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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 982

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 11/22, Urteil v. 14.07.2022, HRRS 2022 Nr. 982


BGH 3 StR 11/22 - Urteil vom 14. Juli 2022 (LG Koblenz)

Sachlich-rechtliche Anforderungen an Beweiswürdigung (Tatgericht; revisionsgerichtliche Prüfung; lückenhaft, widersprüchlich oder unklar; Verstoß gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze; überspannte Anforderungen; Zweifelsgrundsatz; Gesamtschau aller Beweisergebnisse); unerlaubter Besitz von Waffen (Mitbesitz).

§ 52 WaffG; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte.

2. Eine Beweiswürdigung ist aber etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, z.B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht oder nur eine von mehreren gleich naheliegenden Möglichkeiten erörtert, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen wird, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können.

3. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind. Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente hinweggeht, ist rechtsfehlerhaft.

4. Dass die Auseinandersetzung mit eingestellten Taten im Urteil erforderlich ist, wenn sie beweismäßige Relevanz für die abgeurteilten Taten entfalten, ist in der Rechtsprechung für Verurteilungsfälle anerkannt. Nichts Anderes kann für Fallkonstellationen gelten, in denen es nach teilweiser Einstellung zu einem Freispruch im Übrigen kommt.

5. § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG bzw. § 52 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a WaffG umfasst tatbestandsmäßig auch die Modalität des Mitbesitzes, sodass ein Alleinbesitz bzw. die Feststellung der Zuordnung einer Waffe allein zum Angeklagten nicht erforderlich ist.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 8. September 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Von den weiteren Vorwürfen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und des unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihrer auf die ausgeführte Sachrüge gestützten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision erstrebt die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Teilfreispruchs. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Die Beschränkung der Revision auf den Teilfreispruch ist zulässig. Das Rechtsmittel bezieht sich auf Beschwerdepunkte, die nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von seinem nicht angegriffenen Teil in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht selbständig beurteilt werden können, ohne dass eine Ãœberprüfung der Entscheidung im Ãœbrigen erforderlich ist (BGH, Beschlüsse vom 21. Oktober 1981 - 1 StR 262/80, BGHSt 29, 359, 364; vom 15. Mai 2001 - 4 StR 306/00, BGHSt 47, 32, 35; Urteil vom 10. August 2017 - 3 StR 275/17, juris Rn. 8; KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 344 Rn. 6 mwN).

II.

Dem Urteil des Landgerichts ist bezüglich des Teilfreispruchs des Angeklagten Folgendes zu entnehmen:

1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vom 27. Januar 2021 enthielt weitere Tatvorwürfe, die den Gegenstand des Teilfreispruchs bilden:

a) Der vormals Mitangeklagte und der Angeklagte tätigten ab April 2020 gemeinsam Betäubungsmittelgeschäfte. Am 4. Juni 2020 bestellte der vormals Mitangeklagte erneut bei einem noch nicht abschließend ermittelten Dealer unter anderem Ecstasy-Pillen zum Preis von 8.000 €. Nach Auslieferung am Folgetag verkauften der vormals Mitangeklagte und der Angeklagte dieselben gewinnbringend, ohne über die hierzu erforderliche Erlaubnis zu verfügen (Fall 9 der Anklage).

b) Der Angeklagte übte am 26. Oktober 2020 in seiner Wohnung die tatsächliche Gewalt über einen mit vier Patronen geladenen Revolver Smith & Wesson sowie eine weitere Patrone aus, ohne im Besitz einer hierzu erforderlichen Erlaubnis zu sein (Fall 11 der Anklage).

2. Mit Beschluss vom 8. September 2021 hat das Landgericht das Verfahren betreffend die Taten 6 bis 8 der Anklageschrift gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Dem Angeklagten lagen insoweit drei weitere Taten des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last, und zwar dergestalt, dass er mit dem vormals Mitangeklagten bereits kurz vor dem 4. Juni 2020 zu drei Gelegenheiten von diesem beschafftes Kokain gewinnbringend weiterveräußerte.

3. Das Landgericht ist hinsichtlich des Teilfreispruchs davon ausgegangen, dass zu keinem der beiden Anklagepunkte eine Täterschaft des Angeklagten nachzuweisen sei. Betreffend den unter 1. a) geschilderten Fall sei trotz bestehender Anhaltspunkte - auch im Wege der erforderlichen Gesamtschau - nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellbar, dass es sich bei dem Angeklagten um den Teilnehmer eines Encrochats namens " " gehandelt habe, der mit dem vormals Mitangeklagten allgemein bzw. im Zusammenhang mit anderen Betäubungsmittelgeschäften über den Erwerb von Betäubungsmitteln kommuniziert und an der Weiterveräußerung der Betäubungsmittel mitgewirkt habe. Soweit es den in einer Kommode im Schlafraum seiner Wohnung aufgefundenen Revolver nebst Munition (oben 1. b)) betreffe, könne dieser unbeschadet des Umstands, dass an mehreren Stellen des Revolvers DNA-Spuren des Angeklagten festgestellt worden seien, auch ohne dessen Kenntnis durch den vormals Mitangeklagten oder dritte Personen tatzeitnah in die Wohnung eingebracht worden sein.

III.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, weil der Teilfreispruch sachlich-rechtlicher Prüfung nicht standhält. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist hinsichtlich beider Tatvorwürfe durchgreifend rechtsfehlerhaft.

1. Kann das Tatgericht nicht die erforderliche Gewissheit gewinnen und spricht den Angeklagten daher frei, so hat das Revisionsgericht dies regelmäßig hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte.

Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, z.B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht oder nur eine von mehreren gleich naheliegenden Möglichkeiten erörtert, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen wird, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 28. Januar 2021 - 3 StR 279/20, NStZ 2022, 291 Rn. 17; vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 37/18, NStZ-RR 2019, 57, 58; vom 19. Oktober 2017 - 3 StR 158/17, juris Rn. 23 f.; vom 10. Mai 2017 - 2 StR 258/16, juris Rn. 17; vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147; vom 12. August 2003 - 1 StR 111/03, juris Rn. 14 f.). Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente hinweggeht, ist rechtsfehlerhaft (BGH, Urteile vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238, 239; vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656, 657; vom 11. März 2021 - 3 StR 183/20, juris Rn. 14).

2. Hieran gemessen ist das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

a) Soweit es den Vorwurf des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge betrifft, ist die Beweiswürdigung des Landgerichts lückenhaft. Es fehlen nach den hiesigen Umständen erforderliche Ausführungen zu den näheren Modalitäten der eingestellten Tatvorwürfe, den diesbezüglich feststellbaren Tatsachen und den Gründen für die jeweilige Einstellungsentscheidung und demzufolge deren Einbeziehung in die Beweiswürdigung überhaupt. Dass die Auseinandersetzung mit eingestellten Taten im Urteil erforderlich ist, wenn sie beweismäßige Relevanz für die abgeurteilten Taten entfalten, ist in der Rechtsprechung für Verurteilungsfälle anerkannt (BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 160; Beschluss vom 13. Februar 2018 - 4 StR 346/17, NStZ 2018, 618 f.; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 154 Rn. 25). Nichts Anderes kann für Fallkonstellationen gelten, in denen es nach teilweiser Einstellung zu einem Freispruch im Ãœbrigen kommt. Zwar lässt sich dem angefochtenen Urteil entnehmen, dass die Fälle 6 bis 8 der Anklage eingestellt worden sind. Im beschriebenen Sinne nähere Ausführungen waren aber mit Rücksicht darauf, dass die Tatzeitpunkte der eingestellten Vorwürfe demjenigen des freigesprochenen zeitlich unmittelbar vorausgingen und dieselben Personen beteiligt waren, zu einer vollständigen Würdigung erforderlich, zumal Inhalte der sonstigen Kommunikation zwischen dem vormals Mitangeklagten und dem Angeklagten in den Urteilsgründen als Indiz für eine Täterschaft des Angeklagten herangezogen worden sind.

b) Bezüglich des Vorwurfs des unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition ist die Beweiswürdigung ebenfalls aus mehreren Gründen rechtsfehlerhaft.

aa) Ein rechtlich unzutreffender Ansatz liegt bereits darin, dass die Strafkammer ausführt, „eine Zuordnung der Waffe alleine zum Angeklagten“ sei „nicht möglich“. Hierdurch gerät die im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG bzw. § 52 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a WaffG gleichfalls tatbestandsmäßige Modalität des Mitbesitzes (vgl. BayObLG, Beschluss vom 9. Februar 1996 - 4 St RR 14/96, NStZ-RR 1996, 184; OLG Oldenburg, Beschluss vom 12. April 2021 - 1 Ss 14/21, juris Rn. 12 f.) aus dem Blick.

bb) Zwar hat das Landgericht im Ansatz zutreffend angenommen, dass - neben anderem - der Nachweis von DNA-Spuren des Angeklagten an mehreren Stellen der Waffe ein Indiz für dessen Täterschaft darstellt. Über das hierin liegende schwerwiegende Verdachtsmoment ist es indessen rechtsfehlerhaft hinweggegangen, weil die erörterten Alternativhypothesen - Einbringung der Waffe durch den vormals Mitangeklagten oder unbekannte Dritte - lediglich pauschal in den Raum gestellt, jedoch nicht mit konkreten Feststellungen unterlegt werden. Die Strafkammer hat insoweit aus dem Blick verloren, dass an der Waffe DNA-Spuren des in der Wohnung des Angeklagten ebenfalls verkehrenden vormaligen Mitangeklagten gerade nicht festgestellt worden sind. Sonstige Personen, die die Waffe in der Wohnung deponiert haben könnten, werden in diesem Zusammenhang gleichfalls nicht benannt.

cc) In Bezug auf die vorgenannten Indizien vorhandener DNA-Spuren des Angeklagten einerseits und fehlender DNA-Spuren des vormals Mitangeklagten andererseits wird zudem die Reichweite des Zweifelssatzes verkannt. Indem die Strafkammer beide Einzelindizien getrennt voneinander unter Anwendung des Zweifelssatzes bewertet hat, ist unberücksichtigt geblieben, dass es sich bei dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht um eine Beweis-, sondern um eine Entscheidungsregel handelt (BVerfG, Beschluss vom 26. August 2008 - 2 BvR 553/08, juris Rn. 15; BGH, Urteile vom 12. Oktober 2011 - 2 StR 202/11, NStZ 2012, 171, 172; vom 16. August 2012 - 3 StR 180/12, NStZ-RR 2013, 20 f.).

dd) Schließlich kommt hinzu, dass eine hier notwendige Gesamtschau mit den übrigen Beweisergebnissen (vgl. BGH, Urteile vom 28. April 2022 - 5 StR 511/21, juris Rn. 19; vom 11. März 2021 - 3 StR 183/20, juris Rn. 16; vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 37/18, NStZ-RR 2019, 57, 58; vom 2. Februar 2017 - 4 StR 423/16, juris Rn. 8, jeweils mwN) nicht vorgenommen worden ist.

3. Der Teilfreispruch beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Aufrechterhaltung von Feststellungen freisprechender Erkenntnisse scheidet bereits deshalb aus, weil der Angeklagte das Urteil insoweit nicht hätte anfechten können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 353 Rn. 15a mwN).

4. Das neue Tatgericht wird gegebenenfalls genauer als bislang geschehen zu untersuchen haben, ob es sich bei dem Revolver um ein Tatobjekt im Sinne des § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG oder ein solches nach § 52 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a WaffG handelt.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 982

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede