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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 282

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, StB 4/23, Beschluss v. 09.02.2023, HRRS 2023 Nr. 282


BGH StB 4/23 - Beschluss vom 9. Februar 2023 (OLG Stuttgart)

Fortdauer der Untersuchungshaft (Fluchtgefahr; Verhältnismäßigkeit: Beschleunigungsgebot in Haftsachen unter Berücksichtigung des Umfangs und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen).

§ 112 StPO; 304 StPO

Entscheidungstenor

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2021 wird verworfen.

2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde am 14. Februar 2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15. Februar 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 111/20), mittlerweile aufgrund des am 28. Juli 2021 verkündeten Haftbefehls des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2021 (5 - 2 StE 7/20).

Gegenstand des aktuell vollstreckten Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe im Februar 2020 als Rädelsführer eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich ebenfalls als Rädelsführer an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 52 Abs. 1 StGB).

Mit Beschlüssen vom 3. September 2020 (AK 22/20), vom 15. Dezember 2020 (AK 41/20) und vom 25. März 2021 (AK 19-28/21) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Generalbundesanwalt hat am 4. November 2020 Anklage gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13. April 2021 an.

Nach 113 Verhandlungstagen hat der Angeklagte mit Schriftsatz seiner Verteidiger vom 9. Januar 2023 Beschwerde gegen den aktuell vollzogenen Haftbefehl eingelegt. Er wendet sich in erster Linie gegen den dringenden Tatverdacht, darüber hinaus gegen die Annahme von Fluchtgefahr. Außerdem hält er den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für unverhältnismäßig. Er beantragt hilfsweise, ihn von der Haft zu verschonen. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

1. Der Angeklagte ist der Begehung der ihm angelasteten Tat weiterhin dringend verdächtig. Im Sinne eines solchen Verdachts ist von dem Sachverhalt auszugehen, den das Oberlandesgericht im angefochtenen Haftbefehl angeführt hat, auf den verwiesen wird. Im Vergleich zum ursprünglichen Haftbefehl, dem Inhalt der genannten Beschlüsse des Senats und der Anklageschrift hat sich eine Änderung dahin ergeben, dass die Angeklagten die in Rede stehende terroristische Vereinigung mit hoher Wahrscheinlichkeit erst am 8. Februar 2020 in M. und nicht früher gründeten, so dass sich der Vorwurf der Beteiligung als rädelsführendes Mitglied auf die wenigen Tage bis zur Festnahme des Angeklagten reduziert.

Der dringende Tatverdacht folgt im Wesentlichen aus den in der bisherigen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnissen. Diese hat der Staatsschutzsenat im angefochtenen Haftbefehl und in der Nichtabhilfeentscheidung vom 12. Januar 2023 im Einzelnen ausführlich dargelegt und seine vorläufige Bewertung des Beweisergebnisses plausibel belegt. Diese Beurteilung des Tatgerichts ist angesichts der laufenden Hauptverhandlung nur eingeschränkt überprüfbar (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 25. August 2021 - StB 30/21, juris Rn. 11). Nach den insoweit anzulegenden Maßstäben (s. zu diesen etwa BGH, Beschluss vom 21. September 2020 - StB 28/20, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f. mwN) tragen die Ausführungen des Oberlandesgerichts die Annahme des dringenden Tatverdachts und genügen entgegen der Auffassung der Verteidigung den Anforderungen an Nachvollziehbarkeit sowie Plausibilität. Eine abschließende Analyse der gewonnenen Beweisergebnisse ist dem Urteil vorbehalten.

Soweit die Verteidigung sich in der Haftbeschwerde mit 20 einzelnen, vom Staatsschutzsenat derzeit als belastend gewürdigten Indizien auseinandersetzt und sie aus ihrer Sicht widerlegt, nimmt sie eine eigene Beweiswürdigung vor, die der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen kann. Gleiches gilt für die Einschätzung der Rolle des Mitangeklagten U. und der Glaubhaftigkeit seiner Angaben.

Rechtlich sind die im angegriffenen Haftbefehl geschilderten tatsächlichen Umstände zutreffend gewürdigt. Daran ändert die von der Verteidigung dargelegte abweichende Beurteilung eines nach ihrer Darstellung ähnlich gelagerten Vergleichsfalls durch den Generalbundesanwalt nichts.

2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität liegen ebenfalls immer noch vor.

a) Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

aa) Von der konkreten Straferwartung geht weiterhin ein Fluchtanreiz aus, denn der Angeklagte hat noch immer eine zu vollstreckende Haftzeit von Gewicht zu erwarten. Die mögliche Sanktion für den Angeklagten wird voraussichtlich § 129a Abs. 4 StGB zu entnehmen sein, der eine Freiheitsstrafe zwischen drei und 15 Jahren (§ 38 Abs. 2 StGB) vorsieht, wobei rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe und Ziele strafschärfend wirken (§ 46 Abs. 2 StGB; vgl. im Ãœbrigen BT-Drucks. 18/3007 S. 15; BGH, Urteil vom 20. August 2020 - 3 StR 40/20, BGHR StGB § 60 Absehen, fehlerhaft 1 Rn. 14 mwN). Das Oberlandesgericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die bislang drei Jahre andauernde Inhaftierung des Angeklagten sich im Fall einer Verurteilung noch nicht im Bereich von zwei Dritteln der zu erwartenden Freiheitsstrafe bewege; dieser Zeitpunkt sei voraussichtlich erst in einigen Monaten erreicht.

bb) Eine hypothetische Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB hat der Staatsschutzsenat in den Blick genommen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 23), eine solche jedoch angesichts des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit für unwahrscheinlich erachtet (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB; vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 mwN). Dies hat das Oberlandesgericht unter anderem damit begründet, dass der Angeklagte von seiner rechtsextremen Tatmotivation bisher keinen Abstand genommen habe. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist diese Würdigung nachvollziehbar. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Staatsschutzsenat der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung, er distanziere sich von Terrorismus sowie Nationalsozialismus und sei nicht fremdenfeindlich, derzeit keinen Glauben schenkt. Dem Tatgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten gewonnen hat, kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu (BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210). Dass es dabei seine Anforderungen an eine bedingte Entlassung von terroristischen Straftätern aus dem Strafvollzug (zu den insoweit nach st. Rspr. anzulegenden Maßstäben s. etwa BGH, Beschluss vom 2. November 2022 - StB 43/22, NJW 2022, 3729 Rn. 6) zu hoch angesetzt hätte, ist nicht ersichtlich.

cc) Der konkrete Tatvorwurf begründet zudem die besondere Gefahr, dass sich der Angeklagte im Fall seiner Freilassung in den Untergrund absetzen wird. Er verfolgte vor seiner Inhaftierung hochwahrscheinlich das Ziel, den deutschen Staat und seine Vertreter zu bekämpfen. Eine Bereitschaft zur freiwilligen Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden ist vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten. Der Angeklagte ist nach den bislang gewonnenen Erkenntnissen außerdem in der rechtsextremistischen Szene vernetzt und kann im Fall des Untertauchens auf deren Unterstützung zählen. Auch insoweit erschöpft sich die Argumentation der Verteidigung im Schriftsatz vom 2. Februar 2023, es gebe keine Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Gesinnung des Angeklagten, in einer eigenen Würdigung der bisher erhobenen Beweise. Die von ihr in diesem Zusammenhang zitierte Sprachnachricht des Angeklagten darüber, was beim „Freikorps“ erwünscht sei und was nicht, ist als Beleg dafür, dass er sich - damals oder jetzt - von rechtsgerichteten Aktivisten distanziert, jedenfalls nicht ohne Weiteres geeignet.

dd) Fluchthemmende Umstände sind nach wie vor nicht ersichtlich. Die Beziehung zu seiner Ehefrau, den beiden Kindern und seinen Eltern hielt den Angeklagten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von dem Plan ab, sich an Terroranschlägen zu beteiligen. Außerdem ist die Ehe mittlerweile geschieden. Ãœber belastbare soziale Bindungen außerhalb der rechtsextremistischen Szene ist nach wie vor nichts bekannt. Ein von der Verteidigung ins Feld geführter einzelner Freund, der nicht in der rechten Szene beheimatet sein soll, kann die Fluchtgefahr nicht maßgeblich reduzieren. Wegen der weiteren diesbezüglichen Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats vom 3. September 2020 (AK 22/20) verwiesen.

b) Die vorliegenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) unverändert ebenso - mit dem Oberlandesgericht - auf den dort geregelten Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt werden kann.

c) Wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO). Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist auch bei Verhängung der in der Beschwerdeschrift vorgeschlagenen Auflagen nicht erfolgversprechend.

3. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; zu den insoweit nach st. Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN).

a) Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung und -vollstreckung ist bei Berücksichtigung und Abwägung der Besonderheiten des vorliegenden Verfahrens noch immer dahin aufzulösen, dass die Untersuchungshaft fortzudauern hat. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Verbrechenstatbestände wiegen schwer. Die Gründung und die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Rädelsführer im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven haben eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund hat das in die Abwägung einzustellende Legalitätsprinzip, das die Aufklärung und Ahndung von Straftaten gebietet, besonderes Gewicht.

b) Der Blick auf die konkrete Straferwartung von jedenfalls weiteren zwei Jahren Haftzeit und die formal mögliche Aussetzung des Strafrests führt zu keinem anderen Ergebnis. Selbst das Erreichen des Termins des § 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB hat für sich genommen nicht zur Folge, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 15/22, StV 2022, 634 Rn. 25 mwN). Eine Strafrestaussetzung steht hier, wie ausgeführt, auch nicht zu erwarten.

c) Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist vor allem dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet. Entgegen den Ausführungen der Verteidigung ist das Verfahren mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden. Insoweit wird zunächst auf die gegen einen Mitangeklagten ergangene Haftentscheidung des Senats verwiesen (BGH, Beschluss vom 20. September 2022 - StB 39/22, juris Rn. 21). Durch die seither aufgrund von Krankheit und/oder Absonderungspflichten notwendigen Terminsaufhebungen hat sich die Verhandlungsdichte nicht maßgebend entzerrt. Wie die Verteidigung in ihrer Stellungnahme dargelegt hat, ist bisher an 118 und damit durchschnittlich fast 1,3 Tagen pro Woche verhandelt worden. Dies entspricht ohne Weiteres dem grundsätzlichen Erfordernis von wöchentlichen Terminen in Haftsachen (s. zu diesem etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, StV 2013, 640 Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 - StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN), wobei Ferienzeiten außer Betracht zu bleiben haben (s. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2018 - StB 45/18, juris Rn. 11 mwN). Hinzu kommt, dass der Staatsschutzsenat das Verfahren mittels eines umfangreichen Selbstleseverfahrens gefördert hat (zur beschleunigenden Wirkung des Selbstleseverfahrens s. BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 2006 - 2 BvR 1190/06, juris Rn. 6; BGH, Beschluss vom 17. Juli 2019 - StB 18/19, juris Rn. 12).

Soweit die Verteidigung überdies unter Auflistung von Beispielen eine schleppende Verhandlungsführung bemängelt, ist ihr im Ausgangspunkt dahin zuzustimmen, dass Strafprozesse vorausschauend zu organisieren und straff zu führen sind. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 24. September 2020 - AK 31/20, juris Rn. 8 mwN). Der hiesige Verfahrensablauf belegt jedoch auch unter Zugrundelegung der Darstellung der Verteidigung keine vermeidbaren Verzögerungen, die im Hinblick auf die Haftfrage derzeit als erheblich zu beurteilen wären.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 282

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede