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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 805

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 1/17, Urteil v. 22.06.2017, HRRS 2017 Nr. 805


BGH 4 StR 1/17 - Urteil vom 22. Juni 2017 (LG Detmold)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen, wenn Aussage gegen Aussage steht).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. An die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen sind besondere Anforderungen zu stellen, wenn im Wesentlichen Aussage gegen Aussage steht und objektive Beweisanzeichen fehlen. Bei einer solchen Beweissituation muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten durch eigene Äußerungen zur Sachlage besitzt.

2. Um die revisionsrechtliche Nachprüfung der Überzeugungsbildung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten zu ermöglichen, ist es in solchen Fällen daher regelmäßig geboten, näher auf die Aussageentstehung und alle Umstände, die zur Anzeigenerstattung geführt haben, einzugehen sowie darzulegen und zu erörtern, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage des Belastungszeugen in Betracht kommen könnten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 6. Oktober 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts Detmold vom 2. Oktober 2015, durch das gegen ihn wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung eine Jugendstrafe von drei Jahren verhängt worden war, zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Das Rechtsmittel des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg, weil die Beweiswürdigung Rechtsfehler aufweist.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wohnten der unter einer leichteren Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung leidende Angeklagte und die unter einer Lernschwäche leidende achtzehnjährige C. zur selben Zeit in einem Internat und begannen eine intime Beziehung, die der Angeklagte nach einigen Wochen beendete. Es kam danach noch ein- oder zweimal zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Am 19. November 2013 kehrte der Angeklagte nach Alkoholgenuss abends in das Internat zurück und klopfte bei der Zeugin C., die ihn in ihr Zimmer ließ. Der Angeklagte versuchte, die Zeugin C. zu küssen. Sie wollte das nicht und drehte ihren Kopf zur Seite. Der Angeklagte beschloss spätestens jetzt, mit ihr den Geschlechtsverkehr auch gegen ihren Willen auszuüben. Er schleuderte sie aufs Bett und legte sich auf sie. Die Zeugin C. versuchte vergeblich, sich durch Treten und Strampeln zu wehren. Der Angeklagte hielt ihre Handgelenke mit einer Hand fest und zog mit der anderen Hand ihre Hose herunter. Dann vollzog er den Geschlechtsverkehr, wobei er ihr den Mund zuhielt. Anschließend verließ der Angeklagte das Zimmer.

Die Zeugin C. schämte sich. Weil in der Tatnacht nur männliche Betreuer Dienst hatten, begab sie sich am Morgen zu der Betreuerin R. Als sie berichtete, der Angeklagte sei in ihr Zimmer gekommen und habe versucht, sie zu küssen, schickte sie Frau R. sofort zum Gruppenleiter M. Die Zeugin C. berichtete nun dem Gruppenleiter M. von dem „Vorfall“. Der Angeklagte, mit den Vorwürfen konfrontiert, räumte ein, versucht zu haben, die Zeugin C. in ihrem Zimmer zu küssen. In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte die Tat bestritten. Er sei nicht im Zimmer der Zeugin C. gewesen; bei dem Gespräch am nächsten Tag habe er nichts eingeräumt.

Die Strafkammer hat den Angeklagten auf Grund der Bekundungen der Zeugin C. als überführt angesehen.

2. Das Urteil hat keinen Bestand, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts rechtlicher Nachprüfung nicht standhält. Sie genügt nicht den Anforderungen, die an die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen zu stellen sind, wenn - wie vorliegend - im Wesentlichen Aussage gegen Aussage steht und objektive Beweisanzeichen fehlen. Bei einer solchen Beweissituation muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten durch eigene Äußerungen zur Sachlage besitzt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 351/14, Rn. 10; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368 jeweils mwN). Um die revisionsrechtliche Nachprüfung der Überzeugungsbildung des Tatrichters von der Täterschaft des Angeklagten zu ermöglichen, ist es in solchen Fällen daher regelmäßig geboten, näher auf die Aussageentstehung und alle Umstände, die zur Anzeigenerstattung geführt haben, einzugehen sowie darzulegen und zu erörtern, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage des Belastungszeugen in Betracht kommen könnten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2005 - 4 StR 552/04, Rn. 3; vom 10. Februar 2009 - 5 StR 12/09, StV 2009, 230 f.).

Daran fehlt es hier. Die Strafkammer hat die Aussagegenese, die es als Kriterium für die Glaubhaftigkeit der Aussage herangezogen hat, nur verkürzt dargestellt. Das Urteil enthält keine Ausführungen dazu, wie es zu dem Strafverfahren mehr als zwei Jahre nach der Tat gekommen ist. Dem Urteil lässt sich auch aus dem Gesamtzusammenhang nicht entnehmen, ob und gegebenenfalls aus welchem Grunde die Zeugin C., die nach ihren Angaben die Geschehnisse zu vergessen versuchte (UA 10), doch noch Strafanzeige gegen den Angeklagten erstattete. Das Urteil setzt sich zwar mit der Aussageentstehung insoweit auseinander, als es die Frage erörtert, ob die Zeugin C. seinerzeit dem Zeugen M. von einer Vergewaltigung berichtete oder nur erzählte, dass der Angeklagte versucht habe, sie zu küssen. Die Strafkammer hat dies nicht zu klären vermocht. Sie hat dazu festgestellt, dass der Zeuge M. keine Erinnerung mehr an das Geschehen hat (UA 15), ebenso wenig der damals anwesende Zeuge W. (UA 16). Aus dem Inhalt der von dem Zeugen M. damals gefertigten Vorfallsmeldung entnimmt die Strafkammer aber, dass dieser der Zeugin seinerzeit nicht glaubte. Unter diesen Umständen hätte die Strafkammer im Urteil näher darlegen müssen, wie das Verfahren Fortgang genommen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 4. April 2017 - 2 StR 409/16, Rn. 21).

Über die Sache ist deshalb insgesamt neu zu entscheiden.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 805

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner