HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 247
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 404/11, Beschluss v. 21.12.2011, HRRS 2012 Nr. 247
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 11. März 2011 mit den Feststellungen aufgehoben
a) in den Fällen II. 2, 3, 4, 6, 7, 8 und 9 der Urteilsgründe,
b) in den Fällen 1 und 5 der Urteilsgründe im Strafausspruch,
c) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses in drei Fällen sowie wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Ferner hat es angeordnet, dass der Angeklagte für die Dauer von fünf Jahren keine Berufstätigkeiten im Bereich der praktischen ambulanten Pflegedienste für weibliche Patienten ausüben darf.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision und rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge überwiegend Erfolg.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte arbeitete seit Juni 2007 als examinierter Altenpfleger im ambulanten Pflegedienst. Im Rahmen dieser Tätigkeit lernte er die damals 28 Jahre alte K. kennen, die seit ihrer Geburt wegen eines frühkindlichen Hirnschadens an starken Spastiken litt, nahezu vollständig auf einen Elektrorollstuhl angewiesen war und lediglich noch ihren linken Arm frei sowie zwei Finger ihrer rechten Hand eingeschränkt bewegen konnte. Daher benötigte sie bei nahezu allen Verrichtungen des täglichen Lebens umfassende Unterstützung, ebenso bei der regelmäßig erforderlichen Einnahme von Medikamenten.
Verschiedene bei dem ambulanten Pflegedienst angestellte Pflegekräfte, darunter auch der Angeklagte, erschienen täglich bis zu fünfmal für auf jeweils 30 bis 45 Minuten angesetzte Pflegeeinsätze; zusätzlich war für die Geschädigte eine über eine Notruftaste erreichbare Rufbereitschaft installiert. Im Tatzeitraum von Dezember 2008 bis zum 19. Oktober 2009 absolvierte der Angeklagte insgesamt mindestens 36 Einsätze im Rahmen der ambulanten Pflege und Betreuung der Geschädigten, wobei er an mindestens 34 Tagen zum Nachmittagsdienst eingeteilt war.
Die folgenden Handlungen sind Gegenstand der Verurteilung des Angeklagten durch das Landgericht:
(Fall II. 1) An einem nicht mehr näher bestimmbaren Tag im Dezember 2008 griff der Angeklagte mit einer Hand in die Hose der Geschädigten und rieb mit seinen Fingern oberhalb der Unterhose am Bereich der Schamlippen und der Klitoris; ferner berührte er sie unterhalb ihrer Oberbekleidung an ihrem Bauch und oberhalb ihres BH an den Brüsten. Zur Verhinderung eines Widerstandes hatte der Angeklagte die einzig frei bewegliche linke Hand der Zeugin ergriffen und zu seinem Oberkörper gezogen, wodurch zusätzlich eine Spastik ausgelöst wurde.
(Fälle II. 2 bis II. 4) In zumindest drei weiteren Fällen kam es zu sexuellen Übergriffen, bei denen der Angeklagte der Geschädigten mit seiner Hand in die Hose griff und sie am Scheidenbereich berührte, wobei er ihr in zumindest einem dieser Fälle auch in die Unterhose fasste und mit seinen Fingern an ihren Schamlippen rieb. Bei einer der Taten drückte der körperlich überlegene Angeklagte seine Hand gegen ihren Widerstand in den Scheidenbereich zurück, nachdem die Geschädigte versucht hatte, seine Finger mit ihrer linken Hand aus ihrer Hose zu ziehen.
(Fall II. 5) In einem weiteren Fall hob der Angeklagte die Geschädigte aus ihrem Rollstuhl und ließ sie nach hinten auf ihr Bett im Schlafzimmer fallen. Sodann drehte er sie so zur Seite, dass sie vollständig und rücklings im Bett lag. Anschließend zog er ihr Hose und Unterhose herunter, obwohl sie versuchte, sich zu "sperren", entkleidete danach auch seinen eigenen Unterkörper vollständig, legte sich auf die Geschädigte, drückte ihre Beine auseinander und versuchte, mit seinem Glied in ihre Scheide einzudringen, wobei er ihre linke Hand, mit der sie ihn wegdrücken wollte, festhielt und zur Seite schob und diesen tätlichen Widerstand der Geschädigten mit der Bemerkung quittierte: "Komm schon" und "ich will doch nur anklopfen".
(Fall II. 6) Während eines Pflegetermins im Januar oder Februar 2009 legte der Angeklagte die Geschädigte erneut auf das Bett und entkleidete ihren und sodann seinen eigenen Unterkörper. Daraufhin legte er sich auf die auf dem Rücken liegende Geschädigte und führte mit ihr den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr durch. Erst als der Angeklagte bemerkte, dass die Geschädigte auf Grund und während des Geschlechtsverkehrs im Scheidenbereich zu bluten begann, ließ er von ihr ab.
(Fälle II. 7 bis II. 8) Ferner kam es zu zwei weiteren gleichgelagerten Taten, bei denen der Angeklagte jeweils den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss vollzog. Bei einer dieser Taten stieß der Angeklagte die linke Hand der Geschädigten weg, die diese ihm zur Verhinderung der Tat gegen den Bauch gestemmt hatte.
(Fall II. 9) In einem weiteren Fall beugte sich der Angeklagte zu der im Rollstuhl sitzenden Geschädigten hinunter und stützte sich mit seinen Händen auf ihren Armlehnen ab. Daraufhin ergriff er ihre linke Hand und führte diese an seine geöffnete Hose, schob sie in seine Unterhose und veranlasste sie durch Hin- und Her-Bewegen ihrer Hand dazu, an seinem Glied bis zum Samenerguss zu manipulieren.
Aus Angst vor einer Verschlechterung ihrer Pflegesituation, einer Unterbringung in einer stationären Pflegeeinrichtung und davor, dass man ihr nicht glauben werde, erstattete die Geschädigte erst zu Beginn des Jahres 2010 Strafanzeige gegen den Angeklagten.
2. Das Landgericht hat in allen Fällen angenommen, dass sich die Geschädigte bei Vornahme der Handlungen des Angeklagten in einer schutzlosen Lage befand. Es hat den Angeklagten deshalb auch tateinheitlich wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung im Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB verurteilt.
1. Die tateinheitliche Verurteilung wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung wegen Ausnutzung einer schutzlosen Lage im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Nach der - entgegen der Auffassung des Landgerichts auch vom 1. Strafsenat mit Beschluss vom 12. Januar 2011 (1 StR 580/10, NStZ 2011, 455 f.) nicht in Frage gestellten - neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Verwirklichung des Tatbestandes des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB unter anderem, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist.
Diese Schutzlosigkeit muss eine Zwangswirkung auf das Opfer in der Weise entfalten, dass es aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Täters in Gestalt von Körperverletzungsoder gar Tötungshandlungen einen - ihm grundsätzlich möglichen - Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet (vgl. dazu BGH, Urteile vom 27. März 2003 - 3 StR 446/02, NStZ 2003, 533, 534; vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 366; Beschlüsse vom 4. April 2007 - 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280, 284; vom 11. Juni 2008 - 5 StR 193/08, NStZ 2009, 263; vom 10. Mai 2011 - 3 StR 78/11, NStZ-RR 2011, 311, 312; vom 20. Oktober 2011 - 4 StR 396/11, jew. m.w.N.; anders noch BGH, Urteil vom 20. Oktober 1999 - 2 StR 248/99, BGHSt 45, 253, 255 ff.).
b) Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung kann die Verurteilung des Angeklagten wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung in der Tatvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB keinen Bestand haben. Denn das Landgericht hat nicht festgestellt, dass die Geschädigte die sexuellen Handlungen des Angeklagten aus Angst vor Körperverletzungs- oder gar Tötungshandlungen hingenommen hat. Die vom Landgericht festgestellte Befürchtung der Geschädigten, sie müsse im Fall einer Strafanzeige mit einer einschneidenden Verschlechterung ihrer ambulanten Pflege und Versorgung rechnen oder gar eine von ihr nicht gewünschte Verlegung in eine stationäre Pflegeeinrichtung gewärtigen, vermag die Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht zu tragen.
c) Eine Berichtigung des Schuldspruchs ist dem Senat lediglich in den Fällen II. 1 und II. 5 der Urteilsgründe möglich. In diesen Fällen hat es bei der Verurteilung wegen sexueller Nötigung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses sein Bewenden; die Verurteilung auch wegen Verwirklichung der Tatvariante des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB entfällt. Über die Festsetzung der Einzelstrafen hat der Tatrichter neu zu befinden.
Da die Strafkammer nicht genau hat feststellen können, in welchem der Fälle II. 2, II. 3 und II. 4 einerseits und II. 7 und II. 8 andererseits der Angeklagte durch seine Handlung den Tatbestand der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung in der Variante des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen und - von ihrem rechtlichen Ausgangspunkt aus folgerichtig - auch nicht geprüft hat, ob der Ausschöpfung des Unrechtsgehalts der verbleibenden Taten durch die Annahme einer Nötigung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB, ggfs. auch im besonders schweren Fall gemäß Abs. 4 Nr. 1 StGB, Rechnung zu tragen ist (zum Verhältnis von § 177 Abs. 1 Nr. 3 zu § 240 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB vgl. Senatsbeschluss vom 4. April 2007 - 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280, 284; BGH, Beschluss vom 26. November 2008 - 5 StR 506/08, Tz. 17; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 240 Rn. 59 m. w. Nachw. zur Rspr.), ist der Senat in diesen Fällen ebenfalls an einer Schuldspruchberichtigung gehindert. Eine Strafbarkeit wegen Nötigung kommt auch in den Fällen II. 6 und II. 9 in Betracht, so dass die Sache auch insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung bedarf.
Zu der Rüge, an dem angefochtenen Urteil habe ein Richter mitgewirkt, gegen den ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit zu Unrecht verworfen worden sei (§§ 338 Nr. 3, 24 Abs. 2 StPO), bemerkt der Senat ergänzend zu den Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts:
1. Die in der Hauptverhandlung vom 14. Februar 2011 vom Vorsitzenden der Strafkammer während einer Erörterung mit dem Verteidiger verwendete Formulierung, nach seiner Einschätzung solle mit den soeben gestellten Beweisanträgen belegt werden, die Ausführungen der zuvor gehörten medizinischen Sachverständigen seien "Mumpitz" oder "Unfug", vermag für sich genommen bei verständiger Würdigung die Besorgnis der Befangenheit noch nicht zu begründen. Dies ergibt sich jedenfalls aus der - insoweit unwidersprochen gebliebenen - dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters, wonach der Verteidiger selbst - ungeachtet fortbestehender Differenzen in der Sache - die Wortwahl des Vorsitzenden lediglich dahin bewertete, sie sei ihm "etwas zu salopp".
2. Die im Ablehnungsantrag wiedergegebenen weiteren Äußerungen des Vorsitzenden rechtfertigen keine andere Beurteilung. Unter den gegebenen Umständen sind sie als nachvollziehbare, momentane Unmutsaufwallung in Reaktion auf das vorherige Verhalten des Verteidigers anzusehen.
Allerdings sind auch Unmutsäußerungen von Mitgliedern des erkennenden Gerichts als Reaktion auf das Verhalten anderer Verfahrensbeteiligter Grenzen gesetzt, die - je nach den Umständen des Einzelfalles - dann überschritten sein können, wenn sie in der Form überzogen sind oder in der Sache - immer bei der gebotenen verständigen Würdigung aus Sicht des Angeklagten - bei diesem die Befürchtung von Voreingenommenheit aufkommen lassen können (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. März 1993 - 1 StR 895/92, BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 8; Urteil vom 2. März 2004 - 1 StR 574/03, BGHR StPO § 24 Abs. 2 Befangenheit 14). Dies wäre im vorliegenden Fall unter Umständen dann zu bejahen gewesen, wenn die Äußerungen des Vorsitzenden aus Sicht eines verständigen Angeklagten nur dahin hätten verstanden werden können, er, der Vorsitzende, sei von vornherein nicht gewillt, die vom Verteidiger soeben gestellten Beweisanträge als ernsthaften Beitrag zur Wahrheitsfindung aufzufassen. In einem solchen Fall könnte beim Angeklagten die berechtigte Befürchtung aufkommen, der betreffende Richter nehme sein Verteidigungsvorbringen nicht mit der erforderlichen abwägenden Distanziertheit zur Kenntnis und habe sich in seinem Urteil - und sei es auch nur hinsichtlich einer einzelnen Beweisfrage - bereits festgelegt.
So liegt der Fall hier nicht. Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten wurde von Beginn an durch Meinungsverschiedenheiten zwischen Gericht und Verteidigung darüber geprägt, ob die Geschädigte durch eine psychische Erkrankung in ihrer Zeugentüchtigkeit beeinträchtigt war. Die Verteidigung hatte die Stellung entsprechender Beweisanträge angekündigt. Gleichwohl nahm die Verteidigung die daraufhin von Amts wegen anberaumte Einvernahme zweier medizinischer Sachverständiger zu dieser Frage nicht zum Anlass für deren ausführliche Befragung.
Statt dessen stellte sie im Fortgang der Beweisaufnahme einen Antrag auf Vernehmung eines (weiteren) medizinischen Sachverständigen, der unter anderem darauf gestützt war, die von Amts wegen gehörten Sachverständigen verfügten nicht über die erforderliche Sachkunde. Die daraufhin vom Vorsitzenden gemachten Bemerkungen bezogen sich als momentane, verständliche Unmutsäußerung ersichtlich auf dieses Procedere der Verteidigung und konnten auch aus Sicht eines verständigen Angeklagten nicht dahin verstanden werden, der nunmehr gestellte Beweisantrag werde vom Gericht nicht ernstgenommen.
HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 247
Externe Fundstellen: NStZ 2012, 570
Bearbeiter: Karsten Gaede