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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 277

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 208/19, Beschluss v. 04.12.2019, HRRS 2020 Nr. 277


BGH 2 StR 208/19 - Beschluss vom 4. Dezember 2019 (LG Erfurt)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit; Lückenhaftigkeit).

§ 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt.

2. Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, wenn den Urteilsgründen nicht entnommen werden kann, dass das Tatgericht alle Umstände, die geeignet waren, seine Entscheidung zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen miteinbezogen hat. Dies ist insbesondere dann unabdingbar, wenn der Tatrichter seine Feststellungen zum Tatkerngeschehen allein oder im Wesentlichen auf die Angaben des (vermeintlichen) Tatopfers stützt und daher seine Urteilsfindung maßgeblich von der Beantwortung der Frage abhängt, ob diesem zu glauben ist oder nicht. Hat der einzige Belastungszeuge zudem weitere Straftaten behauptet, von denen sich das Gericht nicht zu überzeugen vermag, so gewinnt das in diesem Rahmen besondere Bedeutung und bedarf näherer Erörterung.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 4. Januar 2019 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er verurteilt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung, Nötigung in zwei Fällen, Anstiftung zum Diebstahl in 22 Fällen und wegen Diebstahls unter Auflösung einer Gesamtstrafe und Einbeziehung der darin enthaltenen Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

1. Nach den Urteilsfeststellungen lebten der Angeklagte und seine Lebensgefährtin von Juni 2015 bis Anfang September 2015 in der Wohnung des Zeugen B. Auch danach behielt der Angeklagte weiterhin einen Schlüssel zur Wohnung des Zeugen und war in ständigem Kontakt mit ihm. In der Zeit von August 2015 bis Oktober 2016 kam es zu den abgeurteilten Straftaten, die vor allem darauf zielten, Zugriff auf Konten des Zeugen zu bekommen bzw. zu behalten (Fälle II. 1 und 2 der Urteilsgründe), ihn unter Einsatz von Gewalt zur Zahlung von Geld zu veranlassen (Fälle II. 25 und 26 der Urteilsgründe) und ihn zur Begehung von Diebstählen anzustiften, deren Beute jedenfalls auch dem Angeklagten zugute kam (Fälle II. 3 bis 24 der Urteilsgründe).

2. Die Verurteilung des zu den Tatvorwürfen schweigenden Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft.

a) Die Beweiswürdigung ist allerdings Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist etwa der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 21. Februar 2017 - 3 StR 404/16, StV 2018, 195).

b) So liegt es hier; die Beweiswürdigung des Landgerichts ist lückenhaft. Denn den Urteilsgründen kann nicht entnommen werden, dass das Tatgericht alle Umstände, die geeignet waren, seine Entscheidung zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen miteinbezogen hat. Dies ist insbesondere dann unabdingbar, wenn der Tatrichter - wie vorliegend - seine Feststellungen zum Tatkerngeschehen allein oder im Wesentlichen auf die Angaben des (vermeintlichen) Tatopfers stützt und daher seine Urteilsfindung maßgeblich von der Beantwortung der Frage abhängt, ob diesem zu glauben ist oder nicht. Hat der einzige Belastungszeuge zudem weitere Straftaten behauptet, von denen sich das Gericht nicht zu überzeugen vermag, so gewinnt das in diesem Rahmen besondere Bedeutung und bedarf näherer Erörterung (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2014 - 3 StR 289/13; Beschluss vom 21. Februar 2017 - 3 StR 404/16, StV 2018, 195).

Dem Angeklagten waren mit der zugelassenen Anklage weitere Straftaten einer räuberischen Erpressung des Computerbetruges und einer Nötigung vorgeworfen worden. Von diesen Vorwürfen hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Auf Ausführungen zu den Gründen hierfür hat die Strafkammer gemäß § 267 Abs. 5 StPO verzichtet. Dies begegnet im vorliegenden Fall durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Das Landgericht hätte in der zugrunde liegenden Konstellation erörtern müssen, welche Umstände zum Freispruch aus tatsächlichen Gründen geführt haben. Der von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Anklageschrift lässt sich entnehmen, dass es sich bei den Anklagevorwürfen um Straftaten handelt, deren Opfer ebenfalls der Zeuge B. gewesen sein soll und die auf dessen Angaben beruhen. Dass die Strafkammer insoweit nicht zur Verurteilung gelangt ist, legt es nahe oder lässt es jedenfalls als möglich erscheinen, dass sie belastenden Angaben des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht gefolgt ist oder dieser den Angeklagten belastende Angaben aus dem Ermittlungsverfahren - wie auch in den Fällen II. 25 und 26 der Urteilsgründe - in der Hauptverhandlung nicht wiederholt hat und sich die Strafkammer insoweit gehindert gesehen hat, eine Verurteilung auf Angaben aus dem Ermittlungsverfahren zu stützen. In beiden Konstellationen ist zu besorgen, dass das Landgericht den Angaben des Zeugen B. in den freigesprochenen Fällen letztlich keinen Glauben geschenkt hat, ohne zu erkennen, dass sich daraus Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben auch hinsichtlich der zur Verurteilung gelangten Fälle ergeben konnten.

c) Auf diesem Erörterungsmangel beruht das angefochtene Urteil, denn der Senat vermag angesichts der dargelegten Beweiskonstellation trotz der ansonsten umfänglichen Würdigung der Aussage des Zeugen B. (UA S. 22-50) nicht auszuschließen, dass das Landgericht zu einer abweichenden Überzeugungsbildung gelangt wäre, wenn es die Gründe für den Teilfreispruch in seine Beweiserwägungen miteinbezogen hätte.

3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat für den Fall, dass das neu zur Entscheidung berufene Landgericht wiederum zu einer Verurteilung in den Fällen II. 25 und 26 der Urteilsgründe gelangen sollte, vorsorglich darauf hin, dass die Frage des Rücktritts insbesondere im Fall II. 26 der Urteilsgründe sorgfältigerer Erörterung bedarf. Dass insoweit von einem beendeten Versuch auszugehen ist, obwohl der Angeklagte erkannt hatte, dass sein erster Erpressungsversuch aus dem September 2016 nicht zum Erfolg geführt hatte, versteht sich nicht von selbst. Im Übrigen wird zu bedenken sein, ob die beiden Erpressungsversuche in den genannten Fällen nicht als eine Tat anzusehen sind. Das Landgericht hat insoweit festgestellt, dass der Angeklagte Anfang Oktober 2016 seiner unberechtigten Geldforderung „nochmals Nachdruck verlieh“, indem er den Geschädigten mit der Faust gegen das Jochbein boxte. Verstünde man - wie offenbar auch das Landgericht - die zweite Tat als in die gleiche Richtung zielende Fortsetzung der ersten, wären weder der Umstand, dass die Taten an verschiedenen Orten begangen worden sind, noch ihr zeitliches Auseinanderfallen ohne Weiteres geeignet, Tatmehrheit zu begründen (vgl. zu einem vergleichbaren Fall sukzessiver Tatbegehung BGH, Beschluss vom 22. November 2011 - 4 StR 480/11, StV 2012, 283).

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 277

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner