HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 64
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 275/16, Urteil v. 26.10.2016, HRRS 2017 Nr. 64
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 25. Januar 2016 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Die Anklage hat dem Angeklagten vorgeworfen, zum Nachteil des Geschädigten O. einen versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben. Das Schwurgericht hat die Anklage mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen, dass hinreichender Tatverdacht wegen gefährlicher Körperverletzung bestünde, nicht hingegen wegen eines versuchten Totschlags, weil der Angeklagte davon strafbefreiend zurückgetreten sei. Es hat das Strafverfahren insoweit vor einer allgemeinen Strafkammer des Landgerichts eröffnet.
2. Die Strafkammer hat folgende Feststellungen getroffen:
Seit längerer Zeit störte sich O. daran, dass in unmittelbarer Nähe zur Wohnung seiner Eltern gedealt wurde und Drogenabhängige im selben Haus Betäubungsmittel konsumierten. Nachdem er in der Nacht vom 1. auf den 2. April 2015 Alkohol in nicht feststellbaren Mengen konsumiert hatte, beabsichtigte er, die Wohnung seiner Eltern aufzusuchen und dort zu schlafen. Auf dem Weg kam ihm spontan die Idee, die Anwesenden in der „Dealer-Wohnung“ des Hochhauskomplexes aufzufordern, das Haus zu verlassen, um den Drogenhandel dort zu unterbinden.
O., 1,82 m groß und 120 kg schwer, klopfte mehrfach „heftig“ gegen die Wohnungstür der „Dealer-Wohnung“. Der Angeklagte, der als sogenannter „Läufer“ für einen Drogenhändler Betäubungsmittel verkaufte und selbst „verstärkt“ Kokain konsumierte, lag noch auf einer Matratze und wollte seine Ruhe haben; er rief, es sei geschlossen und forderte die ebenfalls im Raum anwesenden Zeuginnen A., T. und E. auf, die Tür nicht zu öffnen. In Erwartung ihrer Mitfahrgelegenheit begab sich die Zeugin E. dennoch zur Tür und öffnete diese. In diesem Moment stieß O. die Tür „energisch“ auf und betrat das Zimmer „in aufrechter und aggressiver“ Körperhaltung. Er schrie die Anwesenden unvermittelt an und forderte den Angeklagten „lautstark“ auf, aus Köln zu verschwinden. Zwischen dem Angeklagten, der noch unter Kokaineinfluss stand, und O., der eine Blutalkoholkonzentration von etwa zwei Promille aufwies, entwickelte sich ein „hitziges“ Wortgefecht. Auf die an O. gerichtete Frage des Angeklagten, wer er sei und was er hier wolle, entgegnete O., der den Angeklagten bis dahin nicht kannte, dass dieser weggehen und in der Wohnung keine Drogen mehr verkaufen solle, was der Angeklagte ablehnte. Als der Angeklagte auf die Aufforderungen O. nicht weiter reagierte, näherte sich dieser der Matratze, auf welcher der Angeklagte nach wie vor nackt lag, und trat mehrfach „in provozierender, aber nicht heftiger Weise“ gegen den Angeklagten, um diesen zum Aufstehen zu bewegen.
In der weiteren Folge kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden, bei welcher der Angeklagte, 1,70 m groß und 82 kg schwer, ein Messer gegen O. einsetzte. Den genauen Hergang der Auseinandersetzung hat das Landgericht nicht mit Sicherheit feststellen können. Insbesondere konnte die Strafkammer nicht feststellen, in welcher Situation der Messereinsatz erfolgte und wie sich die „Kampflage“ aus Sicht des Angeklagten zu diesem Zeitpunkt darstellte. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass der Messereinsatz noch in einer Situation erfolgte, in welcher dieser zur Verteidigung gegen einen Angriff O. nicht mehr erforderlich gewesen wäre. Es sei „insbesondere nicht auszuschließen, dass der Angeklagte das Messer einsetzte, als er von O. seinerseits fortwährend durch Schläge attackiert wurde und deswegen Angst hatte, von dem körperlich überlegenen O. ernsthaft an der Gesundheit geschädigt zu werden.“ Zugunsten des Angeklagten ist das Landgericht „letztlich“ davon ausgegangen, dass O. die Wohnung zunächst unversehrt und ohne einen bis dahin erfolgten Messereinsatz verlassen und sich auf den Flur begeben habe, wobei „ebenfalls nicht sicher festgestellt werden konnte, ob der Angeklagte den Geschädigten hierzu an der Brust packte und ihn aus der Wohnung warf oder ob O. die Wohnung aus freien Stücken verließ, weil sich der Angeklagte und der Zeuge einig waren, die Angelegenheit vor der Tür und nicht vor den im Zimmer anwesenden Frauen zu klären.“ Das Landgericht ist ebenfalls „zugunsten des Angeklagten“ davon ausgegangen, dass O. dem Angeklagten, als dieser seinerseits die Wohnung verließ, auf dem Flur und für den Angeklagten unvermittelt einen Faustschlag auf den Kopf versetzt habe, so dass dieser das Gleichgewicht verloren habe und zu Boden gegangen sei, während der körperlich überlegene O. weiter in seine Richtung geschlagen habe. Zu Gunsten des Angeklagten ist die Strafkammer zudem davon ausgegangen, dass für ihn keine Möglichkeit zur Flucht bestanden habe, weil er sich noch auf dem Boden befunden habe, während die Zeuginnen E. und A. hinter ihm und O. unmittelbar vor ihm gestanden hätten; in dieser Situation habe er ein Messer durch eine der Zeuginnen übergeben bekommen und mit diesem in Richtung des O. „gewedelt“, um ihn auf diese Weise von weiteren Attacken abzuhalten, ohne ihn dabei stechen zu wollen.
Ferner ist das Landgericht davon ausgegangen, dass O. weiter in Richtung des Angeklagten geboxt habe und der Angeklagte daraufhin, weil er keine andere Möglichkeit mehr sah, den fortwährenden Angriff O. zu unterbinden, einen wenig tiefen Stich mit moderatem Kraftaufwand auf die rechte Seite oberhalb der Hüfte des O. gesetzt habe, ohne ihm dabei bleibende Schäden oder lebensgefährliche Verletzungen zufügen zu wollen. Da sich O. auch hiervon unbeeindruckt gezeigt habe, habe der Angeklagte diesem einen weiteren Stich mit der gleichen Absicht zugefügt, was O. indes nicht davon abgehalten habe, weiter nachzusetzen. Schließlich sei nicht auszuschließen, dass weitere Stiche im Zuge einer fortwährenden dynamischen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und O. erfolgt seien, bis O. mit dem Rücken zu Boden und der Angeklagte auf ihn gefallen sei. Zugunsten des Angeklagten sei davon auszugehen, dass er bei sämtlichen Stichen in der Absicht gehandelt habe, sich gegen O. zu verteidigen. Da der Messereinsatz nach alledem gerechtfertigt sei, hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg. Der Freispruch ist tragfähig begründet. Gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag.
Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, NStZ-RR 2015, 148 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 1. Juni 2016 - 1 StR 597/15, Rn. 27, zit. nach juris, mwN [insoweit in NStZ-RR 2016, 272 nicht abgedruckt]). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung schließlich dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind. Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (vgl. etwa Senat, Urteil vom 22. September 2016 - 2 StR 27/16, Rn. 26, zit. nach juris mwN).
2. Diesen Anforderungen wird das Urteil gerecht.
a) Die Beweiswürdigung ist nicht lückenhaft. Den Urteilsgründen ist hinreichend zu entnehmen, dass das Landgericht die Konstellation einer einverständlichen Prügelei, die ein Notwehrrecht ausschließen kann (vgl. BGH, Urteil vom 8. Mai 1990 - 5 StR 106/90, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 6 mwN; Senat, Beschluss vom 15. September 2006 - 2 StR 280/06, NStZ-RR 2006, 376), bedacht hat. Die Strafkammer hat dazu ausgeführt, dass gerade „der Umstand, dass sich der Angeklagte nach seiner eigenen Einlassung auf den Flur begab, um nach den Tritten des Zeugen O. dort die Angelegenheit mit ihm zu ‚klären‘, was eine körperliche Auseinandersetzung für ihn nach den Gesamtumständen jedenfalls voraussehbar machte, nicht dazu (führt), dass der Angeklagte den anschließenden Angriff des Zeugen O. hätte hinnehmen oder mit anderen Mitteln abwehren müssen“ (UA S. 60).
b) Die Beweiswürdigung ist auch nicht widersprüchlich. Insbesondere ist die Auffassung der Strafkammer, für die Richtigkeit der Angaben des Angeklagten sprächen „gewichtige Argumente“, tragfähig begründet. Die Verletzung an der Schulter des Angeklagten lasse sich mit seiner Einlassung, wonach er aufgrund des (ersten) Schlages durch O. sein Gleichgewicht verloren und mit der Schulter „an etwas entlang geschrabbt“ sei, nach Auffassung des insoweit sachverständig beratenen Landgerichts plausibel erklären. An dieser tatrichterlichen Beurteilung ändert der Umstand nichts, dass auch andere naheliegende Entstehungsmöglichkeiten für eine solche Verletzung in Betracht gezogen werden können.
c) Schließlich lassen die Urteilsgründe auch nicht die gebotene Auseinandersetzung mit der Einlassung des den Tatvorwurf bestreitenden Angeklagten vermissen. Das Landgericht hat eine eingehende Prüfung der den Angeklagten belastenden und entlastenden Indizien vorgenommen und diese ausdrücklich in ihrer Gesamtheit gewürdigt. Dass es sich im Ergebnis der schwierigen Beweislage nicht von der Zuverlässigkeit der Angaben des Geschädigten zu überzeugen und Zweifel nicht zu überwinden vermocht hat, ist deshalb aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 64
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede