HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1379
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, StB 59/24, Beschluss v. 19.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1379
1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. August 2024 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Der Angeklagte ist am 7. Dezember 2022 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 5. Dezember 2022 (1 BGs 835/22) festgenommen worden und befindet sich seit dem Folgetag ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich mitgliedschaftlich an einer Vereinigung beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit auf die Begehung von Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) gerichtet gewesen seien, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Der Senat hat mit Beschlüssen vom 12. Juli 2023 (AK 40/23), 22. November 2023 (AK 70/23, StB 66/23) und 12. März 2024 (AK 20/24) jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Er hat das dem Angeklagten im Sinne eines dringenden Tatverdachts angelastete Verhalten in Übereinstimmung mit der rechtlichen Beurteilung im Haftbefehl als mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung nach § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB und - weitergehend - tateinheitlich (§ 52 Abs. 1 StGB) als Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gemäß § 83 Abs. 1 StGB gewertet.
Nachdem der Generalbundesanwalt gegen den Angeklagten und weitere Mitangeklagte Anklage zum Oberlandesgericht erhoben hatte, hat dieses anlässlich der Eröffnung des Hauptverfahrens am 6. März 2024 ebenfalls die Haftfortdauer beschlossen. Die Hauptverhandlung findet seit dem 29. April 2024 statt.
Aufgrund eines Haftprüfungsantrags des Angeklagten hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 1. August 2024 erneut entschieden, dass die gegen ihn angeordnete Untersuchungshaft aufrechterhalten und in Vollzug bleibt. Dagegen wendet er sich mit seiner Beschwerde. Er rügt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots durch die bisherige Verfahrensführung des Vorsitzenden des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts und einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Die zulässige Beschwerde des Angeklagten hat in der Sache aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung keinen Erfolg. Im Einzelnen:
1. Der Angeklagte ist der ihm im vollstreckten Haftbefehl angelasteten Tat weiterhin dringend verdächtig. Auf die früheren Haftfortdauerentscheidungen des Senats wird insoweit Bezug genommen. Dem angefochtenen Beschluss des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts ist nach den konkreten Umständen ausreichend zu entnehmen, dass der dringende Tatverdacht - gegen den für sich genommen der Angeklagte mit seiner Beschwerde keine Beanstandungen erhoben hat - aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme, etwa der vollzogenen Selbstleseverfahren, der Einlassung des Mitangeklagten S. und der Vernehmung polizeilicher Zeugen keine Änderungen erfahren hat.
2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO), gegen die sich der Angeklagte mit seinem Beschwerdevorbringen ebenfalls nicht ausdrücklich wendet, bestehen aus den Gründen der Haftfortdauerentscheidung des Senats fort.
a) Fluchtgefahr ist gegeben, weil die Würdigung sämtlicher Umstände es weiterhin wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte, auf freien Fuß gelangt, dem Verfahren entzöge, als dass er sich ihm zur Verfügung stellte. Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein Fluchtanreiz aus. Wenngleich dieser mit zunehmender Dauer des im Fall der rechtskräftigen Verurteilung anzurechnenden - nunmehr länger als ein Jahr und neun Monate währenden - Untersuchungshaftvollzugs geringer wird (zur sog. Nettostraferwartung BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9 mwN), ist die im angefochtenen Beschluss getroffene tatrichterliche Prognose nicht zu beanstanden, der Angeklagte habe nach wie vor mit einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe von Gewicht zu rechnen. Daneben wird auf die fortgeltenden Gründe der Haftfortdauerentscheidungen des Senats Bezug genommen.
b) Außerdem liegen die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO vor. Bei dessen gebotener restriktiver Auslegung genügt hierfür eine nach den Umständen des Falls nicht auszuschließende Fluchtgefahr. Ausreichend ist ein verhältnismäßig geringes oder entferntes Risiko, das nicht mit bestimmten Tatsachen belegbar sein muss. Nur wenn nach den Umständen des Einzelfalls gewichtige Gründe gegen jede Fluchtgefahr sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem auf § 112 Abs. 3 StPO gestützten Haftbefehl abzusehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2024 - StB 2/24, juris Rn. 13; vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 12 mwN). Derartige Gründe sind hier nicht gegeben.
3. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
4. Der andauernde Vollzug der Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits weiterhin nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Entgegen den Ausführungen in der Beschwerdebegründung ist das Verfahren seit der letzten Haftentscheidung des Senats vom 12. März 2024 (AK 20/24) weiterhin in einer Weise gefördert worden, die dem Anspruch des inhaftierten Angeklagten auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist genügt (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 EMRK; zu den insoweit nach st. Rspr. anzuwendenden Maßstäben s. etwa BGH, Beschlüsse vom 23. Januar 2020 - StB 1/20, juris Rn. 14 f.; vom 24. September 2020 - AK 31/20, juris Rn. 7 f.; vom 13. April 2021 - AK 29/21, juris Rn. 8 f.).
Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht richtet sich gegen neun Angeklagte, denen der Generalbundesanwalt jeweils verschiedene Beteiligungshandlungen an einer terroristischen Vereinigung vorwirft, die sich über einen mehrmonatigen Zeitraum erstrecken. Dem Mitangeklagten L. wird zudem ein versuchtes Tötungsdelikt zur Last gelegt.
a) Vor diesem Hintergrund ist zunächst keine zu beanstandende Verzögerung darin zu erblicken, dass der Vorsitzende des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts die Beweisaufnahme in der laufenden Hauptverhandlung zunächst auf das dem Mitangeklagten L. zur Last gelegte versuchte Tötungsdelikt konzentriert hat.
aa) Strafprozesse sind vorausschauend zu organisieren und straff zu führen. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 24. September 2020 - AK 31/20, juris Rn. 8 mwN). Dazu gehört die sorgfältige Planung der Beweisaufnahme. Die voraussichtliche Dauer einer Beweiserhebung durch das Gericht ist im Vorfeld ebenso abzuschätzen wie die Wahrnehmung von Frage- und Erklärungsrechten der Verfahrensbeteiligten, um Leerläufe möglichst gering zu halten (BGH, Beschluss vom 24. Januar 2024 - StB 2/24, juris Rn. 23). Es liegt dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden, die Abfolge der Beweiserhebungen zu bestimmen (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 1961 - 1 StR 432/61, NJW 1962, 260; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 238 Rn. 11, § 244 Rn. 38; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 238 Rn. 5; MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 238 Rn. 6; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 238 Rn. 3; SK-StPO/Frister, 6. Aufl., § 238 Rn. 13; SSW-StPO/Grube, 5. Aufl., § 238 Rn. 13). Das Beschwerdegericht prüft insoweit, ob der Vorsitzende des Erstgerichts sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.
bb) Dies zugrunde gelegt, begegnet es im vorliegenden Fall keinen Bedenken, mit der Beweisaufnahme zu dem versuchten Tötungsdelikt als dem schwersten Anklagevorwurf zu beginnen, zumal der Umfang des betreffenden Beweisaufnahmeprogramms mit Blick auf die zu erwartende Gesamtdauer der Hauptverhandlung nicht übermäßig groß ist.
Ferner betreffen nicht unwesentliche Teile der diesbezüglichen Beweisaufnahme unmittelbar auch den Beschwerdeführer als mutmaßliches Mitglied der Vereinigung. Denn der Mitangeklagte L., dem nach dem Anklagevorwurf zur Last gelegt wird, mittels einer Langwaffe mehrfach auf Beamte eines Sondereinsatzkommandos geschossen zu haben, soll der Organisation seine Fähigkeiten als Schütze zur Verfügung gestellt haben. Darüber hinaus hat die Aufklärung der konkreten Umstände des versuchten Tötungsdelikts möglicherweise auch Bedeutung für die Frage der Gefährlichkeit der Vereinigung und damit für einen etwaigen Schuld- und Strafausspruch hinsichtlich aller Angeklagten. Auch die bisherige Beweisaufnahme zu den im Besitz des Mitangeklagten L. befindlichen Waffen etc. ist für den Beschwerdeführer relevant, da dem Mitangeklagten L. gerade auch zur Last gelegt wird, der Vereinigung zahlreiche Waffen, Waffenteile, Munition und Zubehör sowie seine handwerklichen Fertigkeiten in der Herstellung funktionstüchtiger Waffen und von Munition bereitgestellt zu haben.
b) Überdies ist die bisherige Verhandlungsdichte nicht zu beanstanden. In Haftsachen ist grundsätzlich eine solche von durchschnittlich mehr als einem Tag pro Woche erforderlich. Ferien- und Krankheitszeiten haben bei der Berechnung außer Betracht zu bleiben. Jedoch ist ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht streng schematisch an der Terminierungsdichte festzumachen; ebenfalls entscheidend sind die konkreten Verfahrensabläufe in der Hauptverhandlung (st. Rspr.; EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 - 49746/99, NJW 2005, 3125 Rn. 51; BVerfG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, StV 2013, 640 Rn. 39 ff.; BGH, Beschlüsse vom 5. Oktober 2018 - StB 45/18, juris Rn. 11; vom 23. Januar 2020 - StB 1/20, juris Rn. 16 ff.; vom 5. Oktober 2022 - StB 41/22, juris Rn. 22; vom 9. Februar 2023 - StB 4/23, juris Rn. 21).
Die hiesige Hauptverhandlung ist durchweg auf zwei Verhandlungstage pro Woche terminiert. Tatsächlich ist die Sache seit Beginn der Hauptverhandlung am 29. April 2024 bis zum 1. August 2024, mithin in 13 Wochen, an 17 Tagen verhandelt worden. Diese Frequenz ist angesichts der Komplexität des Verfahrens und der Anzahl der Angeklagten sowie der damit einhergehenden Notwendigkeit von Zwischenberatungen nicht zu beanstanden.
c) Darüber hinaus hat der Staatsschutzsenat das Verfahren mittels mehrerer umfangreicher Selbstleseverfahren gefördert (zur beschleunigenden Wirkung des Selbstleseverfahrens s. BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 2006 - 2 BvR 1190/06, juris Rn. 6; BGH, Beschluss vom 17. Juli 2019 - StB 18/19, juris Rn. 12). Hierdurch sind bereits Urkunden im Umfang von mehr als 3.000 Seiten in die Hauptverhandlung eingeführt worden, auf die sich die Anklage maßgeblich stützt und die auch den Beschwerdeführer betreffen.
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Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede