen können. Außerdem habe er sich selbstverantwortlich betrunken, was unabhängig von einer für den Täter vorhersehbaren signifikanten Risikoerhöhung zu berücksichtigen sei, da die risikosteigernde Wirkung von Alkohol gerade bei der Teilnahme im Straßenverkehr allgemein bekannt sei.
b) Diese Erwägungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
aa) Über die fakultative Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB entscheidet das Tatgericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen aufgrund einer Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Umstände; insoweit steht dem Tatgericht ein weiter Ermessensspielraum zu (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15 Rn. 4; vom 25. März 2014 - 1 StR 65/14, NStZ-RR 2014, 238, 239; Urteil vom 10. November 1954 - 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28, 30). Im Rahmen seiner Ermessensausübung hat das Tatgericht im Ausgangspunkt Bedacht darauf zu nehmen, dass auf Grund der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit der Schuldgehalt der Tat in aller Regel verringert ist. Um dem Prinzip zu genügen, dass die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten darf, erfordert die Versagung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB deshalb schulderhöhende Umstände, die diese Schuldmilderung kompensieren (BGH, Beschlüsse vom 24. Juli 2017 - GSSt 3/17, BGHSt 62, 247, 262 Rn. 42; vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15 Rn. 4). Beruht die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf einer selbst zu verantwortenden Trunkenheit, kann dies allein zwar die Versagung einer Strafrahmenverschiebung tragen, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen und situativen Verhältnisse des Einzelfalls nicht festgestellt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 - GSSt 3/17, BGHSt 62, 247). Dies bedeutet allerdings nicht, dass im Fall selbstverschuldeter Trunkenheit eine Strafmilderung stets zu versagen ist. Vielmehr obliegt es dem Tatgericht zu bewerten, ob das Gewicht dieses Umstandes im konkreten Einzelfall hoch genug ist, um die aufgrund der erheblich verminderten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit verringerte Tatschuld aufzuwiegen (BGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 - GSSt 3/17, aaO Rn. 58).
bb) Gemessen hieran hält die tatrichterliche Ermessensentscheidung im Fall 1 der Urteilsgründe rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Erwägungen des Landgerichts sind lückenhaft und nicht frei von Widersprüchen.
Das Landgericht hat zwar im Grundsatz zutreffend die selbstverantwortete Trunkenheit als schulderhöhend gewertet, dabei aber nicht bedacht, dass der Angeklagte nach den Feststellungen im Zeitpunkt des Sich-Betrinkens nicht in Fahrbereitschaft war, sondern bis zuletzt davon ausging, abgeholt zu werden. Diesen Umstand hätte das Landgericht im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung mit Blick auf den dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurf einer Trunkenheitsfahrt und der hierdurch verursachten fahrlässigen Tötung nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Soweit das Landgericht darüber hinaus in seine Erwägungen als schulderhöhend eingestellt hat, dass dem Angeklagten seine Alkoholisierung bewusst gewesen sei, ist dies mit der Feststellung, der Angeklagte habe im Hinblick auf das Fahren in fahruntüchtigem Zustand und die hierdurch verursachte Gefährdung lediglich fahrlässig gehandelt, nicht vereinbar. Schließlich kann auch aus dem Umstand, dass dem Angeklagten - wie er wusste - ein Shuttle-Bus zur Verfügung stand, nicht auf eine erhöhte Tatschuld geschlossen werden. Denn der Angeklagte ging nach den Feststellungen davon aus, abgeholt zu werden und deshalb den Shuttle-Bus nicht zu benötigen. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht aufgrund dieser rechtsfehlerhaften Erwägungen von einem zu hohen Schuldgehalt ausgegangen ist.
Die der Strafzumessung zu Grunde liegenden Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen. Sie können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, soweit diese nicht mit den bisherigen in Widerspruch stehen.
3. Der Wegfall der Einzelstrafe im Fall 1 der Urteilsgründe führt zur Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs.
4. Auch der Ausspruch über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat keinen Bestand. Die Anordnungsvoraussetzungen des § 64 Satz 1 StGB sind nicht tragfähig belegt.
a) Nach den Feststellungen konsumierte der Angeklagte bis zur Tat regelmäßig am Wochenende Alkohol. Dabei vermied er es, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen. Nach der verfahrensgegenständlichen Tat trank er nur am Wochenende ca. ein bis zwei Bier. Außerdem rauchte er ein bis zwei Mal unter der Woche sowie am Wochenende jeweils zwei bis drei Joints und nahm bis zur Tat regelmäßig ca. ein Gramm Amphetamin zu sich. Das sachverständig beratene Landgericht hat hieraus auf einen regelmäßigen und eingeübten Konsum geschlossen. Angesichts des Konsumverhaltens und der Blutwerte sei ein Hang „nahezu handgreiflich“. Da der Drogen- und Alkoholkonsum des Angeklagten ein dauerhaftes Problem darstelle, sei auch mit der Begehung weiterer, vergleichbarer Straftaten in ähnlichem Kontext zu rechnen, auch weil der Angeklagte bereits wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs im Zusammenhang mit Alkohol und/oder Drogen strafrechtlich in Erscheinung getreten sei.
b) Diese Feststellungen und Erwägungen tragen bereits die Annahme eines Hanges nicht.
Ein Hang im Sinne von § 64 StGB liegt vor bei einer chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit oder aufgrund einer eingewurzelten, auf psychische Disposition zurückzuführenden oder durch Übung erworbenen intensiven Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 18. Februar 2021 - 4 StR 429/20 Rn. 18; vom 16. Januar 2019 - 2 StR 479/18 Rn. 5). Ein solcher Hang muss sicher festgestellt sein, nicht ausreichend ist, dass sein Vorliegen möglich oder nur nicht auszuschließen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2002 - 1 StR 382/02, NStZ-RR 2003, 106, 107).
Die Feststellungen zum Konsumverhalten des Angeklagten lassen das konkrete Ausmaß des Konsums und der Konsumneigung offen und belegen deshalb nicht den Schluss auf einen Hang. Angesichts des Umstands, dass der Angeklagte nach der Tat nur noch am Wochenende ein bis zwei Bier trank, liegt das Vorliegen eines alkoholbedingten Hanges im allein relevanten Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 18. Dezember 2019 - 2 StR 331/19 Rn. 6) keinesfalls auf der Hand. Feststellungen zum Cannabis- und Amphetaminkonsum nach der Tat fehlen völlig.
c) Auch die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig begründet. Den Urteilsgründen lässt sich auch in ihrem Gesamtzusammenhang nicht entnehmen, aufgrund welcher Umstände das Landgericht von einer „begründeten“ Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer hangbedingter Straftaten durch den Angeklagten (zum Maßstab vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2018 - 4 StR 356/18 Rn. 10 mwN) ausgeht. Soweit das Landgericht darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte bereits im Jahr 2009 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, fehlt es an Feststellungen, dass diese Verurteilung im Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol und/ oder Drogen stand.
5. Die Anordnung der isolierten Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis nach § 69a Abs. 1 Satz 3, § 69 Abs. 1 StGB kann ebenfalls nicht bestehen bleiben, weil sich die Begründung der Maßregelanordnung in allgemeinen Floskeln erschöpft und das Landgericht insbesondere den Zeitablauf seit der Tat nicht berücksichtigt hat.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung der Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen und deren voraussichtlicher Dauer ist der Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. Mai 2005 - 4 StR 85/03, BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 17; vom 11. September 1991 - 3 StR 345/91, BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 4). Liegen die den Eignungsmangel ausweisenden Taten geraume Zeit zurück und ist der Täter seither nicht mehr nachteilig aufgefallen, so kann darin ein Grund liegen, der die Beurteilung rechtfertigt, dass der ursprünglich vorhandene Mangel nicht mehr besteht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. September 1991 - 3 StR 345/91, BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 4; vom 6. September 1990 - 1 StR 455/90, BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung 2). Dies hat das Landgericht ersichtlich nicht bedacht. Auch wenn die Taten des Angeklagten auf einen besonders tiefgreifenden Eignungsmangel hindeuten, hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, ob seit dem Tatgeschehen eine Änderung der Eignungsbeurteilung des Angeklagten eingetreten ist.
Darüber hinaus hätte auch die Bestimmung der Dauer der Sperrfrist für sich genommen angesichts des langen Zeitablaufs und der angeordneten Höchstfrist einer besonderen, auf den Einzelfall bezogenen Begründung bedurft.
6. Schließlich begegnet es durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass die Strafkammer nicht erörtert hat, ob das Verfahren in rechtsstaatswidriger Weise verzögert wurde.
Wird lediglich - wie hier - die Verletzung sachlichen Rechts gerügt, so unterliegt die Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK vorliegt, nur dann der revisionsrechtlichen Überprüfung, wenn sich entweder die Verfahrensverzögerung aus den Urteilsgründen - gegebenenfalls unter Heranziehung der vom Revisionsgericht von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Verfahrenstatsachen - ergibt oder aber die Urteilsgründe jedenfalls ausreichende Anhaltspunkte enthalten, die das Tatgericht zur Prüfung einer Kompensation drängen mussten, so dass ein Erörterungsmangel gegeben ist (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 - 3 StR 99/19 Rn. 24; Urteil vom 28. Juni 2005 - 4 StR 119/05, NStZ-RR 2006, 56, 57; Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 376/03, BGHSt 49, 342).
So liegt der Fall hier. Angesichts des übersichtlichen Sachverhalts und des Umstandes, dass der Angeklagte noch in der Tatnacht als Täter ermittelt werden konnte, hätte es mit Blick auf eine mögliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung näherer Darlegung und Würdigung der Umstände bedurft, die dazu führten, dass es erst nach zwei Jahren zur Anklageerhebung kam und zwischen Anklageerhebung und Urteilsspruch, der nach nur zwei Hauptverhandlungstagen erfolgte, zwei weitere Jahre vergingen. Diese Prüfung wird das neue Tatgericht nachzuholen haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 861
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 93; StV 2022, 290
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß