HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1208
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 396/11, Beschluss v. 20.10.2011, HRRS 2011 Nr. 1208
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Zweibrücken vom 12. April 2011 wird
a) der Schuldspruch dieses Urteils in den Fällen II. 1. bis II. 3. der Urteilsgründe dahin abgeändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen in drei Fällen schuldig ist,
b) das Urteil in den Aussprüchen über die in den Fällen II. 1. bis II. 3. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen aufgehoben,
c) das Urteil im Fall II. 4. der Urteilsgründe mit den Feststellungen sowie d) im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Sie hat den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte arbeitete nach Abschluss seiner Ausbildung zum Krankenpfleger in diesem Beruf von 2004 bis 2008 im Krankenhaus in Z. Im Mai 2007 war er während seiner Dienstzeit alleine insbesondere für die Körperpflege der in dem Krankenhaus unter anderem wegen eines metabolischen Syndroms stationär aufgenommenen, damals 76 Jahre alten Annemarie G. zuständig, die nach zwei früheren Schlaganfällen linksseitig komplett gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen war.
Zwischen dem 9. und 25. Mai 2007 nahm der Angeklagte "aufgrund eines gesteigerten sexuellen Verlangens" (UA S. 5) folgende Handlungen vor: (1.) Er schob seine Hand unter die Windelhose von Annemarie G. und drang mit einem Finger in deren Scheide ein; nachdem sie über Schmerzen klagte und den Angeklagten zum Aufhören aufforderte, cremte er seinen Finger ein und versuchte erneut, in die Scheide der Patientin einzudringen (Fall II. 1. der Urteilsgründe).
(2.) Während des Duschens der Patientin "manipulierte" der Angeklagte an seinem Glied, spritzte das Ejakulat auf sie und duschte sie anschließend weiter ab (Fall II. 2. der Urteilsgründe).
(3.) An einem anderen Tag "manipulierte" der Angeklagte während des Duschens der Patientin erneut an seinem Glied, führte kurz vor dem Samenerguss sein Glied in den Mund der Patientin ein und ejakulierte in deren Mund (Fall II. 3. der Urteilsgründe).
(4.) Ferner zog der Angeklagte Annemarie G. beim Wechseln der Windeln an die Gitterstäbe am Bettrand, um mit ihr den Geschlechtsverkehr auszuführen. "Aufgrund des Übergewichts der Nebenklägerin sowie den vorhandenen Gitterstäben am Bettrand ließ er jedoch noch vor dem Eindringen von seinem weiteren Tun ab" (UA S. 6; Fall II. 4. der Urteilsgründe).
Bereits vor diesen Handlungen hatte der Angeklagte gegenüber Annemarie G. geäußert, dass man ihr aufgrund ihres Alters sowie nach zwei Schlaganfällen ohnehin nichts glauben werde. Des Weiteren hatte er sie darauf hingewiesen, dass niemand anwesend sei, von dem sie Hilfe erwarten könne.
Aufgrund dieser Aussage erduldete die Nebenklägerin die sexuellen Handlungen des Angeklagten (UA S. 5), ohne zu sagen, dass sie die sexuellen Handlungen nicht wolle (UA S. 9) und ohne sich aktiv zu wehren (UA S. 8 f.).
2. Das Landgericht hat in allen Fällen angenommen, dass sich Annemarie G. bei Vornahme der Handlungen des Angeklagten in einer schutzlosen Lage im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB befand; eine Gewaltanwendung oder Drohung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB hat es in keinem Fall bejaht.
1. Das Rechtsmittel des Angeklagten hat keinen Erfolg, soweit er in den Fällen II. 1. bis II. 3. der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen gemäß § 174a Abs. 2 StGB verurteilt wurde (§ 349 Abs. 2 StPO). Keinen Bestand hat dagegen in diesen Fällen die Verurteilung wegen tateinheitlich begangener sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung. Dies führt zu einer entsprechenden Änderung des Schuldspruchs und zur Aufhebung der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen.
a) Nach der - auch vom 1. Strafsenat im Beschluss vom 12. Januar 2011 (1 StR 580/11, NStZ 2011, 455 f.) nicht in Frage gestellten - neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfordert die Verwirklichung des Tatbestandes des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB unter anderem, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert ist; diese Schutzlosigkeit muss eine Zwangswirkung auf das Opfer dahin entfalten, dass es aus Angst vor einer Gewalteinwirkung des Täters, also Körperverletzungsoder gar Tötungshandlungen, einen - ihm 10 11 12 grundsätzlich möglichen - Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet (vgl. etwa BGH, Urteile vom 27. März 2003 - 3 StR 446/02, NStZ 2003, 533, 534; vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 366; Beschlüsse vom 4. April 2007 - 4 StR 345/06, BGHSt 51, 280, 284; vom 11. Juni 2008 - 5 StR 193/08, NStZ 2009, 263; vom 10. Mai 2011 - 3 StR 78/11, NStZ-RR 2011, 311, 312, jeweils mwN; anders noch BGH, Urteil vom 20. Oktober 1999 - 2 StR 248/99, BGHSt 45, 253, 255 ff.).
b) Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung kann die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II. 1. bis II. 3. der Urteilsgründe wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung keinen Bestand haben. Denn das Landgericht hat nicht festgestellt, dass Annemarie G. die sexuellen Handlungen des Angeklagten aus Angst vor Körperverletzungsoder gar Tötungshandlungen hingenommen hat, sondern dass sie diese wegen der Äußerungen des Angeklagten erduldete, man werde ihr ohnehin nicht glauben und es sei niemand anwesend, von dem sie Hilfe erwarten könne.
Auch die von der Strafkammer als "Hintergrund" mitgeteilte Angst von Annemarie G. davor, dass der Angeklagte ihr falsche - schädliche - Medikamente verabreichen würde, falls sie andere von den Handlungen des Angeklagten unterrichten würde (UA S. 5), vermag die Verurteilung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht zu tragen. Denn diese - möglicherweise ihr Verhalten nach den sexuellen Handlungen des Angeklagten beeinflussende - Angst beruhte allein auf einem "rein subjektiven Gefühl" der Patientin, war aber nicht durch eine entsprechende Äußerung des Angeklagten oder ähnliches veranlasst (UA S. 9).
c) Der Senat schließt aufgrund der ersichtlich vollständigen Beweisaufnahme und der sorgfältigen Beweiswürdigung durch die Strafkammer aus, dass bezüglich der Fälle II.1. bis II.3. der Urteilsgründe in einer neuen Verhandlung Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung nach § 177 StGB rechtfertigen können. Er lässt diese daher entfallen.
Die Änderung des Schuldspruchs hat die Aufhebung der Aussprüche über die in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen zur Folge. Denn diese hat das Landgericht dem Strafrahmen des § 177 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB entnommen. Einer Aufhebung der insoweit von der Strafkammer getroffenen Feststellungen bedarf es dagegen nicht, da diese von dem Subsumtionsfehler nicht berührt werden. Ergänzende - zu den getroffenen nicht in Widerspruch stehende - Feststellungen sind jedoch möglich.
2. Im Fall II. 4. der Urteilsgründe hat der Schuldspruch insgesamt keinen Bestand.
In diesem Fall begegnet die Verurteilung wegen (vollendeter) sexueller Nötigung nach § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB zwar ebenfalls den oben dargelegten Bedenken; die vom Landgericht getroffenen Feststellungen (Heranziehen der Patientin an den Bettrand) sind aber geeignet, eine Gewaltanwendung im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu belegen. Jedoch lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen, dass es in diesem Fall schon zu einer sexuellen Handlung des Angeklagten gekommen ist, dass also diese Tat - wie vom Landgericht abgeurteilt - über das Versuchsstadium hinausgelangt ist. Das steht auch einer Verurteilung wegen vollendetem sexuellen Missbrauch von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen gemäß § 174a Abs. 2 StGB entgegen.
3. Die Aufhebung der Einzelstrafen in den Fällen II. 1. bis II. 3. der Urteilsgründe und des Schuldspruchs im Fall II. 4. führt zur Aufhebung der gegen den Angeklagten verhängten Gesamtstrafe.
HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1208
Externe Fundstellen: NStZ 2012, 209
Bearbeiter: Karsten Gaede