HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 511
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 592/16, Urteil v. 27.04.2017, HRRS 2017 Nr. 511
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 6. September 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision die Verletzung sachlichen Rechts. Sie macht geltend, die Strafkammer habe ihre Kognitionspflicht verletzt, weil sie den festgestellten Sachverhalt nicht unter dem Gesichtspunkt des § 316a Abs. 1 StGB bewertet habe. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg; zum Strafausspruch auch zu Gunsten des Angeklagten.
Das Landgericht hat im Wesentlichen die folgenden Feststellungen getroffen:
Am Abend des 9. März 2016 trafen sich der anderweitig verfolgte S. und der Angeklagte in der von dem Angeklagten genutzten Wohnung und tranken Alkohol. Dabei kam ihnen der Gedanke, einen Taxifahrer zu überfallen und auszurauben. Zu diesem Zweck wollten sie wie normale Fahrgäste in ein Taxi steigen und sich eine kurze Strecke fahren lassen. Am Ankunftsort wollten sie den Taxifahrer bedrohen, wobei ihn der Angeklagte von hinten „greifen“ sollte, und ihn so dazu bewegen, seine Geldbörse herauszugeben. Beim Verlassen der Wohnung nahm der Angeklagte noch eine Gesichtsmaske mit. An einem nahe gelegenen Taxistand bestiegen beide das dort wartende Taxi des Geschädigten G. Der Angeklagte nahm hinten Platz, während sich S. vereinbarungsgemäß auf den Beifahrersitz setzte. S. trug ein Messer bei sich. Auf Anweisung von S. fuhr der Geschädigte G. mit dem Taxi zu einer Spielhalle in einer nicht weit entfernten menschenleeren Straße. Dort traf das Taxi gegen 1.00 Uhr am frühen Morgen des 10. März 2016 ein. Der Angeklagte zog sich unbemerkt die Maske über das Gesicht. Der Geschädigte stellte das Taxi vor der Spielhalle ab, ohne allerdings die Handbremse anzuziehen. Er stellte das Taxameter aus und verlangte von S. das Fahrtentgelt in Höhe von 6,00 Euro. Gleichzeitig holte er aus einem in der Fahrertür befindlichen Fach sein Portemonnaie hervor. In diesem Moment packte der Angeklagte den Geschädigten mit mindestens einem Arm an der Stirn und zog dessen Kopf nach hinten, um ihn zu fixieren. Zeitgleich verlangte S. die Herausgabe des Portemonnaies. Außerdem nahm er das mitgeführte Messer in die Hand und hielt es dem Geschädigten an den Hals, ohne dass es dabei zu einer Berührung kam. Der Geschädigte wehrte sich und verweigerte die Herausgabe des Portemonnaies. In diesem Moment verließen mehrere Personen, unter ihnen drei mit dem Geschädigten persönlich bekannte Zeugen, die Spielhalle und traten auf den Gehweg vor dem Taxi. Dem Geschädigten gelang es, sich aus dem Griff des Angeklagten zu befreien, wobei er sich Schmerzen an der Stirn zuzog. Er öffnete die Fahrertür und verließ das Taxi. Dabei fiel sein Portemonnaie zu Boden. „Praktisch gleichzeitig“ öffnete der Angeklagte die linke hintere Tür, während S. die Beifahrertür aufmachte. Beide hatten erkannt, dass sie aufgrund des Widerstands des Geschädigten und der hinzugetretenen Zeugen ihre Tat nicht „wie geplant“ würden vollenden können. Das Taxi hatte infolge des Gerangels zu rollen begonnen, weshalb S. beim Aussteigen von der Beifahrertür erfasst wurde. Er konnte sich jedoch aufrappeln und flüchten. Der Angeklagte versteckte sich hinter einem Pkw, wo er von den nacheilenden Zeugen entdeckt wurde. Das Landgericht vermochte nicht auszuschließen, dass S. das Messer ohne Kenntnis und Billigung des Angeklagten bei sich hatte und überraschend einsetzte.
Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Sie deckt sowohl den Angeklagten begünstigende als auch ihn beschwerende Rechtsfehler auf (§ 301 StPO).
1. Das angegriffene Urteil kann keinen Bestand haben, weil das Landgericht gegen seine Pflicht, den Unrechtsgehalt der angeklagten Tat voll auszuschöpfen, verstoßen hat. Dies ist ein auf die Sachrüge hin zu beachtender Rechtsfehler (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 258/13, NStZ-RR 2014, 57).
a) Gegenstand der Urteilsfindung ist nach § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Dabei handelt es sich um den geschichtlichen Vorgang, auf den die Anklage und der Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Der Tatrichter ist verpflichtet, diesen Vorgang unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu untersuchen und ohne Bindung an die der Anklage und die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte rechtliche Bewertung (§ 264 Abs. 2 StPO) abzuurteilen, sofern dem keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2016 - 1 StR 492/15, insoweit nicht abgedruckt in NStZ-RR 2017, 45; Beschluss vom 15. Mai 1963 - 2 ARs 66/63, BGHSt 18, 381, 385 f. mwN).
b) Dieser Verpflichtung ist das Landgericht nicht in vollem Umfang nachgekommen, weil es die Tat, obwohl sich dies nach den Feststellungen aufgedrängt hat, nicht unter dem Gesichtspunkt des § 316a Abs. 1 StGB in den Blick genommen und beurteilt hat.
aa) Nach § 316a Abs. 1 StGB macht sich wegen räuberischen Angriffs auf einen Kraftfahrer strafbar, wer zur Begehung eines Raubes (§ 249 oder § 250), eines räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB) oder einer räuberischen Erpressung (§ 255) einen Angriff auf Leib oder Leben oder die Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs oder eines Mitfahrers verübt und dabei die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausnutzt. Führer eines Kraftfahrzeuges im Sinne dieser Bestimmung ist, wer das Fahrzeug in Bewegung zu setzen beginnt, es in Bewegung hält oder allgemein mit dem Betrieb des Fahrzeugs oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist. Bringt ein Kraftfahrer sein Fahrzeug nicht verkehrsbedingt zum Stehen, bleibt er solange Führer des Kraftfahrzeugs, wie er sich noch im Fahrzeug aufhält und mit dessen Betrieb oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist. Dies ist regelmäßig erst dann nicht mehr der Fall, wenn er sein Fahrzeug zum Halten gebracht und den Motor ausgestellt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2005 - 4 StR 299/04, BGHSt 50, 169, 171; Urteil vom 20. November 2003 - 4 StR 150/03, BGHSt 49, 8, 15; Ernemann in SSW-StGB, 3. Aufl., § 316a Rn. 11 mwN). Die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs werden ausgenutzt, wenn der Fahrzeugführer im Zeitpunkt des Angriffs noch in einer Weise mit der Beherrschung seines Kraftfahrzeugs oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist, dass er gerade deshalb leichter zu einem Angriffsobjekt eines Überfalls werden kann (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 28. April 2016 - 4 StR 563/15, NStZ 2016, 607, 608; Beschluss vom 25. September 2007 - 4 StR 338/07, BGHSt 52, 44, 46; Beschluss vom 28. Juni 2005 - 4 StR 299/04, BGHSt 50, 169, 172; Ernemann in SSW-StGB, 3. Aufl., § 316a Rn. 14 mwN). Dies kann auch bei einem nicht verkehrsbedingten Halt der Fall sein, wenn verkehrsspezifische Umstände vorliegen, die zu einer Beeinträchtigung der Abwehrmöglichkeiten des angegriffenen Fahrzeugführers geführt haben (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2006 - 4 StR 444/05, NStZ-RR 2006, 185, 186).
bb) Nach den Feststellungen haben der Angeklagte und S. gemeinsam einen Angriff auf die Entschlussfreiheit und den Körper des Geschädigten G. verübt, indem der Angeklagte dessen Kopf nach hinten zog und S. die Herausgabe des Portemonnaies verlangte. Dieser Angriff war auch auf die Begehung einer räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) gerichtet. Ob der zu diesem Zeitpunkt auf dem Fahrersitz seines Taxis sitzende Geschädigte noch Führer eines Kraftfahrzeugs war und, sofern dies der Fall gewesen sein sollte, von dem Angeklagten und seinem Mittäter die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausgenutzt wurden, hat das Landgericht nicht hinreichend geklärt. Aus den Feststellungen ergibt sich lediglich, dass der Geschädigte das Taxi vor der Spielhalle abstellte und die Handbremse nicht anzog. Ob er den Motor im Zeitpunkt des Angriffs bereits abgestellt hatte und wie das Fahrzeug gegen ein Wegrollen gesichert war, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Der Umstand, dass das Taxi „aufgrund des Gerangels zu rollen begann“, könnte darauf hindeuten, dass der Geschädigte sein Fahrzeug allein mit der Fußbremse fixiert hatte und deshalb im Zeitpunkt des Angriffes noch mit dessen Betrieb beschäftigt war. Auch fehlen konkrete Feststellungen zur Anhaltestelle und der konkreten Verkehrssituation (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2006 - 4 StR 444/05, NStZ-RR 2006, 185 [Halt bei laufendem Motor, Automatikgetriebe in Parkstellung]; Beschluss vom 17. Februar 2005 - 4 StR 537/04 [Halt bei laufendem Motor an einer schmalen Kreisstraße]; Beschluss vom 27. November 2003 - 4 StR 338/03, BGHR StGB § 316a Abs. 1 Straßenverkehr 17 [Halt bei laufendem Motor, Automatikgetriebe auf Dauerbetrieb, Fuß auf der Fußbremse]) sowie die weiteren Beispielsfälle im Beschluss vom 28. Juni 2005 - 4 StR 299/04, BGHSt 50, 169, 174).
Dieser den Angeklagten begünstigende Rechtsfehler führt zur Aufhebung des gesamten Urteils.
2. Die Überprüfung des Urteils hat auch einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben (§ 301 StPO). Denn das Landgericht hat bei der Bestimmung des Strafrahmens eine Strafrahmenverschiebung nach § 46b Abs. 1 Nr. 1, § 49 Abs. 1 StGB nicht in Betracht gezogen, obgleich den Urteilsgründen zu entnehmen ist, dass der Angeklagte bei der Ermittlung seines Mittäters S. Hilfe geleistet hat, indem er dessen Namen im Rahmen einer „Beschuldigtenvernehmung“ nannte. Danach liegt es nahe, dass auch die Voraussetzungen des § 46b Abs. 3 StGB erfüllt sind. Die Strafkammer hat die geleistete Aufklärungshilfe zwar bei der konkreten Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt; der Senat vermag aber nicht auszuschließen, dass sie ihr Ermessen dahin ausgeübt hätte, den Strafrahmen nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu mildern.
3. Die Verneinung eines Rücktritts vom Versuch der räuberischen Erpressung ist mit Rücksicht auf die Vorschrift des § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB nicht durchgreifend rechtsfehlerhaft. Soweit die Strafkammer in anderem Zusammenhang ausgeführt hat, dass der Angeklagte nach der Kenntnisnahme von dem Messereinsatz des Mittäters „von seiner Tat abließ“ (UA 7 und 9), ergibt sich daraus gerade nicht, dass auch S. von einer weiteren Tatbegehung freiwillig Abstand nahm. Für einen Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch ein einvernehmliches Nichtweiterhandeln aller Mittäter (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2012 - 4 StR 621/11, NStZ-RR 2012, 167, 168; Urteil vom 14. Mai 1996 - 1 StR 51/96, BGHSt 42, 158, 162 mwN) war danach auf der Grundlage dieser Ausführungen kein Raum.
Sollte die Frage eines Rücktritts wiederum zu erörtern sein, wird der neue Tatrichter zu beachten haben, dass ein Versuch fehlgeschlagen ist, wenn der Taterfolg aus der Sicht des Täters mit den bereits eingesetzten oder zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr erreicht werden kann, ohne dass eine neue Handlungs- und Kausalkette in Gang gesetzt wird. Dabei ist nicht auf den ursprünglichen Tatplan, sondern auf den Erkenntnishorizont des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung abzustellen. Die subjektive Sicht des Täters ist auch dann maßgeblich, wenn der Versuch zwar objektiv fehlgeschlagen ist, der Täter dies aber nicht erkennt (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2014 - 3 StR 458/14, NStZ-RR 2015, 105, 106; Beschluss vom 9. Juli 2009 - 3 StR 257/09, NStZ-RR 2009, 335 f.).
4. Das Vorliegen einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB vermag der Senat den zum Tatgeschehen getroffenen Feststellungen noch mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen. Danach packte der Angeklagte tatplangemäß den Geschädigten mit mindestens einem Arm an der Stirn und zog dessen Kopf nach hinten. Dies stellt eine üble, vom Willen des Angeklagten und seines Mittäters getragene unangemessene Behandlung dar, welche das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt und erfüllt damit den Tatbestand einer körperlichen Misshandlung (vgl. BGH, Urteil vom 15. September 2010 - 2 StR 400/10, NStZ-RR 2010, 374 [Ls]; Urteil vom 14. März 2007 - 2 StR 606/06, NStZ 2007, 404).
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 511
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede