HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 777
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 351/14, Urteil v. 22.04.2015, HRRS 2015 Nr. 777
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 21. Mai 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Seine dagegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit der Sachrüge Erfolg.
Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte und arbeitete die Nebenklägerin T. als Kellnerin in B. Den Vorschlag der ebenfalls als Kellnerin tätigen Zeugin Bo., einer Freundin des Angeklagten, ebenso wie sie selbst gelegentlich in Deutschland der Prostitution nachzugehen, um mehr Geld zur Verfügung zu haben, wies die Nebenklägerin zurück.
Im Oktober 2011 reiste der Angeklagte mit seinen Begleiterinnen Kar. und Bo. nach Deutschland. In A. wohnten sie bei dem Barbetreiber Ü., der Wohnungen u. a. an R. und B. vermietete, von denen einige der Prostitution nachgingen.
Zur gleichen Zeit berichtete der gesondert verfolgte Ka. in B. der Nebenklägerin wahrheitswidrig, in Deutschland eine Schwester zu haben, die ein Restaurant betreibe und gegen gute Bezahlung eine Kellnerin suche. Im Vertrauen darauf reiste die Nebenklägerin mit Ka., der für sie die Reisekosten verauslagte, nach K. Dort offenbarte ihr dieser, keine Schwester in Deutschland zu haben. Vielmehr solle die Nebenklägerin, was mit dem Angeklagten abgesprochen sei, der Prostitution nachgehen. Der sich weigernden Nebenklägerin erklärte er, dass sie ihm jetzt Geld schulde, und er den Angeklagten verständigen werde. Wenig später erschien dieser mit seinen Begleiterinnen Bo. und Kar. in K. und verbrachte die Nebenklägerin in die Wohnung im Hause des Zeugen Ü., die er dort bewohnte. Spätestens jetzt war der Angeklagte entschlossen, die Hilflosigkeit der lediglich bulgarisch und etwas russisch sprechenden Nebenklägerin, die darin bestand, dass sie in einem für sie fremden Land ohne Sprachkenntnisse, Geld, Arbeitsmöglichkeiten und Kontakte war, auszunutzen, um sie zu seinem finanziellen Vorteil in Deutschland der Prostitution zuzuführen. Ob der Zeuge Ka. und der Angeklagte zuvor vereinbart hatten, die Zeugin T. unter wahrheitswidrigen Angaben nach Deutschland zu lotsen, konnte die Kammer nicht feststellen.
Weil sich die Nebenklägerin zunächst weigerte, drohte er ihr damit, dass andernfalls „etwas Schlimmes“ passieren würde. Gleichzeitig nahm er ihren Pass an sich, um sie an einer Flucht zu hindern. Zudem verlangte der Angeklagte, die Nebenklägerin müsse sich auf eine Beziehung zum Zeugen Ü. einlassen, der ihm dafür im Gegenzug seine bei diesem bestehenden Schulden erlassen werde. Die Nebenklägerin, die miterlebt hatte, wie der Angeklagte die Zeugin Bo. mehrfach geschlagen hatte, gehorchte aus Angst, zumal der Zeuge Ü. ihr gegenüber freundlich auftrat und ihr neben einem Mobiltelefon auch Münzen zur Verfügung stellte, um an den Automaten in seiner Bar zu spielen.
In der Zwischenzeit reiste Ka. wieder ab. Sein Angebot, mit nach B. zu kommen, lehnte die Nebenklägerin ab, da sie von Ka., der ihr Vertrauen missbraucht hatte, keine Hilfe erwartete, sondern eine weitere Ausnutzung ihrer hilflosen Lage befürchtete.
Kurz darauf brachte der Angeklagte die Nebenklägerin zur Ausübung der Prostitution mit einer kurzen Unterbrechung nacheinander in zwei von dem Zeugen Ü. ausgewählte Bars. Er fuhr sie täglich zwischen 16 und 18 Uhr dorthin, um sie morgens zwischen 5 und 7 Uhr wieder abzuholen. Die Hälfte ihres Verdienstes musste die Nebenklägerin der Barfrau überlassen, die andere Hälfte dem Angeklagten. Um sicherzugehen, dass die Nebenklägerin arbeitete und um die Zahl der von ihr bedienten Freier zu kontrollieren, riefen der Angeklagte und Ü. die Nebenklägerin regelmäßig auf ihrem Mobiltelefon an. Da der Angeklagte mitunter der Meinung war, dass die Nebenklägerin nicht ausreichend Kunden bedienen bzw. heimlich Geld nach B. schicken würde, schlug er sie bei zwei Gelegenheiten in den Rücken, ohne dass dies zu sichtbaren Verletzungen führte.
Nachdem sich der Angeklagte Mitte Dezember 2011 mit dem Zeugen Ü. überworfen hatte und von diesem Repressalien fürchtete, kehrte er mit seinen Begleiterinnen Bo. und Kar. nach B. zurück. Das Angebot der beiden Frauen, mitzukommen, lehnte die Nebenklägerin ab, weil sie befürchtete, der Angeklagte würde ihr auf der Fahrt etwas antun und es deshalb das geringere Übel wäre, bei dem Zeugen Ü. zu bleiben, der sie allerdings in der Folgezeit nicht mehr zur Prostitution zwang. Im Februar 2012 gelang der Nebenklägerin die Flucht zu einer in Belgien lebenden Cousine.
Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die Verfahrensrüge nicht mehr ankommt.
1. Die den Feststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung der Kammer hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatgerichts; der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt aber, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2004, 238; 2005, 147, NJW 2006, 925, 928). In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe zudem erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13 und 14). Aus den Urteilsgründen muss sich schließlich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 2, 11; Beweiswürdigung, unzureichende 1; BGH NStZ 2002, 48; NStZ-RR 2004, 238). Diesen Anforderungen genügt die landgerichtliche Beweiswürdigung nicht.
a) Das Landgericht hat die Verurteilung allein auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt, die sie für glaubwürdig erachtet hat, weil sie den Sachverhalt - auch im Vergleich zu ihren Vernehmungen im Ermittlungsverfahren - durchgehend konstant, in sich widerspruchsfrei sowie auch insgesamt schlüssig und nachvollziehbar geschildert hatte. Nähere Einzelheiten hierzu - über die Mitteilung der landgerichtlichen Einschätzung hinaus - enthalten die Urteilsgründe nicht. Ohne Kenntnis aber von der Entstehungsgeschichte der Aussage und den Einzelheiten der Angaben der Zeugin im Ermittlungsverfahren kann der Senat, insbesondere in einem Fall, in dem dies wie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation besonders geboten ist, die Würdigung der den Angeklagten belastenden Aussage durch die Strafkammer nicht nachvollziehen.
b) Das Landgericht hat sich nach der knappen Würdigung der Angaben der Nebenklägerin mit einer Reihe von Umständen auseinandergesetzt, die der Überzeugungskraft ihrer Darlegungen entgegenstehen könnten. Es ist dabei zu der Überzeugung gelangt, dass etwa die Ablehnung des jeweiligen Angebots des Zeugen Ka. bzw. der Zeuginnen Bo. und Kar., mit ihnen nach B. zurückzufahren, keinen Einfluss auf die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hat, durch den Angeklagten (auch) mit Gewalt zur Prostitution gezwungen worden zu sein. Auch den Bekundungen der Zeugin Bo., die berichtet hatte, die Nebenklägerin habe in ihrem Beisein angegeben, mit dem Zeugen Ka. nach Deutschland gekommen zu sein, um der Prostitution nachzugehen, hat sie keine Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin beigemessen.
Es mag dahinstehen, ob die Strafkammer jeden dieser Umstände mit tragfähiger Begründung als unbeachtlich angesehen hat. Jedenfalls fehlt es - über die isolierte Bewertung dieser Umstände hinaus - an einer umfassenden Gesamtwürdigung, bei der sämtliche für und gegen die Täterschaft des Angeklagten sprechenden Umstände gegeneinander hätten abgewogen werden müssen.
2. Diese Mängel der landgerichtlichen Beweiswürdigung führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass im Hinblick auf das Merkmal der auslandsspezifischen Hilflosigkeit der Umstand, dass die Nebenklägerin über ein Telefon verfügte und damit womöglich Hilfe hätte herbeirufen können, um ihren Aufenthalt in Deutschland zu beenden, gegebenenfalls der Erörterung bedarf.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 777
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel