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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 132
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 362/20, Beschluss v. 21.10.2020, HRRS 2021 Nr. 132
BGH 2 StR 362/20 - Beschluss vom 21. Oktober 2020 (LG Frankfurt am Main)
Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (nur ausnahmsweise Begründung durch Drogenabhängigkeit allein); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen).
§ 20 StGB; § 21 StGB; § 64 StGB; § 64 Satz 1 StGB
Leitsätze des Bearbeiters
1. Die Drogenabhängigkeit des Angeklagten als solche vermag die Annahme verminderter Schuldfähigkeit nicht zu begründen. Eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ist bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, etwa wenn langjähriger Betäubungsmittelmissbrauch zu schwersten Persönlichkeitsänderungen geführt hat, der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, oder unter Umständen, wenn er die Tat im Zustand eines akuten Rauschs verübt. Auch die Angst vor unmittelbar bevorstehenden Entzugserscheinungen, die der Täter schon einmal als äußerst unangenehm erlitten hat, kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen.
2. Eine suchtbedingte Abhängigkeit kann auch dann die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB begründen, wenn sie nicht den Schweregrad einer seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB erreicht. Auch der Umstand, dass der Angeklagte nunmehr vom Drogenkonsum Abstand genommen und Bemühungen unternommen hat, seine Rauschmittelabhängigkeit zu bekämpfen, lässt die Notwendigkeit, eine Maßregelanordnung zu prüfen, nicht entfallen.
3. Maßgeblich für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 64 Satz 1 StGB ist der Zeitpunkt des tatrichterlichen Urteils; bestehen zu diesem Zeitpunkt trotz bereits eingeleiteter Therapiemaßnahmen Hang, Gefahr und Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 StGB fort, was bei noch nicht abgeschlossener Therapie zumindest nicht fernliegt, ist die Unterbringung anzuordnen. Dass gegebenenfalls in Betracht kommt, die Vollstreckung der Maßregel zugleich zur Bewährung auszusetzen, kann die nach den Umständen des Falles gebotene Prüfung der Voraussetzungen des § 64 StGB (und deren Erörterung in den Urteilsgründen) ebenfalls nicht in Wegfall bringen.
Entscheidungstenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 22. Mai 2020
a) mit den Feststellungen aufgehoben - im Strafausspruch und - soweit eine Entscheidung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist;
b) die Einziehungsentscheidung dahingehend neu gefasst, dass die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 150 € angeordnet ist.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Amtsgericht - Strafrichter - Bad Homburg v. d. Höhe zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls mit Waffen zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Es hat ferner ausgesprochen, dass „die durch die Tat Erlangten 150 €“ eingezogen werden. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten erzielt den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von §
349 Abs. 2 StPO.
1. Während die auf die Sachrüge veranlasste umfassende Nachprüfung des angefochtenen Urteils zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat, kann der Strafausspruch mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen keinen Bestand haben.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich der Angeklagte ab der Mittagszeit des 20. April 2018 im Bereich des Bahnhofs auf und konsumierte dort bis in die Nacht hinein gemeinsam mit Bekannten drei Flaschen Whisky und eine unbekannte Menge Bier. Außerdem nahm der Angeklagte bis ca. Mitternacht noch 6 bis 7 Gramm Amphetamin und 2 Gramm Kokain zu sich. Bis zum Morgen wanderte er ziellos durch die Straßen. Irgendwann verspürte er das Bedürfnis, wieder Drogen zu konsumieren. Da er über kein Geld verfügte, beschloss er, eine ihm bekannte, von der Hauptstraße nicht einsehbare Apotheke zu überfallen. Er bewaffnete sich vorsorglich mit zwei ca. 6 cm langen, dicken, magazinierten Hochleistungsnägeln für ein Bolzensetzgerät, die er so an oder in der Hand hatte, dass die Nagelspitzen deutlich sichtbar herausragten; die Herkunft der Nägel konnte nicht geklärt werden. Ferner schlang er ein Tuch so um Kopf und Gesicht, dass lediglich seine Augenpartie noch freiblieb.
Gegen 9.15 Uhr des 21. April 2018 betrat er so die Apotheke und forderte die dort anwesende Angestellte zur Herausgabe von Geld auf. Als diese zurückwich, trat der Angeklagte hinter den Verkaufstresen und entwendete aus der Kasse Geldscheine im Gesamtwert von 150 €. Hierbei verlor der Angeklagte versehentlich einen der mitgeführten Nägel. Er entfernte sich schnellen Schritts vom Tatort, kaufte sich von den erbeuteten 150 € Amphetamine und kehrte nach deren Konsum nach Hause zurück, wo er sich schlafen legte.
b) Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als Diebstahl mit Waffen (§
244 Abs. 1 Nr. 1a StGB) gewertet. Dies lässt durchgreifende Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht erkennen. Angesichts des Geständnisses des Angeklagten mussten sich die Urteilsgründe vorliegend auch nicht dazu verhalten, ob die Wahllichtbildvorlage, bei der die Apothekenangestellte den Angeklagten wiedererkannt haben will, ordnungsgemäß erfolgt ist und welcher Beweiswert ihr zukommt (vgl. KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 106 ff.).
c) Demgegenüber ist die Strafzumessung nicht frei von Rechtsfehlern. Die Begründung, mit der das Landgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des §
21 StGB verneint, hält - auch eingedenk des revisionsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Spielraums des Tatrichters (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2004 -
5 StR 306/03 Rn. 47) - sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
aa) Im Ausgangspunkt zutreffend hat die Strafkammer gesehen, dass die Drogenabhängigkeit des Angeklagten als solche die Annahme verminderter Schuldfähigkeit nicht zu begründen vermag (vgl. zusammenfassend BGH, Urteil vom 17. April 2012 -
1 StR 15/12,
NStZ 2013, 53). Eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ist bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, etwa wenn langjähriger Betäubungsmittelmissbrauch zu schwersten Persönlichkeitsänderungen geführt hat (vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. September 2018 -
3 StR 344/18,
NStZ-RR 2019, 136 mwN), der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, oder unter Umständen, wenn er die Tat im Zustand eines akuten Rauschs verübt. Auch die Angst vor unmittelbar bevorstehenden Entzugserscheinungen, die der Täter schon einmal als äußerst unangenehm erlitten hat, kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen (vgl. Senat, Urteil vom 2. November 2005 -
2 StR 389/05,
NStZ 2006, 151, 152; BeckOK-StGB/Eschelbach, 47. Ed., § 21 Rn. 28 mwN).
bb) Soweit das Landgericht allerdings hiervon ausgehend eine Persönlichkeitsdepravation verneint, erweisen sich die Urteilsgründe als widersprüchlich. Denn einerseits wird ausgeführt, der Angeklagte habe den Drogenkonsum vor seiner Mutter geheim halten können und er habe vor und nach der Tatbegehung gearbeitet. Demgegenüber ist festgestellt, dass der Angeklagte zur Tatzeit im April 2018 keine Arbeitsstelle hatte (sondern seinen Lebensunterhalt von Ersparnissen und Zuwendungen seiner Mutter bestritt) und dass es nach der Tat zu einem Zerwürfnis mit der Mutter kam, die sich „über den massiven Alkoholkonsum des Angeklagten und dessen ungeregelte Lebensweise ärgerte“. Dieser Widerspruch wird in den Urteilsgründen nicht aufgelöst.
cc) Darüber hinaus erweist sich die Prüfung, ob der Angeklagte unter im Sinne von §
21 StGB relevanten Entzugserscheinungen litt, als lückenhaft. Die Strafkammer stellt unter anderem darauf ab, dass der Angeklagte bei der Tatausführung nicht „sichtbar gezittert oder geschwitzt“ und er mit normaler, fester Stimme gesprochen habe. Inwiefern dies von Aussagekraft für die Frage nach einer relevanten Entzugssymptomatik bei dem nach den Urteilsfeststellungen über einen längeren Zeitraum intensiv Alkohol, Kokain und Amphetamin konsumierenden Angeklagten ist, bleibt unklar und hätte näherer Darlegung bedurft.
Auch verhält sich das angefochtene Urteil nicht zur konkreten Erscheinungsform der Sucht beim Angeklagten, zu deren Verlaufsform oder einer suchtbedingten Einengung des Denk- und Vorstellungsvermögens. Anlass, diese Umstände, die in die notwendige Gesamtwürdigung des Zustands des Angeklagten bei Tatbegehung einzubeziehen gewesen wären (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juni 1989 -
5 StR 175/89,
BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 5 mwN), näher als geschehen in den Blick zu nehmen, hat bereits der geschilderte Ablauf des Tattages geboten: Zunächst konsumierte der Angeklagte Whisky, Bier, 6 bis 7 g Amphetamin und 2 g Kokain; nach Konsumende gegen Mitternacht wanderte der Angeklagte ziellos durch die Straßen, bis er „das Bedürfnis verspürte, wieder Drogen (Amphetamine) zu konsumieren“ und, da er kein Geld hatte, ihm „die Idee“ kam, „zum Kauf der Suchtstoffe … illegal Bargeld“ zu erbeuten und hierzu alsbald - um 9.15 Uhr - mit nicht ausschließbar nur zufällig gefundenen Nägeln bewaffnet eine ihm bekannte Apotheke zu überfallen. Ohne nähere Erörterungen hierzu lassen die Urteilsgründe besorgen, das Landgericht könnte verkannt haben, dass die Anwendung des §
21 StGB bei Beschaffungsdelikten eines Rauschgiftabhängigen nicht in jedem Fall davon abhängt, dass er zur Tatzeit unter akuten körperlichen Entzugserscheinungen gelitten hat. Das wäre vielmehr rechtsfehlerhaft, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass bereits die Angst des Täters vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm („grausamst“) erlebt hat und als nahe bevorstehend einschätzt, sein Hemmungsvermögen erheblich beeinträchtigen kann (vgl. BGH, Urteile vom 6. Juni 1989 -
5 StR 175/89,
NJW 1989, 2336; vom 17. April 2012 -
1 StR 15/12,
NStZ 2013, 53, 54; vom 20. August 2013 -
5 StR 36/13,
NStZ-RR 2013, 346, 347 mwN - Fälle der Abhängigkeit von Heroin; Senat, Urteil vom 2. November 2005 -
2 StR 389/05,
NStZ 2006, 151; BGH, Urteil vom 19. September 2000 -
1 StR 310/00,
NStZ 2001, 83 - Fälle der Abhängigkeit von Kokain und Amphetamin).
2. Soweit das Landgericht - gestützt auf „§
74c StGB“- eine Einziehungsentscheidung getroffen hat, bedarf diese aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegten Gründen der Korrektur. Die Feststellungen belegen, dass der Angeklagte aus der Tat 150 € erlangt und diese sodann verbraucht hat. Der Wert des Erlangten ist gemäß §§
73,
73c StGB einzuziehen, was der Senat in entsprechender Anwendung von §
354 Abs. 1 StPO ausspricht.
3. Das angefochtene Urteil kann auch insoweit keinen Bestand haben, als das Landgericht die Voraussetzungen des §
64 Satz 1 StGB nicht erörtert hat, obwohl hierzu Anlass bestand. Die Strafkammer geht nach den von ihr getroffenen Feststellungen davon aus, dass aufgrund einer „langjährigen Alkohol- und Drogenproblematik“ beim Angeklagten ein Abhängigkeitssyndrom vorliege. Die ausgeurteilte Tat ist eine Beschaffungstat. Die „Ursache seiner Delinquenz“ sieht die Strafkammer im Drogenmissbrauch, eine begonnene - aber zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht abgeschlossene - Langzeittherapie sei geeignet, „auch weitere Straftaten zu verhindern“.
Hiervon ausgehend stellt sich die unterbliebene Prüfung als durchgreifender sachlich-rechtlicher Mangel dar. Erwägungen zu einer Anordnung nach §
64 StGB waren nicht deshalb entbehrlich, weil die Strafkammer eine uneingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten angenommen hat; eine suchtbedingte Abhängigkeit kann auch dann die Annahme eines Hanges im Sinne des §
64 StGB begründen, wenn sie nicht den Schweregrad einer seelischen Störung im Sinne der §§
20,
21 StGB erreicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 22. Februar 2007 -
4 StR 26/07,
NStZ-RR 2007, 193, 194 mwN). Auch der Umstand, dass der Angeklagte nunmehr vom Drogenkonsum Abstand genommen und Bemühungen unternommen hat, seine Rauschmittelabhängigkeit zu bekämpfen, lässt die Notwendigkeit, eine Maßregelanordnung zu prüfen, nicht entfallen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2015 -
1 StR 564/15). Maßgeblich für das Vorliegen der Voraussetzungen des §
64 Satz 1 StGB ist der Zeitpunkt des tatrichterlichen Urteils; bestehen zu diesem Zeitpunkt trotz bereits eingeleiteter Therapiemaßnahmen Hang, Gefahr und Erfolgsaussicht im Sinne des §
64 StGB fort, was bei noch nicht abgeschlossener Therapie zumindest nicht fernliegt, ist die Unterbringung anzuordnen. Dass gegebenenfalls in Betracht kommt, die Vollstreckung der Maßregel zugleich zur Bewährung auszusetzen (§
67b StGB), kann die nach den Umständen des Falles gebotene Prüfung der Voraussetzungen des §
64 StGB (und deren Erörterung in den Urteilsgründen) ebenfalls nicht in Wegfall bringen.
4. Im Umfang der Aufhebung ist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Der Senat macht von der Möglichkeit des §
354 Abs. 3 StPO Gebrauch und verweist die Sache an das zuständige Amtsgericht zurück.
Der neue Tatrichter wird nicht nur Gelegenheit haben, die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - neu zu beurteilen und das Vorliegen einer Gesamtstrafenlage näher als bislang geschehen in den Blick zu nehmen. Er wird auch die unterbliebene Prüfung einer Maßregelanordnung nach §
64 StGB - unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§
246a StPO) - nachzuholen haben. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, würde eine Unterbringungsanordnung im weiteren Verfahren nicht hindern (§
358 Abs. 2 StPO). Er hat die Nichtanwendung des §
64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 132
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 77; StV 2021, 359
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner