HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1101
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 22/20, Beschluss v. 03.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1101
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Grundsätzen zuständigen Gericht übertragen.
Der Beschuldigte wurde am 14. Februar 2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15. Februar 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 105/20).
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich spätestens seit Ende September 2019 in M. und anderen Orten in der Bundesrepublik Deutschland an einer Vereinigung, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, als Mitglied beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft und deren Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.
a) Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Der Beschuldigte gehört seit vielen Jahren der rechtsextremistischen Szene an und verfügt über eine ebensolche Gesinnung. Spätestens kurz vor dem 28. September 2019 kam er mit den Mitbeschuldigten S., N., B. und U. überein, sich auf unbestimmte Zeit zu der „Gruppe“ zusammenzuschließen. Diese Personenvereinigung war darauf ausgerichtet, ihre rechtsextremistische Ideologie gewaltsam durch koordinierte Anschläge auf Politiker, Asylsuchende und Personen muslimischen Glaubens durchzusetzen. Unter anderem planten die Mitglieder der Gruppe, als Einzeltäter oder in kleinen Einheiten Moscheen anzugreifen und eine möglichst große Zahl dort Anwesender zu töten oder zu verletzen. Die Anschläge sollten die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sowie ihre demokratisch gewählten Vertreter in erheblicher Weise einschüchtern und bürgerkriegsartige Zustände im Land auslösen. Letztlich wollte die „Gruppe“ durch die Gewalttaten die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland erschüttern und überwinden.
Die Organisation verfügte über eine hierarchische Struktur und abgegrenzte Zuständigkeiten. Der Mitbeschuldigte S. war der „Kopf“ der Gruppe, der diese ins Leben rief, als treibende Kraft fungierte, die Treffen initiierte, die inhaltlichen Vorgaben machte, die Aufgaben zuwies und in allen wesentlichen Belangen - etwa in der Frage, wer zu Treffen eingeladen wurde - das letzte Wort hatte. Der Beschuldigte war die rechte Hand des Mitbeschuldigten S. und begriff sich neben ihm in der Gruppe als führend. Er war früh in S. s Pläne einbezogen, tauschte sich fortlaufend intensiv mit ihm über die gemeinsame terroristische Zielsetzung aus und übernahm verschiedene Aufgaben. Unter anderem war er mit der praktischen Organisation der Zusammenkünfte befasst, lud selbständig Teilnehmer hierzu ein, trat neben S. als Wortführer auf und führte Einzelgespräche, um Anwesende im Hinblick auf ihre Kampfbereitschaft zu überprüfen. Der Beschuldigte war willens, zur Umsetzung der Gruppenziele erforderlichenfalls sein Leben zu opfern.
Letzteres gilt auch für den Mitbeschuldigten N., der sein Haus für ein Treffen der Vereinigung zur Verfügung stellte und dem Mitbeschuldigten S. Treue bis in den Tod versprochen hatte. Der Mitbeschuldigte B. konnte aufgrund seiner beruflichen Qualifikation Waffen bearbeiten und verändern; er wurde von S. als jemand geschätzt, der „zu allem bereit“ ist. Der Mitbeschuldigte U., der wegen zahlreicher Gewalttaten bereits über 20 Jahre Haft verbüßt hatte, bekleidete die Rolle eines „getreuen Fußsoldaten“.
Der Mitbeschuldigte S. suchte gemeinsam mit dem Beschuldigten über diesen Kreis hinaus fortlaufend nach weiteren geeigneten Kämpfern für die geplanten Anschläge. Die Vernetzung S. s in der Szene ermöglichte es ihm, eine vierstellige Zahl gewaltbereiter Neonazis anzusprechen und - nach seiner Vorstellung - für Anschläge zu mobilisieren. Zu diesem Zweck pflegte er persönliche Kontakte zu ihm ideologisch nahestehenden Mitgliedern anderer Organisationen, betätigte sich in rechtsextremistisch ausgerichteten Messenger-Chatgruppen und führte - unterstützt durch den Beschuldigten - Einzelgespräche mit Anwärtern, um ihre Gewaltbereitschaft zu überprüfen. Auf diese Weise fanden die Mitbeschuldigten Ba., H., W., K. und Wi. zur „Gruppe ", während der Beschuldigte gemeinsam mit N. den Mitbeschuldigten Kr. anwarb und N. allein den Mitbeschuldigten Wo. zur Organisation brachte. Sogenannte „Schwätzerpatrioten“, worunter S. jeden fasste, der nicht bereit war, zur Waffe zu greifen, sortierte dieser aus.
Das erste Treffen der Vereinigung fand - organisiert vom Beschuldigten - am 28./29. September 2019 bei A. (" ") statt. Der Beschuldigte wohnte der Versammlung bei, als S. seine terroristischen Ziele erläuterte. In einer Vorstellungsrunde äußerte sich der Beschuldigte wie die anderen Teilnehmer zu seiner Bereitschaft, mit Waffengewalt „aktiv“ zu werden.
Kurz darauf kam die Gruppe am 3. Oktober 2019 in Be. anlässlich einer rechtsgerichteten Demonstration zum Tag der Deutschen Einheit zusammen. Im Anschluss versammelte sie sich zur weiteren Förderung der gemeinsamen Ziele bei einer Tankstelle nördlich von Be. Hier sprach der Mitbeschuldigte S. mit den Mitbeschuldigten Ba. und K. über die Beschaffung von sogenannten Slam-Guns für die Vereinigung. Ba. und K. bestellten in den Folgetagen nach weiterer Rücksprache mit S., in die auch der Beschuldigte einbezogen war, bei ihrem Waffenlieferanten, dem gesondert verfolgten Sc., wenigstens sechs dieser selbstgebauten Gewehre. K. erklärte sich überdies dazu bereit, bei dem gesondert verfolgten Br. Munition zu ordern. Im Folgenden hielten die Beschuldigten untereinander und mit den Lieferanten regen Kontakt; dabei stand schließlich auch der Kauf eines Maschinengewehrs „Kalaschnikow“ nebst Munition für S. in Rede („AK mit Zubehör für Ma. ").
Das dritte Treffen ging unter konspirativen Umständen am 7./8. Februar 2020 in M. (Westfalen) im Haus des Mitbeschuldigten N. vonstatten. Hier wurde über die konkrete Umsetzung der terroristischen Ziele, namentlich Anschläge auf Moscheen, gesprochen. Der Beschuldigte erklärte sich insoweit zur „offensiven“ Mitwirkung bereit. S., der - ebenso wie weitere Teilnehmer - bereits über mindestens eine scharfe Schusswaffe, Kaliber 9 mm, verfügte, stellte seine Pläne vor, nach denen die Gruppe für die Durchführung der Anschläge weitere Waffen benötigte. In diesem Zusammenhang brachte der Mitbeschuldigte Ba., der über die Preise seines Lieferanten im Bilde war, eine aufzubringende Summe von 50.000 € ins Spiel. Daraufhin sagten die Anwesenden die individuelle Bereitstellung von namhaften Beträgen, der Beschuldigte von 5.000 €, zu, so dass 50.000 € zusammen kamen. Von diesem Geld sollten die Mitbeschuldigten Ba. und K. über ihre bereits laufende Lieferschiene Langwaffen besorgen. Der Mitbeschuldigte H., der über Kontakte zu einem Waffengeschäft in Tschechien verfügte, erhielt den Auftrag, die benötigten Kurzwaffen zu erwerben. Einige Teilnehmer des Treffens äußerten in diesem Zusammenhang konkrete Wünsche zu einem Waffentyp, den sie jeweils präferierten. Unter der Wortführung des Mitbeschuldigten S. beschlossen die Anwesenden, anschließend zeitnah loszuschlagen. Hierzu kam es nicht mehr, weil kurze Zeit später zwölf von ihnen verhaftet wurden.
b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der Bildung, der Struktur und der Zielsetzung der „Gruppe“ und des Verhaltens aller Beschuldigten stützt sich auf eine Vielzahl von Beweismitteln, unter anderem die geständigen Einlassungen des Mitbeschuldigten U., die Angaben weiterer Mitbeschuldigter, von denen mehrere die Organisation, Planung und Ziele der „Gruppe“ bestätigt haben, die bei Durchsuchungen aufgefundenen Waffen und Geldbeträge sowie die Observationen im zeitlichen Umfeld der Gruppentreffen. Die Gewaltbereitschaft der Beschuldigten gegenüber Migranten sowie politisch Andersdenkenden und ihre Forderung nach einem gesellschaftlichen Umsturz sind aus den gesicherten Chatverläufen ersichtlich. Exemplarisch hierfür ist eine Nachricht S. s vom 19. August 2019 in der gemeinsamen Chatgruppe“ ": „Freue mich auf den Wandel und die vielen jämmerlich verreckten Körper neben dem Bordstein“. Die Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung belegen das enge und vertraute Zusammenwirken des Beschuldigten mit S., sein gegenüber diesem geleistetes Treueversprechen und seine Bereitschaft, für die gemeinsamen Ziele mit dem Leben zu bezahlen.
Wegen der Einzelheiten der den dringenden Tatverdacht begründenden Tatsachen wird auf die ausführliche Darstellung und Würdigung im Haftbefehl vom 15. Februar 2020 und den Antrag des Generalbundesanwalts vom 7. August 2020 Bezug genommen.
c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls - wie im Haftbefehl angenommen - an einer terroristischen Vereinigung als Mitglied beteiligte (§ 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Die „Gruppe“ stellte nach den Ermittlungsergebnissen einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses im Sinne von § 129 Abs. 2 StGB dar, der darüber hinaus über - nach der Neuregelung durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2440) nicht mehr erforderliche - Strukturmerkmale wie etwa Führungspersonal und klare Aufgabenverteilung verfügte. Die Zwecke der Vereinigung waren jedenfalls auf die Verübung von bewaffneten Anschlägen auf Moscheen und damit auf die Begehung von Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) gerichtet.
Als Mitglied beteiligt sich, wer die Vereinigung nicht nur von außen, sondern, getragen von einem einvernehmlichen Willen zu einer fortdauernden Teilnahme am Verbandsleben, von innen fördert, und damit eine Stellung innerhalb der Organisation einnimmt, die ihn als zum Kreis der Mitglieder gehörend kennzeichnet (s. BGH, Beschlüsse vom 28. Juni 2018 - StB 11/18, NStZ-RR 2018, 369, 370 f.; vom 9. Juni 2020 - AK 12/20, juris Rn. 24, jeweils mwN). Diese Merkmale sind beim Beschuldigten mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllt.
Ob ihm darüber hinaus die Gründung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 StGB) und Rädelsführerschaft in dieser (§ 129a Abs. 4 StGB) angelastet werden können, bedarf hier keiner Entscheidung.
2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Es ist wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird.
Der Beschuldigte hat im Fall seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthemmenden Umstände entgegen. Zwar ist der Beschuldigte verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern. Er arbeitet in Deutschland in der häuslichen Krankenpflege und als (wohl) unangemeldeter Montagehelfer in der Schweiz. Trotz dieser Umstände war er jedoch bereit, für die Ziele der „Gruppe“ erforderlichenfalls sogar sein Leben zu opfern. Mithin ist es unwahrscheinlich, dass sie ihn von einer Flucht abhielten. Ein Untertauchen wäre dem Beschuldigten aufgrund seines rechtsextremistischen Netzwerks, das bereits Spenden für ihn eingesammelt hat, ohne Weiteres möglich, zumal er gegenüber S. in einem Telefonat vom 13. Oktober 2019 äußerte, für das „Worst-Case-Szenario“ einen Rucksack in Mecklenburg-Vorpommern deponiert zu haben.
Darüber hinaus liegt der Haftgrund der Schwerkriminalität vor. Der Beschuldigte ist der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung als Mitglied dringend verdächtig. Daher sind aus den im Rahmen der Fluchtgefahr ausgeführten Gründen die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung dieser Vorschrift erfüllt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. September 2016 - AK 47/16, juris Rn. 26; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 f.).
Weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO sind nicht erfolgversprechend.
3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil bislang noch nicht zugelassen. Das Verfahren ist bisher mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden.
Beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg ist eine Sonderkommission mit einer Vielzahl von Polizeibeamten mit den Ermittlungen zur „Gruppe“ befasst, die lageabhängig von weiteren Polizisten anderer Bundesländer und vom Bundeskriminalamt unterstützt wird. Es sind 53 Objekte durchsucht und 1.282 Asservate sichergestellt worden, darunter 97 Mobilfunkgeräte, 43 Computer und 149 Speichermedien. Dies entspricht einem Datenvolumen von 17,79 Terabyte bzw. über 59 Millionen Chatnachrichten, Bildern, Videos und Audiofiles. Deren Auswertung ist zu einem überwiegenden Teil fertiggestellt. Außerdem sind 13 Beschuldigten- und 53 Zeugenvernehmungen, umfangreiche Finanzermittlungen, daktyloskopische und molekulargenetische Untersuchungen sowie waffenrechtliche Bewertungen durchgeführt worden. Die Verfahrensakte umfasst derzeit 228 Stehordner. Der Abschluss der Ermittlungen ist für Herbst 2020 vorgesehen.
4. Schließlich steht die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle der Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1101
Bearbeiter: Christian Becker