HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1048
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 41/23, Beschluss v. 02.05.2023, HRRS 2023 Nr. 1048
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 8. November 2022 im Strafausspruch und im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzugs - jeweils mit den zugehörigen Feststellungen - aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung „in Mittäterschaft“ zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Außerdem hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass 18 Monate Freiheitsstrafe vorweg zu vollziehen sind. Gegen diese Verurteilung wendet sich der Angeklagte mit der auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision, welche er auf die Sachbeschwerde gestützt hat. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Zur Schuldfähigkeit des Angeklagten hat die Strafkammer sich sachverständig beraten lassen. Der Sachverständige hat angenommen, dass der Angeklagte bei der Begehung der abgeurteilten Tat zwar unter einer Polytoxikomanie (ICD-10: F 19.2) mit zuletzt Schwerpunkt auf Alkohol, Cannabis und Amphetaminen gelitten habe, dass aber weder diese Diagnose für sich genommen noch der im Tatzeitpunkt allenfalls anzunehmende leichtgradige Misch-Intoxikationszustand des Angeklagten die Annahme einer schweren anderen seelischen Störung als dem hier - vermeintlich - einzig in Betracht kommenden Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB rechtfertigten. Ungeachtet der von dem Angeklagten schon im Vorfeld der Tat durch seinen ausgeprägten Suchtmittelkonsum erfahrenen Nachteile im beruflichen und privaten Alltag sei angesichts einer - von ihm selbst so empfundenen - gewissen Substanzgewöhnung, seiner physischen Leistungsfähigkeit bei Tatbegehung sowie seiner ungetrübten Erinnerungen an die Abläufe der Tatnacht nicht von einem Intoxikationszustand von forensischer Relevanz auszugehen, aus dem sich eine erhebliche Beeinträchtigung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ableiten lasse.
2. Der Angeklagte hat die Revision wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 27. April 2017 - 4 StR 547/16 Rn. 20 mwN). Die Nachprüfung aufgrund der Sachrüge hat zur Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Indes hat der Strafausspruch keinen Bestand. Die Begründung der Strafkammer, mit der sie eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB verneint hat, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist, erfolgt in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren, ohne dass die Nichteinhaltung einzelner Schritte nach rechtlichen Maßstäben fehlerhaft sein muss (vgl. BGH, Urteile vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12 Rn. 24 ff. und vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03 Rn. 29, BGHSt 49, 45; jeweils mwN). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu untersuchen; es ist festzustellen, ob, in welcher Weise und in welchem Umfang sie sich auf dessen Tatverhalten ausgewirkt haben. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen (vgl. BGH, Urteile vom 25. März 2015 - 2 StR 409/14 Rn. 12; vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12 Rn. 24 und vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16 Rn. 10; Beschlüsse vom 2. November 2021 - 1 StR 291/21 Rn. 13 und vom 11. April 2018 - 4 StR 446/17 Rn. 7; jeweils mwN).
Von dem Sachverständigen wird in diesem Zusammenhang keine juristisch normative Aussage erwartet, sondern eine empirisch vergleichende über das Ausmaß der Beeinträchtigung des Täters. Denn bei der Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme verminderter Schuldfähigkeit - insbesondere der auch normativ geprägten Beurteilung der Erheblichkeit der Verminderung von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit - handelt es sich um Rechtsfragen. Das abschließende Urteil über die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ist ausschließlich Sache des Richters. Der Tatrichter hat die Darlegungen des Sachverständigen daher zu überprüfen und rechtlich zu bewerten. Außerdem ist er verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise zu begründen (BGH, Urteile vom 25. März 2015 - 2 StR 409/14 Rn. 12; vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12 Rn. 25; vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03 Rn. 34, BGHSt 49, 45; vom 19. September 2000 - 1 StR 310/00 Rn. 7 und vom 16. Juni 1998 - 1 StR 162/98 Rn. 26; Beschlüsse vom 2. November 2021 - 1 StR 291/21 Rn. 13 und vom 11. April 2018 - 4 StR 446/17 Rn. 7; jeweils mwN).
b) Hier lassen die Urteilsgründe bereits besorgen, dass die Strafkammer sich ihrer Verantwortung, über die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten als Tatrichter eigenverantwortlich entscheiden zu müssen, nicht bewusst war.
aa) So erschöpfen sich ihre Ausführungen zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten in der Wiedergabe der Ausführungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen, dessen Darlegungen aus „forensisch-psychiatrischer“ Sicht und nach „forensischer“ Relevanz (UA S. 12-14) sie keiner eigenständigen juristischen Beurteilung nach den vorstehend aufgeführten Kriterien zuführt. Darauf, dass sie eine solche fälschlich für entbehrlich gehalten haben könnte, deutet auch der Umstand hin, dass der Sachverständige im Rahmen einer - prinzipiellen (vgl. hierzu nachfolgend unter c) cc)) - Zuordnung der stoffgebundenen Süchte zu den Eingangsmerkmalen des § 20 StGB diese nach den Urteilsgründen unter den Begriff der schweren anderen seelischen Störung „subsumiert“ hat (UA S. 13). Damit überträgt die Strafkammer einen für die tatrichterliche Rechtsprüfung üblichen juristischen Fachterminus auf die Tätigkeit des Sachverständigen. Dass sie sich dennoch eigenständig mit den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen auseinandergesetzt und diese einer normativen Überprüfung unterzogen hätte, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen; vielmehr schließt sich danach die Strafkammer dem ihr aus vorangegangenen Strafverfahren bekannten Sachverständigen „hinsichtlich der medizinischen Bewertung“ ohne nähere Erläuterung an (UA S. 11).
bb) Zwar erfordert ein Urteil nicht stets umfassende Darlegungen zur Überprüfung und Bewertung sachverständiger Ausführungen durch das Gericht. Liegt ein in sich stimmiges, in seinen Feststellungen und Beurteilungen ohne weiteres nachvollziehbares Sachverständigengutachten vor, werden häufig nach dessen Darstellung knappe Ausführungen genügen, aus denen insbesondere folgt, dass sich das Gericht erkennbar bewusst war und danach entschieden hat, dass es allein seine Aufgabe ist, das abschließende normative Urteil über die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zu treffen, auch wenn es dem Sachverständigen letztlich uneingeschränkt folgt. Unnötige Wiederholungen sind auch in diesem Bereich zu vermeiden. Anders verhält es sich aber, wenn die sachverständigen Äußerungen zur Steuerungsfähigkeit nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind, Lücken aufweisen oder im Widerspruch zu sonstigen Feststellungen und Bewertungen der Strafkammer stehen (BGH, Urteil vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12 Rn. 31 f.).
So liegt es hier. Die Darstellung des Sachverständigengutachtens in den Urteilsgründen lässt Rechtsfehler bei der Zuordnung der - für sich genommen rechtsfehlerfrei festgestellten - Polytoxikomanie (UA S. 11 f.) unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB (hierzu nachfolgend unter c) cc)) ebenso besorgen wie bei der Untersuchung des Ausprägungsgrads des übermäßigen Suchtmittelkonsums des Angeklagten und von dessen Einfluss auf seine soziale Anpassungsfähigkeit (hierzu nachfolgend unter c) dd)).
c) Zutreffend ist der Sachverständige - wenn auch „aus forensisch-psychiatrischer Sicht“ - davon ausgegangen, dass eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit keinen „‘Freifahrtschein‘ für sämtliche Deliktarten“ bedeutet (UA S. 13).
aa) Dieser Ansatz hält der normativen Überprüfung stand. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beeinflusst die bloße Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol für sich genommen die Steuerungsfähigkeit noch nicht. Dies ist erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn langjähriger Betäubungsmittelmissbrauch zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat. In diesen Fällen liegen regelmäßig zugleich ein organischer Befund und eine krankhafte seelische Störung vor (vgl. nachfolgend). Auch beim akuten Rausch ist ein Ausschluss oder die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit möglich. Schwere Entzugserscheinungen können die Steuerungsfähigkeit bei Beschaffungsdelikten nur in seltenen Ausnahmefällen, z.B. in Kombination mit Persönlichkeitsveränderungen, aufheben. Entzugserscheinungen, welche erst bevorstehen, können mitunter den Drang zur Beschaffungskriminalität übermächtig werden lassen, wenn die Angst des Täters vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm („grausamst“) erlitten hat und die er als nahe bevorstehend einschätzt, sein Hemmungsvermögen erheblich vermindert (vgl. BGH, Urteile vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12 Rn. 26 f.; vom 26. April 2007 - 4 StR 7/07 Rn. 11; vom 19. September 2000 - 1 StR 310/00 Rn. 7 und vom 13. Dezember 1995 - 3 StR 276/95 Rn. 5; Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13 Rn. 7; jeweils mwN).
bb) Als stoffgebundene Suchterkrankung kann die Abhängigkeit von Drogen wegen der Vielzahl möglicher Ursachen, Ausprägungen sowie körperlicher und psychischer Folgen sowohl die Voraussetzungen des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB als auch - vor allem bei körperlicher Abhängigkeit - jene einer krankhaften seelischen Störung erfüllen (BGH, Urteil vom 17. April 2012 - 1 StR 15/12 Rn. 26; Beschluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13 Rn. 7). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann für die Anwendung der §§ 20, 21 StGB regelmäßig nicht offen bleiben, welche der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB vorliegt (vgl. nur BGH, Urteil vom 26. April 2007 - 4 StR 7/07 Rn. 5). Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen daher mehrere Eingangsmerkmale gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese nicht isoliert abgehandelt werden. Erforderlich ist in solchen Fällen vielmehr eine umfassende Gesamtbetrachtung (BGH, Beschlüsse vom 28. April 2022 - 2 StR 77/20 Rn. 13 und vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13 Rn. 7).
cc) Vor diesem Hintergrund begegnet es Bedenken, dass der psychiatrische Sachverständige - und ihm ohne Weiteres folgend die Strafkammer - das Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung ausgeschlossen hat mit der im Allgemeinen gehaltenen Begründung, hierunter seien „z.B. schizophrene Psychosen, manisch-depressive Erkrankungen oder auch schwere organische Psychosyndrome zu subsumieren“, wohingegen stoffgebundene Süchte „prinzipiell“ unter den Begriff der schweren anderen seelischen Störung „subsumiert werden können“ (UA S. 13). Dies lässt außer Betracht, dass der Angeklagte seinen Angaben nach zu Beginn der in dieser Sache beschlossenen Untersuchungshaft Entzugserscheinungen hatte. Eine körperliche Abhängigkeit des Angeklagten von Suchtstoffen im Tatzeitpunkt erscheint damit zumindest nicht ausgeschlossen.
dd) Doch auch die Erörterung des Eingangsmerkmals einer schweren anderen seelischen Störung des Angeklagten durch das Tatgericht begegnet Bedenken.
(1) So lässt die Strafkammer den Ausprägungsgrad der Suchtmittelabhängigkeit und damit den psychopathologischen Zustand des Angeklagten im Tatzeitpunkt in Teilen offen. (Wohl) Betreffend die Frage möglicher abhängigkeitsinduzierter Persönlichkeitsveränderungen des Angeklagten und ihres etwaigen Schweregrades greifen die Urteilsgründe (einige) nachteilige Folgen seines ausgeprägten Suchtmittelkonsums auf den Alltag auf. Genannt werden der Verlust der Arbeitsstelle und der Wohnung; keine Erwähnung finden der anderweitig festgestellte Verlust der Fahrerlaubnis wegen Teilnahme am Straßenverkehr ungeachtet einer Alkoholintoxikation von 1,5 Promille sowie der Umstand, dass der Angeklagte in den Monaten vor der Tat das empfangene Arbeitslosengeld „weitgehend“ - naheliegend damit vorrangig vor anderen (lebens-)notwendigen Ausgaben - für den Erwerb von Alkohol und Drogen verwendet hatte (UA S. 3). Zu den Schlussfolgerungen mit Blick auf eine etwaige Depravation des Angeklagten und ein hierdurch bedingtes Absinken der Hemmschwelle vor der Begehung von - wie hier - Beschaffungsdelikten verhalten die Urteilsgründe sich dennoch nicht.
(2) Schwere Entzugserscheinungen oder eine Angst des Angeklagten hiervor hat der Sachverständige offenbar ausgeschlossen. Die Urteilsgründe bieten hierfür auch keinen Anhalt.
(3) Die Prüfung des Merkmals eines akuten Rausches des Angeklagten erweist sich hingegen in unterschiedlicher Hinsicht als rechtsfehlerhaft.
(a) Im Ausgangspunkt fehl geht insoweit der - offenbar auf die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten bezogene - Ansatz, der Angeklagte erscheine „im nüchternen Zustand“ prinzipiell in der Lage, soziale Normen zu verstehen und ihre Sinnhaftigkeit zu begreifen (UA S. 13). Maßgeblich für die Prüfung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB ist allein die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters im Tatzeitpunkt. Den Urteilsgründen zufolge ging die Strafkammer selbst davon aus, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt gerade nicht nüchtern war (vgl. nachfolgend unter (b)).
(b) Allerdings hat die Strafkammer es rechtsfehlerhaft unterlassen, die für eine Beurteilung der Tatzeitbefindlichkeit des Angeklagten notwendigen tatsächlichen Feststellungen zu treffen.
Nicht ausschließbar stand der Angeklagte bei Tatbegehung unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen. Er hat sich in der Hauptverhandlung zu dem Konsum von Alkohol und unterschiedlichen Betäubungsmitteln einschließlich der jeweiligen Mengen in den Stunden vor der Tat eingelassen (UA S. 8). Auch der Sachverständige ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte „unmittelbar vor dem eigentlichen Tatgeschehen verschiedene Drogen und Alkohol […] konsumiert habe“ (UA S. 13); es sei „von einem leichtgradigen Misch-Intoxikationszustand beim Angeklagten“ auszugehen (UA aaO).
Dennoch hat die Strafkammer zu einem solchen Konsum keine Feststellungen getroffen. Rechtsfehlerhaft hat sie sich mit den vorgenannten Angaben des Angeklagten - über deren Wiedergabe in den Urteilsgründen hinaus - nicht befasst, insbesondere nicht mit deren Glaubhaftigkeit. Entsprechendes gilt für die Angabe des Angeklagten, er habe Ende 2021/Anfang 2022 „eigentlich täglich“ in dem dargelegten Umfang konsumiert, soweit dies seinen - auch in den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und zur Maßregel des § 64 StGB für den Tatzeitraum nicht näher konkretisierten - Konsum von Alkohol betrifft. Damit verfügte der Sachverständige nicht über eine objektive Tatsachengrundlage für seine fachkundige Bewertung. Eine solche - gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe - zu schaffen, obliegt dem Tatgericht.
(c) Fehlerhaft hat die Strafkammer es damit zugleich unterlassen, die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten im Tatzeitpunkt zu bestimmen. Festgestellte Trinkmengen ermöglichen gewöhnlich eine Rückrechnung auf den Tatzeitpunkt, wo - wie hier - „gemessene Werte […] tatzeitnah nicht [existieren]“ (UA S. 13).
(aa) Selbst wenn es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der - regelmäßig deshalb zu bestimmende - Wert doch immerhin ein je nach den Umständen des Einzelfalls gewichtiges, wenn auch keinesfalls allein maßgebliches Beweisanzeichen (Indiz) für die Beurteilung der Schuldfähigkeit. Maßgeblich ist eine Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild des Täters vor, während und nach der Tat beziehen. Welcher Beweiswert der Blutalkoholkonzentration (die weniger zur Auswirkung des Alkohols als lediglich zu dessen wirksam aufgenommener Menge aussagt) im Verhältnis zu anderen psychodiagnostischen Beweisanzeichen beizumessen ist, lässt sich nicht schematisch beantworten. Er ist umso geringer, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostische Kriterien zur Verfügung stehen. So können die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit auch bei einer Blutalkoholkonzentration schon von unter 2 Promille begründen, umgekehrt eine solche selbst bei errechneten Maximalwerten von über 3 Promille auch ausschließen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Juni 2021 - 2 StR 168/21 Rn. 8; vom 29. Mai 2012 - 1 StR 59/12 Rn. 22 f. mwN). Eine Beeinflussung der Auswirkungen des Alkoholgenusses auf die Schuldfähigkeit des Täters durch zusätzlich konsumierte Betäubungsmittel kann - möglicherweise zu dessen Nachteil - gleichfalls in den Blick zu nehmen sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2022 - 1 StR 492/21 Rn. 3 und vom 21. April 1988 - 4 StR 116/88 Rn. 2).
(bb) Zu einer solchen Gesamtschau war der Sachverständige hier in Ermangelung konkreter Feststellungen zum Suchtmittelkonsum des Angeklagten vor Tatbegehung nur begrenzt in der Lage. Der Sachverständige hat etwaige Auswirkungen der angenommenen Intoxikation auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten allein anhand von psychodiagnostischen Kriterien überprüft. Hierzu hat er sich allerdings überwiegend Kriterien bedient, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - wie auch hier - keinen verlässlichen Rückschluss auf die Tatzeitbefindlichkeit des Angeklagten erlauben.
Bei der Anwendung psychodiagnostischer Kriterien auf das Verhalten des Angeklagten sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht. Regelmäßig lassen sich aus planvollem und situationsgerechtem Vorgehen, das lediglich die Verwirklichung des Tatvorsatzes darstellt, oder der Flucht des Täters vom Tatort keine tragfähigen Schlüsse auf die Steuerungsfähigkeit des Täters ziehen. Das Hemmungsvermögen des Täters darf nicht mit zweckrationalem Handeln gleichgesetzt werden. Bei hoher Alkoholgewöhnung - für die die Einlassung des Angeklagten zu seinem Konsumverhalten hier sprechen könnte - können zudem äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinanderfallen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. April 2022 - 2 StR 77/20 Rn. 11; vom 9. Februar 2022 - 1 StR 492/21 Rn. 2 und vom 6. Februar 1997 - 4 StR 510/96 Rn. 6). Auch das Fehlen von Ausfallerscheinungen steht bei hoher Alkoholgewöhnung einer Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2018 - 1 StR 321/18 Rn. 8). Der indizielle Beweiswert eines intakten Erinnerungsvermögens für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit ist ganz generell problematisch (BGH, Beschlüsse vom 2. November 2021 - 1 StR 291/21 Rn. 22 und vom 23. Januar 2019 - 1 StR 448/18 Rn. 5).
Dennoch hat der Sachverständige entscheidend auf die „physische Leistungsfähigkeit“ des Angeklagten, sein planvolles und zielgerichtetes Handeln, das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei der Tatbegehung und der anschließenden Flucht sowie auf das Fehlen einer Amnesie des Angeklagten abgestellt. Die Alkoholgewöhnung des Angeklagten findet in diesem Zusammenhang Erwähnung, wird zu den vorgenannten Umständen jedoch gerade nicht in Beziehung gesetzt. Der Senat kann daher den Schluss der Strafkammer, der angenommene Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln habe das Hemmungsvermögen des Angeklagten bei Tatbegehung nicht oder zumindest nicht erheblich beeinträchtigt, insgesamt nicht nachvollziehen.
3. Die aufgezeigten Mängel führen zur Aufhebung des Strafausspruchs, da der Senat nicht auszuschließen vermag, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Bewertung des psychischen Zustands des Angeklagten zur Tatzeit zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gekommen wäre, von der Milderungsmöglichkeit nach §§ 21, 49 StGB Gebrauch gemacht und auf eine geringere Freiheitsstrafe erkannt hätte. Eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten liegt auf Grundlage der getroffenen Feststellungen zur Person des Angeklagten und zum Tatgeschehen sicher nicht vor.
Der Senat hebt auch die zugehörigen Feststellungen zum Strafausspruch auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um dem neuen Tatrichter eine umfassende Prüfung der Alkoholisierung des Angeklagten und damit zu den Voraussetzungen des § 21 StGB zu ermöglichen. Zugleich zieht die Aufhebung des Strafausspruchs den Wegfall des angeordneten Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe nach sich. Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1048
Bearbeiter: Christoph Henckel