HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 666
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 494/19, Beschluss v. 28.04.2020, HRRS 2020 Nr. 666
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 21. Februar 2019 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an das Amtsgericht - Strafrichter - Sömmerda zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Der Angeklagte wendet sich mit seiner Revision gegen seine Verurteilung. Außerdem hat er jeweils sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung und gegen die Versagung von Entschädigungsansprüchen nach dem Strafrechtsentschädigungsgesetz erhoben.
Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensrügen kommt es nicht an. Die sofortigen Beschwerden sind damit ebenfalls gegenstandslos.
1. Nach den Urteilsfeststellungen kam es im Zeitraum Juli/August 2017 (Fall II. 2.1. der Urteilsgründe) und in der zweiten Märzhälfte 2018 (Fall II. 2.2. der Urteilsgründe) zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin im Garten des im Tatzeitpunkt gemeinsam bewohnten Anwesens jeweils zu einer körperlichen Auseinandersetzung. In beiden Fällen stieß der Angeklagte die Nebenklägerin zu Boden und trat mehrfach mit dem beschuhten Fuß auf sie ein. Im Fall II. 2.1. der Urteilsgründe zerrte der Angeklagte die Nebenklägerin sodann an den Haaren hoch und stieß sie gegen ein Holzgitter.
2. Die Verurteilung des zu den Tatvorwürfen schweigenden Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft.
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 4. Dezember 2019 - 2 StR 208/19, BeckRS 2019, 35910; BGH, Beschluss vom 21. Februar 2017 - 3 StR 404/16, StV 2018, 195).
b) So liegt es hier: Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist in mehrfacher Hinsicht lückenhaft. Den Urteilsgründen kann nicht entnommen werden, dass das Tatgericht alle Umstände, die geeignet waren, seine Entscheidung zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen miteinbezogen hat.
aa) Stützt der Tatrichter -wie hier - seine Feststellungen zum Tatkerngeschehen im Wesentlichen auf die Angaben des (vermeintlichen) Tatopfers, hängt seine Urteilsfindung maßgeblich von der Beantwortung der Frage ab, ob diesem zu glauben ist. Hat die (Haupt)Belastungszeugin zudem weitere Straftaten behauptet, von denen sich das Gericht nicht zu überzeugen vermag, so gewinnt das in diesem Rahmen besondere Bedeutung und bedarf näherer Erörterung (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Februar 2020 - 1 StR 612/19, juris Rn. 7; Senat, aaO; BGH, Beschluss vom 21. Februar 2017 - 3 StR 404/16, StV 2018, 195).
(1) Dem Angeklagten waren mit der zugelassenen Anklage neun weitere Straftaten zum Nachteil der Nebenklägerin vorgeworfen worden, u. a. Vergewaltigung in zwei Fällen und gefährliche Körperverletzungen in vier Fällen. Von diesen Vorwürfen hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die - nicht konstanten - Aussagen der Nebenklägerin hätten im Kerngeschehen erhebliche Widersprüche aufgewiesen; zudem fehlten objektive Beweisumstände, die nach ihren Aussagen zu erwarten gewesen wären. Andere, sicher festgestellte objektive Umstände seien dagegen mit Behauptungen der Nebenklägerin nicht in Einklang zu bringen gewesen. Schließlich sei bei der Nebenklägerin wegen des von ihr angestrebten alleinigen Sorge- und Umgangsrechts hinsichtlich des gemeinsamen Kindes ein erhebliches Belastungsmotiv zu berücksichtigen gewesen.
(2) Das Landgericht hat zwar umfassend erörtert, welche Umstände zum Freispruch aus tatsächlichen Gründen geführt haben. Es hat auch - im Ansatz zutreffend - im Rahmen der Beweiswürdigung in den Verurteilungsfällen II. 2.1. und II. 2.2. der Urteilsgründe ausgeführt, dass eine Gesamtwürdigung des gesamten Aussageverhaltens der Hauptbelastungszeugin erforderlich sei (UA S. 15). Diesem Anspruch wird das Landgericht allerdings nicht gerecht. Eine Gesamtwürdigung der Aussage der Nebenklägerin findet gerade nicht statt (UA S. 46, 53). Das Landgericht hat damit rechtsfehlerhaft die Beweiswürdigung, die dem Teilfreispruch zugrunde liegt, nicht erkennbar in die Beweiswürdigung zu den Verurteilungsfällen einbezogen.
bb) Soweit sich das Landgericht in den Verurteilungsfällen II. 2.1. und II. 2.2. der Urteilsgründe auch auf die Aussagen der Zeuginnen Bu. und Bo. stützt, weist die Beweiswürdigung ebenfalls relevante Lücken auf.
(1) Die Zeugin Bu. Nachbarin der Nebenklägerin, hat zwar im Sinne der Urteilsfeststellungen Angaben zum Vorfall im Juli/August 2017 (Fall II. 2.1. der Urteilsgründe) machen können, die das Landgericht für glaubhaft hält. Allerdings ist der in diesem Rahmen von der Strafkammer vorgenommene Ausschluss fremdsuggestiver Beeinflussung nicht ausreichend nachvollziehbar dargelegt. Das Landgericht teilt mit, dass der Zeugin anlässlich ihrer polizeilichen Befragung am 15. Mai 2018 „zunächst neben mehreren Anzeigen die Körperverletzungsanzeige der Nebenklägerin bezüglich dieses Tatgeschehens vorgehalten (und) […] auch das von der Nebenklägerin anlässlich ihrer Anzeigeerstattung vorgetragene Geschehen berichtet“ (UA S. 50) worden sei. Da aber die nachfolgende Aussage der Zeugin Bu. „weitaus umfangreicher und detaillierter als die Angaben der Nebenklägerin gegenüber der Polizei“ seien, könne eine suggestive Beeinflussung ausgeschlossen werden.
Diese Wertung ist für den Senat schon deswegen nicht nachvollziehbar, weil der Inhalt der der Zeugin Bu. vorgehaltenen Anzeigen und Berichte der Nebenklägerin nicht mit dem Inhalt ihrer nachfolgenden eigenen „umfangreicheren und detaillierten“ polizeilichen Aussage dargestellt und abgeglichen wird.
(2) Hinzu kommt, dass sich die Zeugin Bu. und die weitere Zeugin Bo., die nach den Feststellungen das Tatgeschehen im März 2018 (Fall II. 2.2. der Urteilsgründe) als Nachbarin beobachtet hat, „sich über das jeweils von ihnen beobachtete Geschehen unterhalten hätten“ (UA S. 50). In der Hauptverhandlung bekundete die Zeugin Bo. allerdings Beobachtungen aus dem Sommer 2017, die den Feststellungen im Fall II. 2.1. der Urteilsgründe entsprechen könnten; weitere Gewalttätigkeiten hätte sie, so die Zeugin, nicht beobachtet. Das Landgericht meint zu dieser Diskrepanz, dass es sich hier „offensichtlich aufgrund der fehlenden Gewalteinwirkung im unmittelbaren Kontext mit dem Rasenmäher um einen anderen Vorfall als denjenigen, den die Zeugin Bu. bekundete“, handele. Diese Wertung ist jedoch mit dem dargestellten Inhalt der Aussage der Zeugin Bo. nicht in Einklang zu bringen und für den Senat nicht nachvollziehbar.
cc) Soweit schließlich das Landgericht als weiteres Indiz für die Gewaltneigung des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin auf dessen einschlägige strafrechtliche Vorbelastungen abstellt (UA S. 51), ist dieses nicht belegt. Im Urteil wird nämlich zu den Vorverurteilungen nur das mitgeteilt, was in einem Registerauszug regelmäßig festgehalten ist; Angaben zu dem, was ihnen im Tatsächlichen zugrunde lag, fehlen völlig (vgl. dazu auch Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 29. Aufl., Rn. 268 mwN). Zudem hat der Angeklagte die der letzten Vorverurteilung zugrunde liegende letzte Tat am 16. November 2012 begangen; die Nebenklägerin hat er hingegen erst im Jahr 2013 kennen gelernt.
c) Auf diesen Erörterungsmängeln beruht das angefochtene Urteil. Der Senat vermag angesichts der dargelegten Beweiskonstellation trotz im Übrigen umfänglicher, freilich nicht immer stringenter und zudem teilweise redundanter Würdigung (vgl. zur Darstellung im Allgemeinen: Meyer-Goßner/Appl, aaO, Rn. 347 ff., 352 ff., 372 ff.) der Aussagen (UA S. 10 bis 57, S. 60 bis 78) nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu einem anderen Beweisergebnis gekommen wäre.
3. Mit der Aufhebung des Urteils sind die vom Angeklagten eingelegten (sofortigen) Beschwerden gegen die Kosten- und die Entschädigungsentscheidung gegenstandslos geworden (vgl. BGH, Urteile vom 8. März 2012 - 4 StR 629/11, juris Rn. 26, und vom 4. September 2008 - 1 StR 383/08, juris Rn. 17; Beschluss vom 12. September 2006 - 4 StR 297/06, juris Rn. 7; MüKo-StPO/Grommes, § 464 Rn. 37; MüKo-StPO/Kunz, § 8 StrEG Rn. 71, jeweils mwN).
4. Der Senat verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 3 StPO i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 25 Nr. 2 GVG an das Amtsgericht Sömmerda zurück, weil die Zuständigkeit des Strafrichters begründet ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 666
Externe Fundstellen: NStZ 2020, 693
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner