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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 498

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 345/16, Beschluss v. 11.04.2017, HRRS 2017 Nr. 498


BGH 2 StR 345/16 - Beschluss vom 11. April 2017 (LG Kassel)

Unterlassene Hilfeleistung (Straftat als Unglücksfall; Darstellung der Tatbestandsmerkmale im Urteil).

§ 323c StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Auch eine Straftat kann für das Opfer ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB sein, sofern das Risiko erheblicher Verletzung besteht. Die Feststellungen müssen indes auch in diesem Fall aufzeigen, welche Hilfeleistung für die Angeklagte möglich und zumutbar gewesen wäre. Allein der Umstand, dass die Angeklagte Mieterin der Wohnung gewesen ist, in der die Straftaten (hier; Misshandlungen) jeweils stattgefunden haben, besagt für sich genommen noch nichts.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 30. Mai 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit es die Angeklagte W. betrifft und sie verurteilt worden ist,

b) soweit der Angeklagten C. die Strafaussetzung zur Bewährung versagt worden ist,

c) soweit gegen die Angeklagte P. -U.

aa) im Fall II. 8. der Urteilsgründe eine Einzelfreiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt worden ist,

bb) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehenden Revisionen der Angeklagten C. und P. -U. werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte W. unter Freisprechung im Übrigen wegen unterlassener Hilfeleistung in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 10 €, die Angeklagte C. wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat und die Angeklagte P. -U. unter Freisprechung im Übrigen wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Nötigung sowie wegen Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Dagegen richten sich die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten. Das Rechtsmittel der Angeklagten W. hat vollen Erfolg. Die Revisionen der Angeklagten C. und P. -U. haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Revision der Angeklagten W.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts schlugen die Mitangeklagten Wi. und R. am 10. April 2015 in der Wohnung der Angeklagten W. abwechselnd mit Händen und Fäusten auf den Geschädigten P. ein; der Mitangeklagte Wi., der Springerstiefel trug, trat wiederholt den Geschädigten gegen die Schienbeine. Zwischendurch kam es immer wieder zu einer Pause, in der der Geschädigte nicht geschlagen wurde und die Mitangeklagten R. und Wi. Bier tranken. Im weiteren Verlauf schlugen auch die Angeklagte C. und eine weitere in der Wohnung anwesende Person auf den Geschädigten ein.

„Die Angeklagte W. hatte die Misshandlungen des Zeugen P. mitbekommen; sie war während der Misshandlungen […] anwesend. Sie schritt aber hiergegen weder ein, noch forderte sie die Angeklagten Wi. und R. auf, die Misshandlung des Zeugen P. zu beenden, obwohl sie als Mieterin hierzu in der Lage war und dies ihr insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr möglich war und zumutbar war und ein entsprechendes Einschreiten auch erforderlich war […]“ (UA S. 64).

Am 13. April 2015 fingen die Mitangeklagten Wi., T. und P. - U. - einem zuvor gefassten Tatplan entsprechend - den Geschädigten M. auf der Treppe eines Mehrfamilienhauses ab, zogen ihn in die Wohnung der Angeklagten W. und schlugen in der weiteren Folge mit Händen und Fäusten mehrfach auf ihn ein.

„Die Angeklagte W. war, als der Zeuge M. in dem Wohnzimmer ihrer Wohnung geschlagen wurde, […] anwesend und hat die Misshandlungen des Zeugen M. von ihrem Platz auf der Couch wahrgenommen. Obwohl es erforderlich, ihr möglich und ihr zumutbar gewesen wäre, dem Zeugen M. zu helfen, unternahm die Angeklagte W. diesbezüglich nichts. […] Der Angeklagten W. war […] auch bewusst, dass sie als Wohnungsinhaberin die Möglichkeit gehabt hätte, die Angeklagten T., Wi. und P. -U. von weiteren Misshandlungen des Zeugen M. abzuhalten und diese zu beenden“ (UA S. 69).

Sämtliche Angeklagte waren zwar aufgrund zuvor genossenen Alkohols enthemmt; eine erhebliche Einschränkung oder Aufhebung der Steuerungsfähigkeit der Angeklagten hat das sachverständig beratene Landgericht jeweils verneint.

b) Der Schuldspruch wegen unterlassener Hilfeleistung in zwei Fällen hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Zutreffend geht das Landgericht zwar davon aus, dass auch eine Straftat für das Opfer ein Unglücksfall im Sinne des § 323c StGB sein kann, sofern das Risiko erheblicher Verletzung besteht (Senat, Urteil vom 12. August 2015 - 2 StR 115/15, NStZ-RR 2015, 375; BGH, Urteil vom 12. Januar 1993 - 1 StR 792/92, BGHR StGB § 323c Unglücksfall 3). Nach den Feststellungen sind der Angeklagten, die jeweils die Übergriffe auf die Geschädigten wahrgenommen hatte, damit auch die Umstände bekannt gewesen, aus denen sich das Vorliegen eines solchen Unglücksfalls ergibt.

Die Feststellungen des Landgerichts lassen indes die Prüfung nicht zu, welche Hilfeleistung für die Angeklagte möglich und zumutbar gewesen wäre. Die Urteilsgründe belegen insbesondere nicht, dass und wie die Angeklagte in beiden Fällen die Mitangeklagten erfolgreich dazu hätte bewegen können, die Misshandlungen zu unterlassen bzw. zu beenden. Angesichts dessen, dass die - zudem ebenfalls - alkoholisierte Angeklagte in beiden Fällen einer Mehrzahl von - zudem überwiegend einschlägig vorbestraften - Mitangeklagten gegenüberstand und insbesondere der in seiner Wesensart dominante Mitangeklagte T. „Widerworte“ nicht duldete, versteht sich die Annahme zumutbaren Eingreifens nicht von selbst. Allein der Umstand, dass die Angeklagte Mieterin der Wohnung gewesen ist, in der die Misshandlungen jeweils stattgefunden haben, besagt für sich genommen noch nichts (vgl. auch BGH, Urteil vom 24. Februar 1982 - 3 StR 34/82, BGHSt 30, 391, 396 f.).

2. Revision der Angeklagten C.

Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil dieser Angeklagten ergeben. Dagegen kann die Versagung der Aussetzung der Vollstreckung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat zur Bewährung keinen Bestand haben. Die Strafkammer hat bei ihrer Sozialprognose entscheidend zu Lasten der Angeklagten gewertet, sie sei „Bewährungsversagerin“ (UA S. 153). Wenn damit - wie üblich - gemeint sein sollte, sie habe die Tat während einer laufenden Bewährungsfrist begangen, so wird dies von den getroffenen Feststellungen nicht getragen (UA S. 11, 12). Dass die Aussetzung der Vollstreckung einer Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 15. November 2000 widerrufen worden ist und insoweit ein Bewährungsversagen gegeben ist, rechtfertigt ohne nähere Darlegung, zu welchem Zeitpunkt die Bewährung widerrufen worden ist und worauf dies gestützt worden war, nicht die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. auch BGH, Urteil vom 16. Januar 1992 - 4 StR 509/91, insoweit in NStZ 1992, 233 nicht abgedruckt).

Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer wird eine die konkreten Gegebenheiten des Falles berücksichtigende Gesamtwürdigung (§ 56 Abs. 1 Satz 2 StGB) vorzunehmen haben.

3. Revision der Angeklagten P. -U.

Die Überprüfung des Schuldspruchs und der Strafaussprüche in den Fällen II. 7. und II. 9. der Urteilsgründe hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil dieser Angeklagten ergeben.

Das Rechtsmittel führt zur Urteilsaufhebung hinsichtlich der im Fall II. 8. der Urteilsgründe angeführten Einzelstrafe von sechs Monaten, weil ein entsprechender Schuldspruch weder verkündet wurde noch im Tenor der Urteilsurkunde enthalten ist. Somit fehlt eine Grundlage für die verhängte Einzelstrafe (vgl. auch Senat, Beschluss vom 25. Oktober 2014 - 2 StR 215/14).

Ein offensichtliches Verkündungs- bzw. Fassungsversehen, wonach eine - vom Generalbundesanwalt beantragte - ausnahmsweise Ergänzung der Urteilsformel zulässig wäre, liegt hier nicht vor. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind „offensichtlich“ nur solche Fehler, die sich ohne weiteres aus der Urkunde selbst oder aus solchen Tatsachen ergeben, die für alle Verfahrensbeteiligten klar zu Tage treten und auch nur den entfernten Verdacht einer späteren sachlichen Änderung ausschließen. Es muss - auch ohne Berichtigung - eindeutig erkennbar sein, was das Gericht tatsächlich gewollt und entschieden hat. Bei dieser Prüfung ist ein strenger Maßstab anzulegen, um zu verhindern, dass mit einer Berichtigung eine unzulässige Abänderung des Urteils einhergeht (vgl. Senat, Urteil vom 14. Januar 2015 - 2 StR 290/14, BGHR StPO § 267 Urteilsberichtigung 1 mwN).

Zwar wird ein - der Angeklagten insoweit auch mit Anklage zur Last gelegtes - Geschehen einer (vorsätzlichen) Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen Z. am 14. April 2015 in den Urteilsgründen unter II. 8. im Rahmen des festgestellten Sachverhaltes (UA S. 69 f.), bei der Beweiswürdigung (UA S. 141 f.) und bei den Erwägungen zur Strafzumessung (UA S. 158) wiedergegeben, doch weder in der verkündeten Urteilsformel, die auch dem schriftlichen Urteilstenor entspricht, noch bei der rechtlichen Würdigung erwähnt oder in der Liste der angewendeten Vorschriften berücksichtigt. Angesichts dieser Unzulänglichkeiten und Auslassungen im Urteil ist nicht mehr eindeutig erkennbar, was das Gericht insoweit tatsächlich gewollt und entschieden hat, der Urteilstenor mithin nicht mehr „offensichtlich“ unrichtig.

Da der nicht abgeurteilte Fall II. 8. der Urteilsgründe beim Revisionsgericht nicht anhängig geworden ist, unterliegt er noch der Kognition des Landgerichts (vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. Juni 1993 - 3 StR 304/93, BGHR StPO § 260 Urteilsspruch 1; Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 260 Rdn. 27, 36; Ott in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl., § 260 Rdn. 18; Meyer-Goßner in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 260 Rdn. 10), das insoweit neue Feststellungen zu treffen haben wird.

Mit der Aufhebung der im Fall II. 8. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafe entfällt auch die Gesamtstrafe, die aus den verbleibenden für die Fälle II. 7. und II. 9. der Urteilsgründe rechtsfehlerfrei erkannten Einzelstrafen von einem Jahr und drei Monaten sowie von vier Monaten nicht gebildet werden kann (vgl. § 54 Abs. 2 StGB).

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 498

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 212

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede