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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1113

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 474/21, Urteil v. 20.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1113


BGH 2 StR 474/21 - Urteil vom 20. Juli 2022 (LG Darmstadt)

Beweiswürdigung (beschränkte Revisibilität der Beweiswürdigung; Betäubungsmittelstrafbarkeit).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 11. März 2021 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision der Staatsanwaltschaft wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in elf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt und Einziehungsentscheidungen getroffen; im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen die Freisprüche (Fälle 269 bis 271 der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Darmstadt vom 19. Mai 2020); außerdem beanstandet sie, dass das Landgericht seiner Kognitionspflicht im Hinblick auf weitere angeklagte Taten nicht nachgekommen sei. Das vom Generalbundesanwalt teilweise vertretene Rechtsmittel hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Hinblick auf den Teilfreispruch im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Gemäß der Anklage (Ziffer 269 bis 271) ist dem Angeklagten u.a. vorgeworfen worden, von dem gesondert verfolgten M. in den Jahren 2018/2019 zweimal ein Kilogramm und einmal zwei Kilogramm Kokain zu einem Kaufpreis von 29.000 Euro je Kilogramm erworben zu haben.

2. Der Angeklagte hat die Taten in Abrede gestellt. Das Landgericht hat ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Zwar beruhten die angeklagten Taten der Ziffern 269 bis 271 im Wesentlichen auf den Angaben des einzigen Belastungszeugen S. ; die Angaben des S., der „verhältnismäßig viele Details schildern konnte“, seien auch glaubhaft, zumal „sich keine der umfangreichen Angaben […] in seinen Vernehmungen […] als unwahr herausgestellt habe“. Die behauptete Menge des erworbenen Kokains passe überdies ohne Weiteres zu Art und Ausmaß des Rauschmittelhandels des Angeklagten.

Nach Auffassung der Strafkammer „reichten (jedoch) alleine die Angaben des S. nicht aus, um den Angeklagten dieser Taten zu überführen“. So sei eine zeitliche Eingrenzung der vermeintlichen Betäubungsmittelgeschäfte nicht möglich gewesen. Als unzutreffend habe sich die Erklärung des S. heraus gestellt, wonach das auf seinem Mobiltelefon sichergestellte Video, das ihn - mutmaßlich auf dem Hof des von dem gesondert Verfolgten G. betriebenen Gebrauchtwagenhandels in O. - mit einem Geldbündel in der Hand zeige, mit dem der Angeklagte eine bevorstehende Lieferung von zwei Kilogramm Kokain durch M. bezahlen wolle, vom 10. Oktober 2018 stamme. Denn „nachgewiesenermaßen“ habe sich der Angeklagte an diesem Tag am Flughafen auf dem Weg in die Türkei befunden. Auch die ausgewertete Telekommunikationsüberwachung habe keine weiteren Anhaltspunkte geliefert. M. und G. haben die Taten schließlich ebenfalls in Abrede gestellt.

II.

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf den Teilfreispruch (Taten Ziffern 269 bis 271 der Anklageschrift) sowie im Hinblick auf die (Nichtverurteilung der) angeklagten Taten Ziffern 50-96, 122-147, 150-158, 161-184, 191-198 und 252 - 266 der Anklageschrift beschränkt. Zwar hat die Staatsanwaltschaft am Ende der Revisionsbegründung lediglich beantragt, den Teilfreispruch aufzuheben. Allerdings widersprechen sich hier Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründungsschrift, weswegen das Angriffsziel nach ständiger Rechtsprechung durch Auslegung zu ermitteln ist (vgl. BGH, Urteil vom 30. November 2017 - 3 StR 385/17, juris Rn. 10 mwN). Danach beanstandet die Staatsanwaltschaft - neben dem Angriff auf den Teilfreispruch - auch, dass das erkennende Gericht nicht über die Anklagepunkte Ziffern 50-96, 122-147, 150-158, 161- 184, 191-198, 252-266 befunden habe.

2. Der Teilfreispruch hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179).

Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 1. Juni 2016 - 1 StR 597/15, juris Rn. 27 mwN). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. etwa Senat, Urteile vom 22. September 2016 - 2 StR 27/16, juris Rn. 26, und vom 26. Oktober 2016 - 2 StR 275/16, juris Rn. 12 mwN).

b) Die Beweiswürdigung zu dem der Glaubhaftigkeit der Angaben des S. entgegenstehenden Video vom 10. Oktober 2018 erweist sich als lückenhaft.

Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten im Übrigen wesentlich auf die als zuverlässig bezeichneten Angaben des Zeugen S. gestützt; der aus Sicht der Strafkammer durchaus glaubwürdige Belastungszeuge S. sei auch im Hinblick auf den freigesprochenen Teil grundsätzlich glaubwürdig. Das Landgericht hat sich indes gehindert gesehen, eine Verurteilung des Angeklagten „alleine“ auf die Angaben des S. zu stützen. Es sei bereits eine zeitliche Eingrenzung der Betäubungsmittelgeschäfte - 2018 oder 2019 - nicht möglich; darüber hinaus habe sich die Erklärung des S. als unzutreffend herausgestellt, wonach das auf seinem Mobiltelefon sichergestellte Video, mit dem das bevorstehende Betäubungsmittelgeschäft über zwei Kilogramm Kokain dokumentiert sei, vom 10. Oktober 2018 stamme. Denn „nachgewiesenermaßen“ habe sich der Angeklagte an diesem Tag am Flughafen auf dem Weg in die Türkei befunden.

aa) Entgegen der Annahme des Landgerichts ist der Tatzeitraum der drei Betäubungsmittelgeschäfte zwischen dem Angeklagten und dem gesondert verfolgten M. eingrenzbar. Aufgrund der Angaben des „glaubwürdigen“ Zeugen S. habe sich M. ab Dezember 2018 nicht mehr in Deutschland befunden; im Jahr 2019 habe es keine Kokaingeschäfte zwischen M. und dem Angeklagten gegeben. Bei der auf dem Video vom 10. Oktober 2018 dokumentierten Betäubungsmitteltat habe es sich um das letzte Geschäft über zwei Kilogramm Kokain gehandelt.

bb) Das Landgericht hat sich zudem nicht mit der Frage auseinandergesetzt, weshalb es dem Angeklagten am 10. Oktober 2018 nicht möglich gewesen sein soll, den vom Zeugen S. bekundeten Kauf des Kokains durchzuführen. Allein die Feststellung, der Angeklagte habe sich an diesem Tag am Flughafen und auf dem Weg in die Türkei befunden, reicht hierfür nicht. Der zeitliche Ablauf in dieser - aufgrund der konkreten Angaben des Zeugen S. und des vorliegenden Videos mit dem angegebenen Datumsstempel - wesentlichen Frage, hätte näherer Erörterung bedurft. Den Urteilsgründen sind keine Feststellungen dazu zu entnehmen, wann sich der Angeklagte am 10. Oktober 2018 an welchem Flughafen befunden haben soll. Der Senat kann nicht überprüfen, ob in Anbetracht der Distanz zwischen dem Ort der Aufnahme des Videos und dem vom Angeklagten genutzten Flughafen sowie der - den Urteilsgründen nicht zu entnehmenden - Uhrzeit der Erstellung des Videos, es dem Angeklagten dennoch möglich war, sowohl das Kokaingeschäft zu tätigen als auch noch danach rechtzeitig zum Flughafen zu fahren.

c) Das Urteil beruht auf diesen Rechtsfehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer den Angeklagten ohne die aufgezeigten Rechtsfehler wegen auch diesen angeklagten Betäubungsmittelstraftaten (Handel mit insgesamt vier Kilogramm Kokain unter Beteiligung des gesondert Verfolgten M.) für schuldig befunden hätte. Im Falle einer Verurteilung auch in diesen Fällen hätte der Angeklagte auch eine höhere Gesamtfreiheitsstrafe zu vergegenwärtigen gehabt.

3. Die weitergehende Revision hat dagegen keinen Erfolg. Die Zusammenfassung der aufgeführten Taten Ziffern 50-96, 122-147, 150-158, 161-184, 191-198, 252-263, 265 der Anklage im Urteil zu mehreren Bewertungseinheiten ist rechtlich nicht zu beanstanden und verletzt nicht die Kognitionspflicht. Im Fall des - hier rechtlich unbedenklichen - Wegfalls tatmehrheitlich angeklagter Delikte durch die Annahme von Bewertungseinheiten wird der gesamte Verfahrensgegenstand durch die (tateinheitliche) Verurteilung erschöpfend erledigt (vgl. MüKo-StGB/O?lakcio?lu, 4. Aufl., BtMG, § 29 Rn. 495 mwN).

Die nicht abgeurteilte Tat zu Ziffer 264 der Anklage unterliegt hingegen noch der Kognition des Landgerichts (vgl. Senat, Beschluss vom 11. April 2017 - 2 StR 345/16, NStZ-RR 2017, 212, 213 mwN). Es wird zu erwägen sein, dieses - noch bei der bisherigen Strafkammer anhängig gebliebene - Verfahren zu dem zurückverwiesenen Verfahren entsprechend § 4 StPO hinzuzuverbinden (vgl. auch BGH, Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 138).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1113

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede