HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 801
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 597/15, Urteil v. 01.06.2016, HRRS 2016 Nr. 801
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 16. Juli 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen des Totschlags gegenüber seinem Bruder und einer anschließend an seiner Lebensgefährtin begangenen gefährlichen Körperverletzung freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, mit der sie insbesondere die Beweiswürdigung des Landgerichts beanstandet. Das insoweit vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat hinsichtlich des Freispruchs vom Vorwurf des Totschlags Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet.
1. Die zugelassene Anklage legt dem Angeklagten folgende Taten zur Last:
a) Bei einer Auseinandersetzung wurde der Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 1. Januar 2015 in seiner Wohnung von seinem Bruder, dem später getöteten Sch., massiv geschlagen. Nachdem die beiden Brüder von der Lebensgefährtin des Angeklagten, der Zeugin S., getrennt worden waren, griff der Angeklagte zu einem im Wohnzimmerregal liegenden zweiteiligen Ziermesser, das er auseinanderzog, sodass er in beiden Händen jeweils ein Messer hielt. Nachdem die Zeugin S. in die Küche geflohen war, flüchtete Sch. in den Flur in Richtung des Treppenabgangs zum Ausgang. Dort drehte er sich nochmals zu dem Angeklagten um. In diesem Moment versetzte ihm der Angeklagte mit dem größeren der beiden Messer, das er in seiner rechten Hand hielt, in Tötungsabsicht zwei wuchtige Stiche in den Thoraxbereich, die jeweils in die Brusthöhle eindrangen und den linken Lungenlappen verletzten. Als sich Sch. daraufhin in die Toilette flüchten wollte, versetzte ihm der Angeklagte mit diesem Messer einen weiteren wuchtigen Stich von hinten in den unteren Rückenbereich. Dieser Stich drang ebenfalls in den linken Lungenlappen und das Herz ein. Mit dem mitgeführten kleineren Messer stach der Angeklagte seinem Bruder außerdem noch in die rechte Hüfte. Sch. verstarb unmittelbar nach den Stichen an den ihm zugefügten Verletzungen.
b) Anschließend ging der Angeklagte zum Badezimmer, in dem sich seine Lebensgefährtin aufhielt, packte sie am Kopf und schlug diesen gegen die Waschmaschine. Anschließend trat er mehrfach mit den Worten „jetzt hast du, was du wolltest“ auf die am Boden liegende Geschädigte ein, die mehrere Hämatome erlitt.
2. Demgegenüber hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:
a) Der Angeklagte und der später getötete Sch. sind Brüder. Zwischen beiden kam es zeitlebens zu heftigen, immer wieder auch körperlich ausgetragenen Auseinandersetzungen, die nicht nur auf die unterschiedliche Lebensweise, sondern vor allem auch auf den besonderen Charakter Sch. s zurückzuführen waren. Er zeichnete sich durch zwei völlig entgegengesetzte Wesenszüge aus: Einerseits war er überaus gutmütig, hilfsbereit und großzügig, andererseits aber auch extrem reizbar, jähzornig und außerordentlich cholerisch. Aus dem nichtigsten Anlass heraus und für andere unvorhersehbar und überraschend konnte er binnen Sekunden „explodieren“ und vollständig die Kontrolle über sich selbst verlieren, was sich sowohl in äußerst verletzenden verbalen Angriffen als auch in körperlichen Übergriffen äußerte. Sch. war dem Angeklagten in körperlicher Hinsicht klar überlegen, sodass der Angeklagte für Sch., wenn es zu einer tätlichen Auseinandersetzung kam, niemals ein ebenbürtiger Gegner war.
An Silvester 2014 begaben sich die beiden Brüder mit der Lebensgefährtin des Angeklagten, der Zeugin S., in eine Gaststätte, um dort den Jahreswechsel zu feiern. Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit seinem Bruder zog sich der Angeklagte gegen 0.30 Uhr verärgert in seine Wohnung zurück. Zuvor machte er zumindest gegenüber seiner Lebensgefährtin klar, dass er seinen Bruder in dieser Nacht nicht mehr sehen wolle.
Gegen 1.30 Uhr begleitete Sch. gleichwohl die Zeugin S. in die Wohnung des Angeklagten. Auf das Erscheinen der beiden reagierte der Angeklagte sichtlich verärgert. Daraufhin begann Sch. völlig unvermittelt eine körperliche Auseinandersetzung, in deren Verlauf er dem Angeklagten mindestens 20 massive Faustschläge gegen den Kopf versetzte. Nachdem die Zeugin S. zunächst vergeblich versucht hatte, die beiden Brüder zu trennen, ließ Sch. schließlich vom Angeklagten ab und stand auf.
Um seinen Bruder aus dem Haus zu weisen, griff der Angeklagte nach einem im Wohnzimmerregal direkt neben ihm aufbewahrten zweiteiligen Ziermesser. Er zog dieses Ziermesser auseinander, wodurch er nun in der einen Hand ein Messer mit einer Klingenlänge von 18 cm und in der anderen Hand ein solches mit einer Klingenlänge von 13,5 cm hielt. Mit den Messern in den erhobenen Händen forderte der Angeklagte seinen Bruder mit äußerstem Nachdruck zum Verlassen der Wohnung auf. Sch., der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, ging den Flur entlang in Richtung der Treppe, die ins Erdgeschoss und zum Ausgang führt. Der Angeklagte folgte seinem Bruder mit einem gewissen Abstand, wobei er weiterhin die Messer in den Händen hielt, da er sichergehen wollte, dass sein Bruder auch tatsächlich das Haus verlässt.
Am oberen Treppenabsatz, an dem eine Tür in einen Abstellraum führt, drehte sich Sch. noch einmal um. Als er seinen „kleinen Bruder“ mit den Messern hinter sich erblickte, geriet er erneut in Zorn und ging den Angeklagten sogleich verbal massiv an. Dem Angeklagten war klar, dass Sch. nun nicht mehr bereit war, das Haus umgehend zu verlassen. Er sah sich einem erneuten Angriff seines Bruders gegenüber, da Sch. ihm eindeutig zu verstehen gab, dass er sich auf keinen Fall gefallen lasse, vom Angeklagten mit Messern aus dem Haus geworfen zu werden. In Erinnerung an die massiven Schläge im Wohnzimmer stach der Angeklagte nunmehr aus Angst um sein Leben und in der Absicht, sich zu verteidigen, dreimal von vorne auf den Oberkörper seines Bruders ein. Zwei Stiche, die zeitlich unmittelbar hintereinander in den Bereich der linken Achsel erfolgten, drangen in die Brusthöhle ein und verletzten jeweils den linken Lungenoberlappen. Ein weiterer Stich traf Sch. in die rechte Hüfte. Sch. bewegte sich nach den ersten drei Stichen in einer ersten Reaktion auf den Angeklagten zu, welcher seinem Bruder weiterhin in Todesangst und wiederum von vorne einen vierten Stich in den Rücken nahe der linken Flanke versetzte, indem er um den Oberkörper des Bruders herumgriff. Der vierte Stich durchdrang den linken Lungenunterlappen, eröffnete den Herzbeutel und penetrierte sodann die linksseitige Herzhinterwand. Sch. verstarb an den zugefügten Stichverletzungen im Abstellraum der Wohnung. Die auf Betreiben des Angeklagten und der Zeugin S. herbeigerufenen Rettungskräfte konnten nur noch seinen Tod feststellen.
Im Tatzeitpunkt betrug die Blutalkoholkonzentration beim Angeklagten 1,86 Promille, bei seinem Bruder Sch. 1,18 Promille.
b) Ob der Angeklagte nach den Stichen auf seinen Bruder seiner Lebensgefährtin überhaupt Schläge zufügte, konnte das Landgericht nicht feststellen.
3. Das Landgericht hat den Angeklagten hinsichtlich des ihm zur Last liegenden Tötungsdelikts aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen, hinsichtlich des Vorwurfs der Körperverletzung gegenüber der Zeugin S. aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
a) Bezüglich des Tatvorwurfs der vorsätzlichen Tötung seines Bruders hat es die Feststellungen weitgehend unter „Anwendung des Zweifelssatzes“ getroffen.
aa) Der Angeklagte ließ sich in der Hauptverhandlung ein, er habe seinen Bruder im Wohnzimmer nach dem Auseinanderziehen des Ziermessers zum Verlassen der Wohnung aufgefordert. Daraufhin habe ihn sein Bruder erneut angegriffen, weshalb er mit beiden Messern zugestochen habe. Sein Bruder habe ihn trotz der Stiche nicht losgelassen, weshalb er erneut auf ihn eingestochen habe. Alle vier Stiche seien seiner Erinnerung nach im Wohnzimmer erfolgt. Er habe auf seinen Bruder eingestochen, weil er befürchtet habe, dieser würde ihn sonst totschlagen.
bb) Bezüglich des Ortes der Messerstiche und der Art und Weise der Stichführung hält das Landgericht die Einlassung des Angeklagten für widerlegt. Es hat sich insbesondere im Hinblick auf die festgestellten Blutspuren davon überzeugt, dass die Messerstiche nicht im Wohnzimmer, sondern im Bereich der Tür zur Abstellkammer zugefügt wurden. Es konnte jedoch nicht feststellen, dass der Angeklagte das Gericht zum eigentlichen Tatgeschehen bewusst angelogen hat. Im Hinblick auf eine beim Angeklagten festgestellte Mischintoxikation mit Alkohol und Drogen konnte das Landgericht nicht ausschließen, dass der Angeklagte unter einer anterograden Amnesie litt.
cc) Die Aussage der einzigen Zeugin von Teilen des Tatgeschehens, der Zeugin S., hält das Landgericht nicht für glaubhaft. Es hat deren Angaben daher nur insoweit herangezogen, als sie durch andere Beweise bestätigt wurden.
dd) Angesichts der außergewöhnlichen Charakterstruktur des Tatopfers konnte das Landgericht im Ergebnis nicht ausschließen, dass der Angeklagte die Messerstiche aus einer Notwehrsituation heraus gesetzt hat. Ausgehend von der bestehenden Beweislage sah es sich gezwungen, „das eigentliche Tatgeschehen zu rekonstruieren und die dabei verbleibenden Sachverhaltslücken gemäß dem Zweifelssatz zugunsten des Angeklagten zu schließen“. Es hat dabei bei ungeklärten Sachverhaltsalternativen nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ den Feststellungen jeweils die für den Angeklagten günstigere zugrunde gelegt.
(1) Auf diese Weise hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte nicht seinem Bruder nachging, um sich für die vorangehenden Prügel zu rächen, sondern um „sein Hausrecht auszuüben und den Abgang seines Bruders sicherzustellen“ (UA S. 20).
(2) Nach dem Zweifelssatz ist es zudem zur Reihenfolge der Messerstiche davon ausgegangen, dass der erste Messerstich nicht während der Verfolgung von hinten erfolgte, sondern Sch. sich erst umdrehte und dann die Messerstiche erhielt.
(3) Weiterhin ist das Landgericht zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass ein erneuter Angriff Sch. s auf den Angeklagten unmittelbar bevor stand. Es sei „ausgehend von der charakterlichen Disposition und dem Verhältnis der beiden Menschen sogar naheliegend, dass es sich Sch. gerade von seinem jüngeren Bruder nicht bieten lassen wollte, dass dieser ihn mit Messern in der Hand aus dem Haus jagte“ (UA S. 22).
(4) Schließlich ergab sich für das Landgericht aus einer letzten Anwendung des Zweifelssatzes, dass der unter anderem den Herzbeutel verletzende Stich in den Rücken ebenfalls von vorne erfolgt ist. Es ging zugunsten des Angeklagten davon aus, dass er seinen Bruder nicht von hinten in den Rücken gestochen habe, sondern dass er von vorn um dessen Oberkörper herumgegriffen und ihm dann in den Rücken gestochen habe. Da die Geschehensvariante, dass der Angeklagte diesen Stich erst nach beendetem Angriff seines Bruders gesetzt habe, wegen eines extensiven Notwehrexzesses sowohl die Berufung auf § 32 StGB als auch auf § 33 StGB ausschließe, sei in dubio pro reo nicht von dieser Variante auszugehen.
ee) Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hält das Landgericht die Messerstiche des Angeklagten für durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt. Der Angeklagte habe sich bei den Stichen einem unmittelbar bevorstehenden Angriff seines Bruders auf seine körperliche Integrität, wenn nicht sogar auf sein Leben, gegenüber gesehen. Dieser sei auch rechtswidrig gewesen, weil das Nachgehen und Drohen mit den Messern seitens des Angeklagten keinen rechtswidrigen Angriff auf seinen Bruder darstelle, sondern vielmehr seinerseits durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sei. Denn es habe ein rechtswidriger Angriff Sch. s auf das Hausrecht des Angeklagten vorgelegen.
b) Im Hinblick auf die nicht glaubhaften Angaben der Zeugin S. konnte sich das Landgericht auch nicht von einer zu ihrem Nachteil begangenen Körperverletzung überzeugen.
Der Freispruch vom Vorwurf des Totschlags hat keinen Bestand.
1. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178). Dem Tatgericht obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 11. November 2015 - 1 StR 235/15, wistra 2016, 78, vom 1. Juli 2008 - 1 StR 654/07 und vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08, wistra 2008, 398; jeweils mwN).
Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 368/09, NStZ 2010, 292). Das Tatgericht ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN). Dabei muss sich aus den Urteilsgründen auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08, wistra 2008, 398 mwN). Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtheit dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln können (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2015 - 1 StR 235/15 Rn. 43, wistra 2016, 78, vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238 und vom 6. August 2003 - 2 StR 180/03, NStZ-RR 2003, 369, 370 mwN).
b) Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung hinsichtlich des Tatvorwurfs des Totschlags nicht.
aa) Das Landgericht hat den Anwendungsbereich des Zweifelssatzes verkannt. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anzuwenden (vgl. BGH, Urteil vom 5. November 2014 - 1 StR 327/14 Rn. 44, NStZ-RR 2015, 83 mwN).
Das Landgericht hat bereits einen rechtsfehlerhaften Ansatz gewählt, indem es der Auffassung war, es könne „Sachverhaltslücken“ jeweils unabhängig vom restlichen Sachverhalt gemäß dem Zweifelssatz zugunsten des Angeklagten schließen. Denn hierdurch hat es die Betrachtung auf diejenigen Beweisanzeichen verengt, denen es eine unmittelbare Aussagekraft für das jeweilige Sachverhaltselement beigemessen hat. Das Landgericht hätte statt einer isolierten Beweiswürdigung für einzelne Sachverhaltselemente eine Gesamtbewertung aller be- und entlastenden Beweisanzeichen mit dem ihnen jeweils zukommenden Beweiswert vornehmen müssen.
Die gebotene Gesamtbetrachtung aller festgestellten Umstände hätte dem Tatgericht möglicherweise eine sichere Überzeugung von einem nicht in Verteidigungsabsicht vorgenommenen Messerangriff des Angeklagten vermitteln können. Denn erst die Würdigung des gesamten Beweisstoffs entscheidet letztlich darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt.
bb) Indem das Landgericht unter mehrfacher isolierter Anwendung des Zweifelssatzes den für den Angeklagten günstigsten Geschehensablauf annimmt, der nicht einmal mit der Einlassung des Angeklagten in Einklang zu bringen ist, hat das Landgericht zudem verkannt, dass es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten ist, zugunsten des Angeklagten Geschehensabläufe zu unterstellen, für deren Vorliegen außer nicht widerlegbaren und durch nichts gestützten Angaben des Angeklagten keine Anhaltspunkte bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 5. November 2014 - 1 StR 327/14 Rn. 37, NStZ-RR 2015, 83 mwN).
cc) Die Feststellung des Landgerichts, es „könne unter besonderer Berücksichtigung der ganz außergewöhnlichen Charakterstruktur des Tatopfers nicht ausschließen, dass der Angeklagte, wie von ihm geschildert, die Messerstiche aus einer Notwehrsituation heraus“ gesetzt habe (UA S. 18), lässt zudem besorgen, das Landgericht habe nicht beachtet, dass für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt eine absolute, das Gegenteil ausschließende Gewissheit nicht erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 368/09, NStZ 2010, 292).
2. Der Freispruch vom Vorwurf des Totschlags hat ferner deshalb keinen Bestand, weil die Annahme des Landgerichts, die Messerstiche des Angeklagten seien durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen, auch ausgehend von den getroffenen Feststellungen rechtlicher Nachprüfung nicht standhält.
a) Nicht rechtswidrig handelt nur derjenige, der eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist (§ 32 Abs. 1 StGB). Dabei erfordert das Merkmal der Gebotenheit im Einzelfall sozialethisch begründete Einschränkungen an sich erforderlicher Verteidigungshandlungen (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97). Die Verteidigung ist dann nicht geboten, wenn von dem Angegriffenen aus Rechtsgründen die Hinnahme der Rechtsgutsverletzung oder eine eingeschränkte und risikoreichere Verteidigung zu verlangen ist (vgl. Fischer, StGB, 63. Aufl., § 32 Rn. 36).
b) Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen ist das Gebotensein des vom Angeklagten gewählten tödlichen Messereinsatzes nicht dargetan. Denn das Landgericht hat zwei Umstände, die zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führen konnten, rechtsfehlerhaft nicht in den Blick genommen.
aa) Zum einen könnte eine Notwehrprovokation vorgelegen haben. Wer durch ein sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten einen Angriff auf sich schuldhaft provoziert hat, auch wenn er ihn nicht in Rechnung gestellt haben sollte oder gar beabsichtigt hat, darf nicht bedenkenlos von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten zur Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit verschließt, ist er zu entsprechend weitreichender Verteidigung befugt (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 2014 - 1 StR 630/13, NStZ 2014, 451, 452). Gegen einen unbewaffneten Gegner kommt der Gebrauch einer lebensgefährlichen Waffe nur in Ausnahmefällen in Betracht; er darf nur das letzte Mittel zur Verteidigung sein (BGH aaO; vgl. auch BGH, Urteil vom 30. Mai 1996 - 4 StR 109/96, NStZ-RR 1997, 65 mwN; zur Rechtsprechung zur Notwehrprovokation vgl. auch BGH, Urteile vom 19. Dezember 2013 - 4 StR 347/13, Rn. 28, NStZ 2014, 147 mwN und vom 21. März 1996 - 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100 f.; zur Notwehreinschränkung bei Angriffsprovokation umfassend Fasten, Die Grenzen der Notwehr im Wandel der Zeit, 2011, 151 ff. mwN).
Vorliegend war der Angeklagte seinem Bruder mit Messern in den Händen gefolgt, obwohl die vorherige Auseinandersetzung bereits beendet war und sich der Bruder, der sich bereits wieder beruhigt hatte, auf dem Weg zum Ausgang befand. Hierin konnte - jedenfalls angesichts des Umstandes, dass von Sch. zu diesem Zeitpunkt kein Angriff auf das Hausrecht mehr ausging (UA S. 7) - ein sozialethisch zu beanstandendes Vorverhalten liegen, das zu einer Einschränkung des Notwehrrechts führte. Es hätte deshalb ergänzender Feststellungen und Erörterungen bedurft, ob der Angeklagte mit dem Verfolgen des Bruders mit Messern den Anschein eines bevorstehenden, von ihm ausgehenden Angriffs erweckt hatte und damit sein Notwehrrecht aus sozialethischen Gründen eingeschränkt war, sodass er hätte versuchen müssen, dem Angriff seines Bruders auszuweichen (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999 - B 9 VG 1/98 R, BSGE 84, 54).
Schon bei der Verfolgung des Bruders mit Messern konnte sich der Angeklagte nicht auf Notwehr zur Durchsetzung des Hausrechts berufen. Ein Hausfriedensbruch gemäß § 123 Abs. 1 Alt. 2 StGB liegt erst dann vor, wenn der Täter nach der Aufforderung, sich zu entfernen, den Raum nicht unverzüglich verlässt. Das weitere Verweilen muss dabei von solcher Dauer sein, dass es sich als Ungehorsam gegen die ergangene Aufforderung darstellt. Erst das Überschreiten dieser Grenze führt dazu, dass der Täter ohne Befugnis verweilt und damit ein rechtswidriger Angriff auf das Hausrecht vorliegt (vgl. Lilie in LK-StGB, 12. Aufl., § 123 Rn. 65 f. mwN). Ein solches Verweilen hat das Landgericht indes nicht festgestellt. Vielmehr leistete Sch. nach den Urteilsfeststellungen der Aufforderung des Angeklagten, das Haus zu verlassen, unverzüglich Folge und begab sich zur Treppe, die zum Hausausgang führt.
bb) Ebenfalls zu einer Einschränkung des Notwehrrechts konnte das zwischen dem Angeklagten und seinem Bruder bestehende persönliche Näheverhältnis führen. Bei einer solchen engen familiären und persönlichen Beziehung, wie sie hier zwischen den beiden Brüdern bestand, dürfen lebensgefährliche Verteidigungsmittel nicht ohne Weiteres angewendet werden, wenn der Angreifer unbewaffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 2014 - 1 StR 630/13, NStZ 2014, 451, 452 mwN) und statt einer Trutzwehr auch eine Schutzwehr möglich ist (vgl. Erb in Müko-StGB, 2. Aufl., § 32 Rn. 219; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Februar 1969 - 3 StR 322/68, NJW 1969, 802).
3. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.
Der Freispruch vom Vorwurf der Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen hat demgegenüber Bestand. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei dargelegt, aus welchen Gründen es sich nicht von der Richtigkeit der Angaben der Zeugin S. zu diesem Tatvorwurf überzeugen konnte. Weitere Beweismittel sind ausweislich der Urteilsgründe nicht vorhanden.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 801
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2016, 272
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede