HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 88
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 410/15, Beschluss v. 18.11.2015, HRRS 2016 Nr. 88
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 11. Mai 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Hilfsbedürftigen in einer Einrichtung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihm für immer verboten, den Beruf des Altenpflegers auszuüben. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der Angeklagte ist ausgebildeter Altenpfleger. Ab dem 1. November 2005 arbeitete er im Altenpflegeheim in W. Die zur Tatzeit 50jährige Z. litt unter einer leichten Intelligenzminderung und einer katatonen Schizophrenie. Wegen eines akuten Schubs ihrer Krankheit, der zu einem katatonen Stupor geführt hatte, befand sie sich bis zum 25. April 2006 stationär in einem Fachkrankenhaus. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wurde Frau Z. auf der Station 5 für psychisch erkrankte Bewohner des Altenpflegeheims in W. untergebracht. Frau Z. litt unter Antriebsdefiziten und affektiver Verflachung; sie erhielt eine erhebliche Menge an Psychopharmaka, Beruhigungsmittel und eine Schlafmedikation. Sie war in ihrer Auffassungsfähigkeit eingeschränkt, ihre Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, war herabgesetzt und ihre Widerstandskraft gegen Forderungen Dritter war deutlich vermindert. Der Angeklagte, dem das Krankheitsbild bekannt war, suchte Frau Z. etwa eine Woche lang allabendlich auf und berührte sie an der unbedeckten Brust und am unbedeckten Geschlechtsteil. An einem Tag zwischen April und Anfang Juli 2006 forderte er Frau Z. auf, ihm in ein unbelegtes Zimmer zu folgen. Frau Z. tat dies aufgrund ihres psychischen Zustands; auch glaubte sie, der Angeklagte habe ein ehrliches - nicht nur sexuelles - Interesse an ihr. In dem Zimmer führte der Angeklagte den Geschlechtsverkehr mit Frau Z. aus (Fall 1). Frau Z. äußerte während des Geschlechtsakts, dass sie das nicht wolle, leistete jedoch aufgrund ihrer psychischen Verfassung keinen aktiven körperlichen Widerstand. Dem Angeklagten war bewusst, dass sie wegen ihrer Erkrankung und ihrer Medikation ihren entgegenstehenden Willen nicht betätigen konnte.
Ab dem 1. Dezember 2011 arbeitete der Angeklagte im Altenpflegeheim „Am B.“ in M. An einem Tag zwischen Anfang November 2012 und Mitte Dezember 2012 begab sich der Angeklagte gegen 22.00 Uhr in das Zimmer der schlafenden 84jährigen S., die zur Tatzeit noch geistig rüstig, aber nahezu erblindet war. Er forderte sie in harschem Befehlston auf, aufzustehen und sich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen. Frau S. fühlte sich an Vorgänge im Dritten Reich erinnert und war zutiefst verängstigt, so dass sie den Forderungen des Angeklagten nachkam. Sie hielt ihr Nachthemd vor der Brust zusammen, der Angeklagte zog im rückwärtigen Bereich daran. Dann kniff er von hinten in ihre bedeckte Brust, was ihr Schmerzen bereitete. Der Angeklagte griff ihr an das Geschlechtsteil und führte mehrere Finger in die Vagina ein, wobei er sehr grob vorging und ihr erhebliche Schmerzen zufügte. Dann führte er mehrere Finger in den Anus ein und berührte sodann erneut den Vaginalbereich (Fall 2). Er forderte Frau S. auf, sich wieder in ihr Bett zu legen, was sie aus Angst vor ihm auch tat. Der Angeklagte legte ihr eine zusammengerollte Decke auf den Bauch oder auf die Beine und warf sich mit Wucht auf sie. Sodann ging er in das Badezimmer, nahm einige Unterhosen aus dem Wäschekorb und roch daran, um sich zu erregen. Aufgrund der Progredienz seiner Uro- und Koprophilie, seiner fetischistischen Devianz, seiner dissozialen Persönlichkeitsakzentuierung und einer sadistischen Tendenz war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei dieser Tat erheblich vermindert.
Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Verurteilung wegen Vergewaltigung unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB begegnet in beiden Fällen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Verwirklichung des Tatbestandes des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB unter anderem, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist. Diese Schutzlosigkeit muss eine Zwangswirkung auf das Opfer in der Weise entfalten, dass es aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Täters in Gestalt von Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen einen - ihm grundsätzlich möglichen - Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet; auf diese Umstände muss sich der - zumindest bedingte - Vorsatz des Täters erstrecken (vgl. dazu BGH, Urteile vom 27. März 2003 - 3 StR 446/02, NStZ 2003, 533, 534; vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 366; Beschlüsse vom 4. April 2007 - 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280, 284; vom 11. Juni 2008 - 5 StR 193/08, NStZ 2009, 263; vom 10. Mai 2011 - 3 StR 78/11, NStZ-RR 2011, 311, 312; vom 20. Oktober 2011 - 4 StR 396/11, NStZ 2012, 209; vom 21. Dezember 2011 - 4 StR 404/11, NStZ 2012, 570, 571, jeweils mwN; anders noch BGH, Urteil vom 20. Oktober 1999 - 2 StR 248/99, BGHSt 45, 253, 255 ff.).
2. Gemessen daran hat das Landgericht die Voraussetzungen von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB in beiden Verurteilungsfällen nicht ausreichend festgestellt.
a) Das Landgericht hat im Fall 1 zwar Feststellungen dazu getroffen, dass sich die Geschädigte Z. zum Tatzeitpunkt aus psychischen Gründen objektiv in einer schutzlosen Lage befand. Dass sie die sexuellen Handlungen des Angeklagten gerade aus Angst vor Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen hingenommen hat und der Angeklagte dies erkannte und zumindest billigend in Kauf nahm, ergeben die Urteilsfeststellungen jedoch nicht. Die Geschädigte Z. wurde danach vielmehr auch durch den Glauben, der Angeklagte habe ein „ehrliches“ Interesse an ihr, dazu veranlasst, ihm zu folgen.
b) Im Fall 2 kann der Schuldspruch nicht bestehen bleiben, weil sich das Urteil nicht zum Vorsatz des Angeklagten verhält. Das Landgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, welche Vorstellung der Angeklagte hatte, weshalb sich die Geschädigte S. nicht gegen seine Handlungen zur Wehr setzte und ob er es jedenfalls billigend in Kauf nahm, dass die - wie es an anderer Urteilsstelle heißt - vor Angst zitternde Frau gerade im Hinblick auf ihre Schutzlosigkeit auf möglichen Widerstand verzichtet hat.
3. Die Sache bedarf daher insgesamt der Aufhebung.
a) Nach den getroffenen Urteilsfeststellungen liegt es zwar nahe, dass der Angeklagte im Fall 1 die Widerstandsunfähigkeit der Geschädigten Z. im Sinne des § 179 StGB ausgenutzt hat, wie es der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift vom 16. September 2015 zutreffend ausgeführt hat. Einer Schuldspruchänderung durch den Senat, wie vom Generalbundesanwalt beantragt, steht aber § 265 StPO entgegen, da nicht auszuschließen ist, dass sich der Angeklagte gegen diesen Tatvorwurf anders als geschehen hätte verteidigen können.
b) Im Fall 2 wird der neue Tatrichter zu prüfen haben, ob möglicherweise (auch) die Tatbestandsvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das Kneifen in die Brust oder das Ziehen am Nachthemd erfüllt ist oder eine konkludente Drohung (§ 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB) vorlag.
c) Im Fall 2 führt die Aufhebung der Verurteilung wegen Vergewaltigung auch zur Aufhebung der tateinheitlichen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs einer Hilfsbedürftigen in einer Anstalt. Zum Tatbestandsmerkmal des Anvertrautseins weist der Senat vorsorglich auf SSW-StGB/Wolters, 2. Aufl., § 174a Rn. 15 hin.
d) Die Aufhebung des Schuldspruchs entzieht dem Rechtsfolgenausspruch die Grundlage. Bezüglich der Verhängung eines lebenslangen Berufsverbots weist der Senat hinsichtlich der Anforderungen an dessen Begründung vorsorglich auf BGH, Beschluss vom 12. September 1994 - 5 StR 487/94, NStZ 1995, 124 und LK/Hanack, 12. Aufl., § 70 Rn. 63 f. mwN hin.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 88
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2016, 78
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede