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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1183

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 202/11, Urteil v. 12.10.2011, HRRS 2011 Nr. 1183


BGH 2 StR 202/11 - Urteil vom 12. Oktober 2011 (LG Darmstadt)

Beweiswürdigung bei der versuchten Vergewaltigung und der versuchten sexuellen Nötigung (besonders schwere sexuelle Nötigung; Hoffnung auf einen später freiwilligen Geschlechtsverkehr).

§ 177 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Einzelfall der Beweiswürdigung beim Vorwurf der versuchten Vergewaltigung. Es bedarf einer erkennbaren Stütze in den Feststellungen, wenn das Tatgericht die Überzeugung für nachvollziehbar halten will, dass die Geschädigte "nach der anfänglich gewaltsamen Durchführung der sexuellen Handlungen sodann freiwillig zu mehr bereit" sein werde.

2. Der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel (BGH NStZ-RR 2009, 90). Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anwendbar. Er besagt nichts darüber, wie der Tatrichter die Beweise zu würdigen hat, sondern kommt erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung zum Tragen (BGH NStZ 2010, 102, 103).

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 12. Januar 2011 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Kammer des Landgerichts Darmstadt zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchter schwerer sexueller Nötigung in zwei Fällen, jeweils begangen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte wusste, dass eine junge attraktive Frau nicht freiwillig Interesse an ihm zeigen würde und nahm sich deshalb vor, eine Frau zu entführen, um mit ihr an einem abgelegenen Ort sexuelle Handlungen vornehmen zu können.

1. Auf der Suche nach einem geeigneten Tatopfer hielt sich der Angeklagte am 26. Juni 2010 gegen 23.15 Uhr auf dem Parkplatz hinter der Stadthalle in G. auf. Er hatte zur Überwindung des erwarteten Widerstandes ein Pfefferspray bei sich, war mit einer blonden Frauenperücke verkleidet und hatte die amtlichen Kennzeichen seines Pkw durch alte, bereits abgemeldete Kennzeichen ersetzt. Der Angeklagte beschloss entsprechend seinem Tatplan die Zeugin B., die als Bedienung bei einem Abiturball tätig gewesen war, "mit Gewalt in sein Auto zu ziehen, um dann mit ihr an einem abgeschiedenen Ort gegen ihren Willen gewaltsam körperliche Zärtlichkeiten auszutauschen, sie insbesondere nachhaltig - auch mit der Zunge zu küssen, ihren gesamten Körper - einschließlich der Geschlechtsteile - zu streicheln und von ihr gleichsam berührt und geküsst zu werden (`mit ihr zu schmusen`). Gegebenenfalls sollte es dann - allerdings nur auf freiwilliger Basis - auch zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs kommen" (UA 5).

Der Angeklagte fuhr mit seinem Pkw langsam an die Zeugin heran, die ihm den Rücken zuwendete. Er stieg aus, öffnete die hintere Fahrzeugtür und näherte sich der Zeugin. Als er sie erreicht hatte, packte er sie von hinten im Schulterbereich und sprühte ihr das Pfefferspray ins Gesicht, traf dabei jedoch auch sich selbst, weil er die Sprayflasche verkehrt hielt. Noch während des Sprühens drückte er die Zeugin auf den Boden und versuchte, sie rückwärts in sein Auto zu ziehen. Da die Zeugin sich jedoch heftig wehrte und laut schrie, wodurch Sicherheitsmitarbeiter der Stadthalle auf das Geschehen aufmerksam wurden, ließ der Angeklagte von ihr ab. Er konnte mit seinem Pkw unerkannt vom Parkplatz fliehen.

2. Nach diesem gescheiterten Versuch wollte der Angeklagte sein Vorhaben nunmehr erfolgreich umsetzen. Um nicht entdeckt zu werden, montierte er auf einem Parkplatz die Kennzeichen eines anderen Pkw ab und brachte sie an seinem Fahrzeug an. Außerdem führte er erneut das Pfefferspray sowie Klebeband mit sich, um dieses Mal mögliche Hilfeschreie des Opfers zu unterbinden. In den frühen Morgenstunden des 29. Juni 2010 parkte der Angeklagte, der von der Straße aus die Nebenklägerin beim Joggen wahrgenommen hatte, sein Fahrzeug an einem von der Straße nicht einsehbaren Radweg. Mit dem Pfefferspray und dem Klebeband ausgerüstet lief er der Nebenklägerin entgegen.

Als er sich auf gleicher Höhe mit ihr befand, packte er sie, warf sie zu Boden und besprühte sie mit dem Pfefferspray. Da die Nebenklägerin jedoch ihr Gesicht abgewendet hatte, drang das Spray nicht in ihre Augen. Sie konnte sich von dem Angeklagten losreißen und weglaufen, wurde jedoch von ihm nach wenigen Metern wieder eingeholt. Er packte die sich heftig wehrende Nebenklägerin von hinten, zog an ihren Haaren und schlug ihr ins Gesicht. Außerdem forderte er sie auf, ruhig zu bleiben. Die Nebenklägerin rief dennoch laut um Hilfe. Der Versuch des Angeklagten, dies mit dem Klebeband zu unterbinden, misslang aufgrund des Widerstandes der Nebenklägerin. Er konnte sie jedoch erneut zu Boden reißen, wo er weiter auf sie einschlug. Der Nebenklägerin gelang es dennoch, sich loszureißen und schreiend in Richtung Hauptstraße zu laufen, wo sie auf einen Zeugen traf. Als der Angeklagte dies realisierte, ließ er aus Angst vor Entdeckung von seinem Vorhaben ab und verließ den Tatort mit seinem Pkw.

II.

Der Angeklagte hat das äußere Tatgeschehen eingeräumt und sich dahingehend geäußert, er habe mit der Geschädigten nur "schmusen und sie streicheln und küssen wollen. Eine Vergewaltigung, d.h. den Geschlechtsverkehr gegen den Willen der Geschädigten durchzuführen, habe er nicht vorgehabt. Er hätte jedoch auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn es dazu auf freiwilliger Basis gekommen wäre" (UA 8/9). Das Landgericht hat das Tatgeschehen unter Berufung auf diese geständige Einlassung des Angeklagten rechtlich in beiden Fällen als versuchte schwere sexuelle Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet.

Ein "weitergehendes sexuelles Interesse als das, welches der Angeklagte selbst eingestanden habe", vermochte die Kammer nicht festzustellen. Aus der Tatsituation ergäben sich keine ausreichenden objektiven Anhaltspunkte dafür, dass auch die gewaltsame Durchführung des Geschlechtsverkehrs von seinem Tatwillen umfasst gewesen sei. Ein solcher Rückschluss wäre nach Ansicht der Kammer "rein spekulativ" gewesen und "sei mit dem Grundsatz in dubio pro reo nicht vereinbar". Das Landgericht, das in beiden Fällen von der Verwirklichung des § 177 Abs. 4 StGB ausgegangen ist (UA S. 14, 17), hat im Fall 1 unter Annahme eines minderschweren Falles (§ 177 Abs. 5 StGB) eine Einzelstrafe von einem Jahr und acht Monaten, im Fall 2 bei Anwendung des Normalstrafrahmens eine solche von drei Jahren und 10 Monaten für tatund schuldangemessen erachtet.

III.

1. Zutreffend weist der Generalbundesanwalt darauf hin, dass das Landgericht, das in beiden ausgeurteilten Fällen rechtlich zutreffend von der Verwirklichung des § 177 Abs. 4 StGB ausgegangen ist, den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer sexueller Nötigung hätte schuldig sprechen müssen.

2. Darüber hinaus begegnet das Urteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken, soweit das Landgericht eine versuchte besonders schwere Vergewaltigung verneint hat. Die Revision rügt insoweit zu Recht die fehlerhafte Anwendung des Zweifelssatzes bei der Beweiswürdigung des Landgerichts. Der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel (BGH NStZ-RR 2009, 90). Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anwendbar (BGH NJW 2005, 2322, 2324; Meyer-Goßner StPO § 261 Rn. 26 mwN). Er besagt nichts darüber, wie der Tatrichter die Beweise zu würdigen hat, sondern kommt erst bei der abschließenden Gesamtwürdigung zum Tragen (BGH NStZ 2010, 102, 103).

Dies hat das Landgericht verkannt. In den Urteilsgründen fehlt es als Grundlage für eine Anwendung des Zweifelssatzes an einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen, insbesondere an einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit der - zudem nicht durchgängig einheitlichen - Einlassung des Angeklagten sowie mit dem objektiven Tatgeschehen, das nach der Lebenserfahrung in hohem Maße dafür sprach, dass der Angeklagte mit Gewalt auch den Geschlechtsverkehr mit den Geschädigten erzwingen wollte. Darüber hinaus ist die Begründung, mit der die Kammer die entsprechende Einlassung des Angeklagten, zu seinen sexuellen Absichten nicht als Schutzbehauptung wertet, lückenhaft und widersprüchlich. Die Kammer hat in den Feststellungen (UA 5) die Einlassung des Angeklagten übernommen, er habe die Zeugin B. mit Gewalt in sein Auto ziehen wollen, um "gegen ihren Willen gewaltsam" sexuelle Handlungen durchzuführen, ohne sich mit dem Widerspruch auseinanderzusetzen, der darin liegt, dass der Angeklagte die so erzwungenen Handlungen als "körperliche Zärtlichkeiten" und "schmusen" bezeichnet hat.

Darüber hinaus findet in den Feststellungen keine erkennbare Stütze, dass es die Kammer mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten für nachvollziehbar hält, er sei aufgrund "seiner männlichen Ausstrahlung sowie sexuellen Erfahrung und der damit verbundenen positiven Wirkung auf die jeweilige Geschädigte" davon überzeugt gewesen, dass die Geschädigten "nach der anfänglich gewaltsamen Durchführung der sexuellen Handlungen sodann freiwillig zu mehr bereit" (UA 10) sein würden. Diese Überlegung steht zudem im Widerspruch zu der im Urteil wiedergegebenen Einschätzung des Angeklagten und der von ihm selbst angegebenen Motivation für die geplanten Entführungen, junge, attraktive Frauen würden nicht freiwillig ein sexuelles Interesse an ihm zeigen.

3. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern. Eine denkbare Verschärfung des Schuldspruchs kann sich auch auf den Strafausspruch ausgewirkt haben. Zwar differenziert § 177 Abs. 4 StGB beim Strafrahmen nicht zwischen der besonders schweren sexuellen Nötigung und der besonders schweren Vergewaltigung. Der Senat kann jedoch nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Annahme einer versuchten besonders schweren Vergewaltigung den Unrechtsgehalt der geplanten Taten gravierender und das Geständnis des Angeklagten als weniger gewichtig gewertet hätte. Dies hätte dazu führen können, dass das Landgericht einen - nach den objektiven Tatumständen ohnehin eher fern liegenden - minderschweren Fall im Fall 1 der Urteilsgründe verneint sowie - insbesondere im Fall 1 - höhere Einzelstrafen und eine höhere Gesamtfreiheitsstrafe verhängt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1183

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 171; NStZ-RR 2012, 18

Bearbeiter: Karsten Gaede