HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 603
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 183/20, Urteil v. 11.03.2021, HRRS 2021 Nr. 603
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Verden vom 22. November 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück zurückverwiesen.
Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 15. Juni 2017 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf die Revisionen der Nebenkläger hat der Senat die genannte Entscheidung mit Urteil vom 18. Oktober 2018 (3 StR 37/18) mit den Feststellungen aufgehoben; die Revision des Angeklagten hat er verworfen. Mit Urteil vom 22. November 2019 hat das Landgericht den Angeklagten nunmehr von dem Vorwurf des Mordes aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihren auf die ausgeführte Sachrüge gestützten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen erstreben die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger die Aufhebung des freisprechenden Urteils, die Nebenkläger mit dem Ziel einer Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte befand sich seit Januar 2013 aufgrund einer früheren Verurteilung, mit der auch seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden waren, im Maßregelvollzug in dem Fachkrankenhaus für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in R. Am 12. September 2015 unternahm er einen unbegleiteten Tagesausgang, zu dem ihm ein Fahrrad zur Verfügung stand. Bei seiner Rückkehr in die Einrichtung befanden sich zwei Kratzer in seinem Gesicht.
An demselben Tage verstarb die 23 Jahre alte J. T. in einem südlich des L. Klosters gelegenen Waldstück, welches von der Klinik etwa 5,5 km entfernt ist, an einer nicht natürlichen, konkret jedoch nicht mehr feststellbaren Todesursache. Ihr Leichnam wurde abseits eines befestigten Waldweges abgelegt und mit Stöcken und Ästen bedeckt am 20. September 2015 aufgefunden. Am Tatort konnte in einer Entfernung von maximal 1,5 Metern zu der Brille und den Zigarettenfiltern der Geschädigten ein Kaugummipapier mit DNA-Anhaftungen sichergestellt werden. Diese stammen mit einer Wahrscheinlichkeit von 14,5 Quadrillionen zu 1 von dem Angeklagten.
2. Das Landgericht hat sich - unter Berücksichtigung des Umstands, dass mehrere Vorverurteilungen des Angeklagten wegen Sexualdelikten bestanden - „weder bei der Betrachtung einzelner Indizien noch anlässlich der gebotenen Gesamtwürdigung aller Indizien“ davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte die Geschädigte T. getötet hat.
Die Revision der Staatsanwaltschaft und die gemäß § 400 Abs. 1 StPO zulässigen Revisionen der Nebenkläger haben Erfolg, weil das freisprechende Erkenntnis sachlich-rechtlicher Prüfung nicht standhält.
1. Die Ausführungen des Landgerichts werden den gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellenden Anforderungen nicht gerecht, weil hier erforderliche nähere Feststellungen zu den Vorstrafen des Angeklagten fehlen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann es geboten sein, auch bei freisprechenden Urteilen Feststellungen zu Vorstrafen des Angeklagten insoweit zu treffen, als es um einschlägige Delikte geht, da diese geeignet sind, Aufschluss über die Täterpersönlichkeit zu geben und daher in die Beweiswürdigung einzustellen sein könnten (BGH, Urteile vom 10. Mai 2017 - 2 StR 258/16, juris Rn. 13 f.; vom 2. Februar 2017 - 4 StR 423/16, juris Rn. 10). In welchem Umfang Vorstrafen im Strafurteil zu schildern sind, ist allerdings keiner schematischen Betrachtungsweise zugänglich, sondern stets eine Frage des Einzelfalls (BGH, Urteil vom 5. März 2015 - 3 StR 514/14, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 18 Rn. 9 f.; Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 202/01, bei Becker, NStZ-RR 2002, 97, 100). Zumindest in solchen Ausnahmefällen, in denen die früher festgestellten Taten oder Entscheidungserwägungen auch für den jetzigen Tatrichter entscheidungserheblich sind, bedarf es einer Schilderung der zugrundeliegenden Sachverhalte (BGH, Urteil vom 23. Mai 2013 - 4 StR 70/13, juris Rn. 3).
Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.
Zwar lässt sich den Urteilsgründen entnehmen, dass der Angeklagte „bereits zuvor wegen Sexualdelikten mehrfach verurteilt worden“ ist, nämlich - unter Nennung von Entscheidungszeitpunkt, erkennendem Gericht sowie Schuld- und Rechtsfolgenausspruch - insgesamt viermal stets u.a. wegen Vergewaltigungsdelikten zu Freiheitsstrafen zwischen zehn Monaten und vier Jahren und zehn Monaten. Daneben wird jedoch lediglich mitgeteilt, sämtliche abgeurteilten Taten hätten gemeinsam gehabt, dass der Angeklagte Gewalt gegen den Hals der jeweiligen Opfer ausübte und diese - teilweise bis zur Bewusstlosigkeit - würgte.
Diese Feststellungen sind im vorliegenden Fall indessen nicht ausreichend, um dem Senat die gebotene revisionsrechtliche Überprüfung des freisprechenden Erkenntnisses auf Rechtsfehler zu ermöglichen (BGH, Urteile vom 24. November 2016 - 4 StR 235/16, juris Rn. 18 ff.; vom 14. Februar 2008 - 4 StR 317/07, NStZ- RR 2008, 206, 207). Im Hinblick auf den zur Aburteilung stehenden Tatvorwurf des möglicherweise mittels Gewalteinwirkung gegen den Hals begangenen Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und den weiteren Umstand, dass es sich um einen Indizienprozess gegen einen sich schweigend verteidigenden Angeklagten handelte, wären detailliertere Feststellungen dazu erforderlich gewesen, unter welchen konkreten Umständen der Angeklagte und die Opfer der früheren Taten jeweils zusammentrafen, in welcher konkreten Weise die Gewalt gegen den Hals bei den vorherigen Tatbegehungen ausgeübt wurde und wer die Geschädigten der früheren Straftaten des Angeklagten waren, etwa Personen aus dem Umfeld des Täters oder aber Zufallsopfer.
2. Auch die Beweiswürdigung des Landgerichts ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht durchgreifend rechtsfehlerhaft.
Kann das Tatgericht nicht die erforderliche Gewissheit gewinnen und spricht den Angeklagten daher frei, so hat das Revisionsgericht dies regelmäßig hinzunehmen. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte.
Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden Ansatz ausgeht, z.B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des Zweifelssatzes, wenn sie lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht oder nur eine von mehreren gleich naheliegenden Möglichkeiten erörtert, wenn sie widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen wird, ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen können. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 37/18, NStZ-RR 2019, 57, 58; vom 19. Oktober 2017 - 3 StR 158/17, juris Rn. 23 f.; vom 10. Mai 2017 - 2 StR 258/16, juris Rn. 17; vom 11. Januar 2005 - 1 StR 478/04, NStZ-RR 2005, 147; Beschluss vom 12. August 2003 - 1 StR 111/03, juris Rn. 14 f.). Eine Beweiswürdigung, die über schwerwiegende Verdachtsmomente hinweggeht, ist rechtsfehlerhaft (BGH, Urteile vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238, 239; vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, NStZ 2002, 656 Rn. 2).
Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.
Zwar hat das Landgericht den Fund des Kaugummipapiers in unmittelbarer Nähe von Gegenständen der Geschädigten als starkes Indiz dafür angesehen, dass der Angeklagte sich am Tatort aufhielt; es hat sich allerdings gehindert gesehen, den Zeitpunkt dieses Aufenthalts festzustellen. Auch wenn die Strafkammer ausgeschlossen hat, dass das klein zusammengeknüllte Papier auf dem zum Tatort nächstgelegenen Fußweg verloren gegangen und dorthin geweht worden sein könnte, ist sie davon ausgegangen, dass es vor oder nach der Tat dorthin gelangt sein konnte, weil sich das Alter der DNA-Spur nicht bestimmen ließ und der Tatort nach Auffinden der Leiche des Opfers unbewacht war. Diese Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als lückenhaft, denn es werden nicht sämtliche Umstände, die dazu geeignet waren, die Entscheidung zu beeinflussen, in die Überlegungen einbezogen (BGH, Urteile vom 18. Oktober 2018 - 3 StR 37/18, NStZ-RR 2019, 57, 58; vom 2. Februar 2017 - 4 StR 423/16, juris Rn. 8). Nicht berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der auf dem Kaugummipapier gesicherten Körperflüssigkeit um Blut handelte, weshalb der Angeklagte im zeitlichen Zusammenhang mit der Zurücklassung desselben geblutet haben musste, und er zugleich bei seiner Rückkehr in die Einrichtung nach Beendigung des unbegleiteten Tagesausgangs zwei blutige Kratzer im Gesicht aufwies. Hinzu kommt, dass der etwa 5,5 km von der Maßregelvollzugseinrichtung entfernt gelegene und selbst mit einem Fahrrad erst nach 24 Minuten Fahrzeit erreichbare Tatort abseits befestigter Wege gelegen war und den Urteilsgründen keine Hinweise darauf zu entnehmen sind, dass der Angeklagte auch zu sonstigen Gelegenheiten im Unterholz des Waldes umherstreifte. Schließlich ist nicht bedacht worden, dass der in der Sicherungsverwahrung untergebrachte Angeklagte nur in beschränktem Umfang unbegleitete Ausgänge wahrnehmen konnte. Bei dieser Sachlage hätte das Landgericht näher darlegen und erörtern müssen, warum es sich daran gehindert gesehen hat, die naheliegende Schlussfolgerung der Anwesenheit des Angeklagten am Tatort zum Tatzeitpunkt zu ziehen und stattdessen eine Tatvariante - Anwesenheit am Tatort zu einem anderen als dem Tatzeitpunkt - unterstellt hat, für deren Vorliegen keine konkreten Anhaltspunkte erkennbar waren.
3. Die Aufrechterhaltung von Feststellungen freisprechender Urteile scheidet regelmäßig aus, weil der Angeklagte das Urteil insoweit nicht hätte anfechten können (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 353 Rn. 15a mwN).
4. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 Alternative 2 StPO Gebrauch und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück an eine Strafkammer des Landgerichts Osnabrück.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 603
Externe Fundstellen: NStZ 2022, 509; NStZ-RR 2021, 183; StV 2021, 798
Bearbeiter: Christian Becker