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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1214

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 232/24, Beschluss v. 17.07.2024, HRRS 2024 Nr. 1214


BGH 5 StR 232/24 - Beschluss vom 17. Juli 2024 (LG Flensburg)

Prüfung der verminderten Schuldfähigkeit bei Drogenabhängigkeit.

§ 20 StGB; § 21 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Eine Drogenabhängigkeit als solche vermag die Annahme verminderter Schuldfähigkeit nicht zu begründen. Diese ist bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, etwa wenn ein langjähriger Betäubungsmittelmissbrauch zu schwersten Persönlichkeitsänderungen geführt hat, der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, oder unter Umständen, wenn er die Tat im Zustand eines akuten Rauschs verübt. Auch die Angst vor unmittelbar bevorstehenden Entzugserscheinungen, die der Täter schon einmal als äußerst unangenehm erlitten hat, kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 11. Januar 2024 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge.

Das Rechtsmittel erweist sich aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen als unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

Lediglich die Annahme einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit bedarf ergänzender Erörterung; sie ist nicht tragfähig belegt.

Die Strafkammer ist - der Sachverständigen folgend - von einer nicht ausschließbar erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung ausgegangen, da die bestehende polyvalente Substanzabhängigkeit in Zusammenschau mit der damit einhergehenden erheblichen Depravation das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfülle. Allerdings ist eine solche Depravation nicht belegt. Hierzu gilt Folgendes:

1. Eine Drogenabhängigkeit als solche vermag die Annahme verminderter Schuldfähigkeit nicht zu begründen. Diese ist bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, etwa wenn ein langjähriger Betäubungsmittelmissbrauch zu schwersten Persönlichkeitsänderungen geführt hat, der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, oder unter Umständen, wenn er die Tat im Zustand eines akuten Rauschs verübt. Auch die Angst vor unmittelbar bevorstehenden Entzugserscheinungen, die der Täter schon einmal als äußerst unangenehm erlitten hat, kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 2024 - 5 StR 590/23; Beschlüsse vom 2. Mai 2023 - 1 StR 41/23 Rn. 11; vom 21. Oktober 2020 - 2 StR 362/20, NStZ-RR 2021, 77, 78 mwN).

2. Die Urteilsgründe belegen keine dieser Voraussetzungen.

a) Eine akute Intoxikation (Rausch) im Sinne eines Eingangsmerkmals hat die Strafkammer mit der Sachverständigen ausgeschlossen.

b) Soweit diese eingeschätzt hat, die Angst des Angeklagten vor den von ihm sehr erheblich empfundenen Entzugserscheinungen sei lebensbestimmend (im Sinne einer Persönlichkeitsveränderung), wird dies nicht näher konkretisiert. Jedenfalls wären auch generelle Merkmale der Substanzabhängigkeit wie der „Suchtdruck“ und das allgemeine Bestreben eines Abhängigen, zur Vermeidung unangenehmer körperlicher Folgewirkungen ständig einen Betäubungsmittelvorrat bereit zu halten, für sich genommen ohne Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 2020 - 2 StR 493/19; Urteil vom 20. August 2013 - 5 StR 36/13, NStZ-RR 2013, 346).

c) Schließlich wird die Annahme der Sachverständigen, beim Angeklagten bestehe eine erhebliche Depravation infolge der polyvalenten Substanzabhängigkeit, nicht nachvollziehbar begründet.

Der Begriff der Depravation meint die suchtbedingte Persönlichkeitsveränderung infolge einer langen oder ausgeprägten Abhängigkeit. Sie ist gekennzeichnet durch eine Nivellierung des Persönlichkeitsgefüges und einen Verlust individueller, persönlicher Akzente sowie durch einen Abbau sozialer Verantwortung, Unzuverlässigkeit, ein nachlassendes Interesse an Bezugspersonen, eine Vernachlässigung der Körperpflege, eine Reduzierung intellektueller Leistungsbereitschaft und einen zunehmenden Verlust an Kritik- und Urteilsfähigkeit (Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Aufl., 2021, S. 215; Müller/Nedopil, Forensische Psychiatrie, 5. Aufl., 2017, S. 139 f.). Solche schwerwiegenden Veränderungen in der Persönlichkeit des Angeklagten sind im Urteil nicht festgestellt. Die Begründung der Sachverständigen beschränkt sich insoweit darauf, dass der Angeklagte „im Milieu“ angesiedelt und nie einer festen Arbeitsanstellung nachgegangen sei sowie ausschließlich in Partnerschaften lebe, in denen konsumiert werde.

3. Durch den aufgezeigten Rechtsfehler ist der Angeklagte aber nicht beschwert. Die Annahme erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit nach dem Zweifelsgrundsatz wirkt nur zu seinen Gunsten.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1214

Bearbeiter: Christian Becker