hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 669

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 276/23, Urteil v. 06.12.2023, HRRS 2024 Nr. 669


BGH 2 StR 276/23 - Urteil vom 6. Dezember 2023 (LG Köln)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose: Gesamtwürdigung, keine erheblichen Straftaten über Jahre hinweg trotz psychischen Defekts, Erheblichkeit, mittlere Kriminalität, Zufallsopfer, einfache Körperverletzung, Faustschläge ins Gesicht, Steuerungsfähigkeit).

§ 63 StGB; § 223 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Tat ist erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, können dem Bereich der mittleren Kriminalität zugerechnet werden; insbesondere Gewalt- und Aggressionsdelikte zählen, soweit es sich nicht um bloße Bagatellen handelt, regelmäßig zu den erheblichen Straftaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB. Erheblich können insbesondere Taten sein, die Zufallsopfer im öffentlichen Raum treffen und zu erheblichen Einschränkungen in der Lebensführung des Opfers oder sonst schwerwiegenden Folgen führen; denn derartige Taten sind in hohem Maße geeignet, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören und das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.

2. Anders kann es bei einfachen Körperverletzungen im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB liegen, die mit geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit nur unwesentlich überschreiten. Faustschläge ins Gesicht sind aber in der Regel bereits der mittleren Kriminalität zuzurechnen, insbesondere dann, wenn sie Verletzungen zur Folge haben, die ärztlich versorgt werden müssen. Bei der Prüfung der Erheblichkeit ist auch zu bedenken, dass ein Beschuldigter, der in wahnhafter Verkennung der Realität oder krankheitsbedingter Einschränkung oder Aufhebung der Steuerungsfähigkeit handelt, es insbesondere bei Schlägen gegen bzw. in Richtung des Kopfes häufig nicht in der Hand hat, die Folgen seines aggressiven Vorgehens zu steuern, und der Umfang der Verletzungen deshalb häufig vom Zufall abhängt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 30. März 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. a) Nach den Feststellungen leidet der bislang nicht vorbestrafte Beschuldigte seit mindestens 23 Jahren an einer Schizophrenie, zuletzt an der Unterform der hebephrenen Schizophrenie (ICD-10 F20.1.1), sowie einer langjährigen Alkoholabhängigkeit. Diese äußert sich bei ihm in einem verantwortungslosen und nicht vorhersehbaren Verhalten, einer hochfahrenden aggressiven Umgangsweise und Affektverflachung bei flüchtigen Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Im unbehandelten Zustand befindet er sich „im Dauerzustand einer schwelenden Erregung“; schon alltägliche Situationen können bei ihm aggressives Verhalten auslösen. Der Beschuldigte, der nicht krankheitseinsichtig ist, wurde im Jahr 2000 erstmalig stationär wegen paranoider Psychose psychiatrisch behandelt. Bis zum Jahr 2018 folgten insgesamt 26 stationäre Behandlungen wegen eigen- und fremdgefährdenden Verhaltens. Seine Behandlungen waren geprägt durch mangelnde Kooperation, fehlende Krankheitseinsicht, Verweigerung der Medikation nach der Entlassung und zunehmender Verschlechterung des Krankheitsbildes sowie zusätzlich durch eine sich entwickelnde schwere Alkoholabhängigkeit.

Von 2018 bis Mai 2019 war er in einem geschlossenen Heim für Menschen mit psychischen Erkrankungen untergebracht, in der weitere stationäre Behandlungen erfolgten, weil sich die psychischen Symptome als Folge der Medikamentenverweigerung verschlimmert hatten. Nach einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter wurde er entlassen und lebte bis zu seiner einstweiligen Unterbringung am 18. November 2022 in Notunterkünften.

b) Zu den Anlasstaten hat das Landgericht folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

aa) Am 30. Juli 2021 gegen 15.00 Uhr befand sich der Zeuge T. auf dem Rückweg von einem Einkauf. Aufgrund einer Gehbehinderung bewegte er sich mit Hilfe eines Rollators nur langsam fort. Er passierte den Beschuldigten, der mit seinen beiden Begleitern Alkohol konsumierte und den er aus der städtischen Notunterkunft, in der er zu diesem Zeitpunkt ebenfalls lebte, kannte. Der Beschuldigte und seine Begleiter riefen „Geld, Geld!“, worauf T. indes nicht reagierte. Der Beschuldigte näherte sich sodann dem Zeugen von hinten und schlug ihm entweder mit der Faust oder mit der flachen Hand gegen den Kopf. Ob dieser in der Folge des Schlages oder beim Loslassen des Rollators stolperte und zu Boden fiel, konnte die Strafkammer nicht feststellen. T. hatte nach dem Schlag „leichte Kopfschmerzen“ (Fall II. 1. a) der Urteilsgründe).

bb) Am 28. April 2022 setzte sich der leicht alkoholisierte Beschuldigte auf eine Bank in unmittelbarer Nähe zur Zeugin S., deren Cousine und drei Kleinkindern, „fixierte diese […] und schaute böse“. S. forderte den Beschuldigten auf, Abstand zu halten. Dieser hustete sodann die Kinder an und redete auf S. „in einem aggressiven Tonfall“ auf Russisch ein; auf Deutsch sagte er zu ihr: „Ich klatsch‘ euch alle um“ (Fall II. 1. b) der Urteilsgründe).

cc) Am 21. Mai 2022 steckte der alkoholisierte Beschuldigte in einem Supermarkt eine Tetra-Packung Wein im Wert von 1,99 Euro unter seine Jacke. Im Kassenbereich fiel die Packung heraus. Der Beschuldigte kam sodann der Aufforderung des Hausdetektivs O. nach und folgte diesem in sein Büro. O. fertigte eine Strafanzeige. Der Beschuldigte verweigerte seine Unterschrift. Er ergriff den von O. angebotenen Kugelschreiber und führte diesen „mit einer seitlichen Bewegung im Sitzen in Richtung der linken Hand des rechts neben ihm stehenden Zeugen O. “. Mit der Spitze des Kugelschreibers traf er O. an der Innenseite des linken Handgelenks und verursachte dort eine oberflächliche punktförmige Hautverletzung (Fall II. 1. c) der Urteilsgründe).

dd) Am 10. Juni 2022 beschädigte der alkoholisierte Beschuldigte ein vor der Notunterkunft abgestelltes Kraftfahrzeug ohne ersichtlichen Anlass, indem er die Windschutzscheibe sowie das Fenster der Fahrerseite mit einem Hammer zerschlug und mehrfach seitlich gegen das Fahrzeug trat (Fall II. 1. d) der Urteilsgründe).

c) Ãœber die Antragsschrift hinaus hat das Landgericht weitere Taten festgestellt.

aa) Am 28. August 2022 gegen 14.30 Uhr fuhr der Zeuge C. mit seinem Fahrzeug auf das Gelände einer Tankstelle, um sein Fahrzeug zu betanken. Der Beschuldigte stand breitbeinig vor der von dem Zeugen C. angefahrenen Zapfsäule und hielt eine Weinflasche aus Glas in der Hand. C. forderte ihn auf, dass er weggehen solle, woraufhin der Beschuldigte zunächst ein Küchenmesser aus der Tasche zog, es dann aber wieder einsteckte und zum Eingang des Tankstellengebäudes ging. C. rief ihm zu, „dass er das besser sein lassen solle“, woraufhin sich der Beschuldigte umdrehte, die Glasflasche auf den Boden schlug und sodann mit dem abgebrochenen Flaschenkopf stark schwankend auf ihn zuging. C. brachte den Beschuldigten widerstandslos zu Boden und fixierte ihn bis zum Eintreffen der Polizei (Fall II. 2. a) der Urteilsgründe).

bb) Am 10. Oktober 2020 lief der Beschuldigte der bewegungseingeschränkten Zeugin K. hinterher und beschmierte deren Jacke mit einem Kugelschreiber; die Strafkammer konnte nicht feststellen, dass der Beschuldigte die Geschädigte geschlagen oder mit dem Kugelschreiber verletzt hat (Fall II. 2. b) der Urteilsgründe). Dieses Verfahren hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 10. März 2023 gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt.

2. Das Landgericht ist dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. H. gefolgt, wonach bei dem Beschuldigten seit mehreren Jahren eine chronifizierte hebephrene Schizophrenie und eine - für die Anlasstaten irrelevante - Alkoholabhängigkeit vorliegt. Diese zu den Tatzeitpunkten medikamentös nicht behandelte krankhafte seelische Störung sei so ausgeprägt und handlungsleitend gewesen, dass dem Beschuldigten die Einsichtsfähigkeit im Sinne des § 20 StGB gefehlt habe. Darauf, ob zugleich die Steuerungsfähigkeit aufgehoben gewesen sei, „wovon aufgrund der verminderten Impulskontrolle im Zusammenhang mit der Schizophrenie ebenfalls auszugehen sei“, komme es nicht mehr an.

Gleichwohl hat die Strafkammer die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB abgelehnt. Es fehle bereits an einer geeigneten Anlasstat gemäß § 63 Satz 1 StGB; die Taten zu Lasten der Zeugen T. und O. seien „niederschwellig“, im Übrigen handele es sich um keine „taugliche(n) Anlasstat(en)“. Besondere Umstände gemäß § 63 Satz 2 StGB, die die Erwartung rechtfertigen, der Beschuldigte werde infolge seines Zustands künftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen, lägen ebenfalls nicht vor.

Zwar habe der Sachverständige ausgeführt, dass aufgrund des ausgeprägten Krankheitsbildes und der fehlenden Krankheitseinsicht des Beschuldigten, der hohen Wahrscheinlichkeit weiteren Alkoholkonsums und des zu erwartenden Absetzens der erforderlichen psychiatrischen Medikation mit vergleichbaren Delikten zu rechnen sei. Lediglich dem Zufall sei es geschuldet, dass die Grenze zu einer gefährlichen Körperverletzung bislang nicht überschritten worden sei. „Diese seien daher jederzeit möglich“.

Eine Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner - in den Fällen II. 1. a) und II. 1. c) der Urteilsgründe jeweils als vorsätzliche Körperverletzung gewerteten - Taten ergebe gleichwohl nicht die Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass infolge seines überdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Bei den Anlassdelikten und bei den im Bundeszentralregister eingestellten Verfahren handele es sich um geringfügige Taten; es sei auch nicht festzustellen, dass sich die Taten im Schweregrad gesteigert hätten. Die Annahme, lediglich glückliche Zufälle hätten schlimmere Folgen verhindert, sei spekulativ.

II.

Die Ablehnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Täter bei Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder zumindest vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. April 2022 - 1 StR 34/22, NStZ-RR 2022, 202, 203, und vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22, juris Rn. 5; Urteil vom 21. Dezember 2022 - 2 StR 245/22, juris Rn. 8, jeweils mwN). Zudem muss es überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird; dadurch muss eine schwere Störung des Rechtsfriedens zu besorgen sein. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (vgl. nur BGH, Urteil vom 21. Dezember 2022 - 2 StR 245/22, juris Rn. 8 mwN). Der Umstand, dass ein Täter trotz eines psychischen Defekts über Jahre hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger solcher Straftaten sein (vgl. nur BGH, Urteil vom 8. September 2022 - 3 StR 25/22, juris Rn. 9 mwN).

2. Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen halten die Ausführungen des Landgerichts, mit denen es eine Gefährlichkeitsprognose verneint hat, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Bereits die Bewertung der Tat zum Nachteil des Zeugen T. im Fall II. 1. a) der Urteilsgründe als „niederschwellig“ erweist sich als rechtlich fehlerhaft.

aa) Eine Tat ist erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 2022 - 4 StR 380/21, NStZ-RR 2022, 173, 174 mwN). Straftaten, die im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, können dem Bereich der mittleren Kriminalität zugerechnet werden; insbesondere Gewalt- und Aggressionsdelikte zählen, soweit es sich nicht um bloße Bagatellen handelt, regelmäßig zu den erheblichen Straftaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB (BGH, aaO, mwN). Erheblich können insbesondere Taten sein, die Zufallsopfer im öffentlichen Raum treffen und zu erheblichen Einschränkungen in der Lebensführung des Opfers oder sonst schwerwiegenden Folgen führen; denn derartige Taten sind in hohem Maße geeignet, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören und das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (BGH, aaO, mwN).

Anders kann es bei einfachen Körperverletzungen im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB liegen, die mit geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit nur unwesentlich überschreiten (vgl. BGH, Urteile vom 6. Februar 2019 ? 5 StR 495/18, juris Rn. 21, und vom 17. Februar 2022 - 4 StR 380/21, NStZ-RR 2022, 173, 174, jeweils mwN). Faustschläge ins Gesicht sind aber in der Regel bereits der mittleren Kriminalität zuzurechnen, insbesondere dann, wenn sie Verletzungen zur Folge haben, die ärztlich versorgt werden müssen (vgl. BGH, aaO, mwN). Bei der Prüfung der Erheblichkeit ist auch zu bedenken, dass ein Beschuldigter, der in wahnhafter Verkennung der Realität oder krankheitsbedingter Einschränkung oder Aufhebung der Steuerungsfähigkeit handelt, es insbesondere bei Schlägen gegen bzw. in Richtung des Kopfes häufig nicht in der Hand hat, die Folgen seines aggressiven Vorgehens zu steuern, und der Umfang der Verletzungen deshalb häufig vom Zufall abhängt (vgl. BGH, Urteil vom 6. Februar 2019 ? 5 StR 495/18, juris Rn. 23).

bb) Hieran gemessen ist zu besorgen, dass das Landgericht für seine Wertung erkennbar nicht alle relevanten tatsächlichen Umstände in den Blick genommen hat.

Die Strafkammer hat allein darauf abgestellt, dass der „einzelne“ Schlag von hinten „in der Art seiner Ausführung (nicht) übermäßig kräftig war“ und die Beeinträchtigungen des nicht wehrhaften Zeugen nur kurzfristig und nicht schwerwiegend waren. Das greift indessen zu kurz, weil sie nicht berücksichtigt hat, dass die hohe Gefährlichkeit der Tat aus dem überraschenden Angriff von hinten gegen den Kopf eines gehbehinderten Menschen resultiert, der sich zu diesem Zeitpunkt keines Angriffs versah. Hinzu kommt, dass der Beschuldigte als Ausfluss seiner Erkrankung die gebrechlichkeitsbedingte Anfälligkeit seines Gegenübers nicht richtig beurteilen und von ihm deswegen kein abgestuftes Handeln erwartet werden konnte.

b) Auch die Annahme des Landgerichts, erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne des § 63 Satz 2 StGB seien von dem Beschuldigten zukünftig nicht zu erwarten, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Ausführungen des Landgerichts zur Gefährlichkeitsprognose sind lückenhaft und lassen die erforderliche umfassende Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten vermissen.

aa) Die Strafkammer legt ihrer Prognose lediglich die - in den Fällen II. 1. a) und II. 1. c) der Urteilsgründe rechtlich zutreffend als vorsätzliche Körperverletzung bewertete - Anlasstaten sowie zwei weitere festgestellte, von dem Beschuldigten begangene Taten zugrunde und setzt sich allein mit diesen auseinander.

Unberücksichtigt lässt es hingegen das Vorleben des Beschuldigten, der erstmals im Jahr 2000 stationär wegen einer paranoiden Psychose psychiatrisch behandelt worden war und der bis zum Jahr 2018 insgesamt 26 stationäre Unterbringungen wegen eigen- und fremdgefährdenden Verhaltens folgten. Bis Mai 2019 war er sodann in einem geschlossenen Heim für Menschen mit psychischen Erkrankungen untergebracht, in der weitere stationäre Behandlungen erfolgten. Nach einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter wurde er entlassen. Einzelheiten zu der Art des fremdgefährdenden Verhaltens und zum Hintergrund der tätlichen Auseinandersetzung sind den Urteilsgründen allerdings nicht zu entnehmen.

Auch zu der weiteren Delinquenz des Beschuldigten vor den verfahrensgegenständlichen Taten stellt die Strafkammer lediglich fest, dass die laut Bundeszentralregisterauszug wegen Schuldunfähigkeit eingestellten Verfahren zwischen dem 17. Februar 2021 und dem 26. Januar 2023 wegen Bedrohung, Erschleichens von Leistungen und Beleidigung sich nicht auf erhebliche Straftaten beziehen. Jedenfalls bei einer Bedrohung kommt es indes maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls an. Denn ernst zu nehmende Bedrohungen mit schweren Verbrechen können durchaus als erheblich im Sinne von § 63 StGB angesehen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Juli 2006 - 2 StR 285/06, NStZ-RR 2006, 338). Dazu verhält sich das Urteil nicht.

In diesem Zusammenhang hätte es auch der Mitteilung der Gründe der sich aus dem Bundeszentralregister ergebenden rechtskräftigen Untersagung des Besitzes und Erwerbes von Waffen durch die Kreispolizeibehörde O. vom 12. Oktober 2022 bedurft (vgl. auch BGH, Urteil vom 12. Juni 2008 - 4 StR 140/08, juris Rn. 21), die ebenfalls in eine Gesamtwürdigung einzustellen gewesen wären.

Angesichts dessen kommt es auf die Frage, ob das Landgericht den im Fall II. 1. b) der Urteilsgründe festgestellten Sachverhalt zutreffend (nur) als Beleidigung gemäß § 185 StGB bewertet hat, nicht an.

bb) Soweit die Strafkammer aus der durch den Sachverständigen festgestellten fortschreitenden Depravation des Beschuldigten nicht den Schluss auf eine zu erwartende Steigerung der Erheblichkeit seiner Straftaten gezogen hat, weil die festgestellten Aggressionsdelikte bislang nur von geringer Gewalt geprägt gewesen seien und sich die Taten im Antragszeitraum in ihrem Schweregrad nicht gesteigert hätten, hätte sie sich zudem mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass der Beschuldigte bereits seit 23 Jahren psychisch erkrankt ist, er jedoch erst seit Mitte 2021 verstärkt durch Straftaten aufgefallen ist.

cc) Zu Recht beanstandet die Revision, dass die Strafkammer nicht berücksichtigt hat, dass es jedenfalls in den Fällen II. 1. a) und II. 2. a) der Urteilsgründe nur dem Zufall bzw. dem Verhalten des Zeugen C. geschuldet war, dass die Taten ohne schwerwiegende Folgen geblieben sind. Als Ausfluss seiner Erkrankung kann der Beschuldigte weder die gebrechlichkeitsbedingte Anfälligkeit seines Gegenübers noch die Gefährlichkeit eingesetzter Gegenstände - ein mitgeführtes Küchenmesser sowie einen abgebrochenen Flaschenhals - richtig beurteilen. Aufgrund dessen ist von ihm kein abgestuftes Handeln zu erwarten.

dd) Unklar bleibt schließlich, warum die Strafkammer der konkreten Einschätzung des Sachverständigen nicht gefolgt ist, wonach aufgrund des ausgeprägten Krankheitsbildes, fehlender Krankheitseinsicht, der hohen Wahrscheinlichkeit weiteren Alkoholkonsums und des zu erwartenden Absetzens der erforderlichen psychiatrischen Medikation nicht nur mit vergleichbaren Delikten einfacher Körperverletzung zu rechnen sei, sondern auch gefährliche Körperverletzungsdelikte „jederzeit möglich“ seien. Dass das Landgericht diese Einschätzung des Sachverständigen lediglich als Äußerung einer bloßen Möglichkeit oder latenten Gefahr versteht, lässt besorgen, dass es die von dem Sachverständigen mit „jederzeit“ beschriebene zeitliche Komponente aus dem Blick verloren hat.

3. Das Urteil beruht auch auf den aufgezeigten Mängeln. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei lückenloser Abwägung die für eine Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus erforderliche ungünstige Gefahrprognose getroffen hätte.

4. Eine Aufrechterhaltung der für sich genommen rechtsfehlerfreien Feststellungen zu den Anlasstaten und zu den Voraussetzungen des § 20 StGB kommt nicht in Betracht, weil der Beschuldigte das Urteil insoweit nicht anfechten konnte (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2022 - 2 StR 245/22, juris Rn. 19 mwN). Der neue Tatrichter wird insgesamt neue Feststellungen zu treffen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 669

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede