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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 358

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 437/21, Urteil v. 10.02.2022, HRRS 2022 Nr. 358


BGH 1 StR 437/21 - Urteil vom 10. Februar 2022 (LG München I)

Strafaussetzung zur Bewährung (Kriminalprognose: kein allgemeines Wohlverhalten erforderlich, Bedeutung einer automatischen neuen Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts nach Haftentlassung mangels Aufenthaltstitels; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 56 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Dem Tatgericht kommt bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ein weiter Beurteilungsspielraum zu, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat. Hat das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände gesehen und gewürdigt und ist es - namentlich aufgrund seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks - zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens nicht größer ist als diejenige neuer Straftaten, so ist dessen Entscheidung grundsätzlich auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Bewertung denkbar gewesen. Erforderlich ist aber, dass das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände vollständig erfasst und würdigt.

2. Für die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung kommt es einzig darauf an, ob ohne Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten ist, dass der Täter sich in Zukunft und nicht nur während der Bewährungszeit nicht mehr strafbar machen wird; allgemeines Wohlverhalten wird hierfür nicht verlangt.

3. Dass ein Angeklagter ohne Aufenthaltserlaubnis sich nach Entlassung aus der Haftanstalt ohne eigenes Zutun, gleichsam automatisch (erneut) wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar macht, kann bei der Kriminalprognose allenfalls untergeordnete Bedeutung zukommen. Demgemäß ist anerkannt, dass die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil ein Angeklagter aktuell über keinen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland verfügt und nicht amtlich gemeldet ist (vgl. BGHSt 6, 138 f.).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 1. Juli 2021 aufgehoben, soweit ihr gegenüber die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung versagt worden ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es nicht zur Bewährung ausgesetzt hat. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen.

Die gegen ihre Verurteilung gerichtete Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts beanstandet, hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

1. Der Schuldspruch, der Strafausspruch sowie die Einziehungsentscheidung weisen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.

2. Demgegenüber hält die Versagung der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung (§ 56 StGB) rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Grundsätzlich gilt, dass dem Tatgericht bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, in dessen Rahmen das Revisionsgericht jede rechtsfehlerfrei begründete Entscheidung hinzunehmen hat (vgl. BGH, Urteile vom 14. März 2012 - 2 StR 547/11 Rn. 20 und vom 13. Februar 2001 - 1 StR 519/00 Rn. 10; Beschluss vom 27. Juni 2019 - 1 StR 203/19 Rn. 4; Claus in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl., § 56 Rn. 49 ff. mwN). Hat das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände gesehen und gewürdigt und ist es - namentlich aufgrund seines in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks - zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens nicht größer ist als diejenige neuer Straftaten, so ist dessen Entscheidung grundsätzlich auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Bewertung denkbar gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2016 - 4 StR 25/16 Rn. 3). Erforderlich ist aber, dass das Gericht die für und gegen eine Aussetzung sprechenden Umstände vollständig erfasst und würdigt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Mai 2016 - 4 StR 25/16 Rn. 3; vom 10. Januar 2007 - 5 StR 542/06 Rn. 2 und vom 13. Februar 2001 - 1 StR 519/00 Rn. 10).

b) Gemessen an diesem Maßstab ist die Prognoseentscheidung des Landgerichts, aufgrund derer es für die Angeklagte keine günstige Kriminalprognose im Sinne des § 56 Abs. 1, Abs. 2 StGB festzustellen vermochte, nicht frei von Rechtsfehlern.

aa) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet zunächst, dass das Landgericht im Rahmen der Prognoseentscheidung darauf abgestellt hat, dass die Angeklagte sich „zumindest nicht über die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland informierte“ (UA S. 53). Es hat bei dieser Bewertung daran angeknüpft, dass die Angeklagte weder einwohnerrechtlich gemeldet noch als Prostituierte nach § 3 Abs. 1 ProstSchG angemeldet gewesen sei sowie mit der Erbringung ihrer Dienstleistungen gegen die zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie verhängten Lockdown-Bestimmungen verstoßen habe (UA S. 53). Überdies habe sie gegen die Kondompflicht nach § 32 Abs. 1 ProstSchG verstoßen und sei auch steuerrechtlich nicht angemeldet gewesen (UA S. 53).

Mit dem - allein vergangenheitsbezogenen - Abheben auf die Verletzung von Erkundigungspflichten hat das Landgericht nicht bedacht, dass es für die Krimimalprognose (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StGB) einzig darauf ankommt, ob ohne Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten ist, dass der Täter sich in Zukunft und nicht nur während der Bewährungszeit nicht mehr strafbar machen wird; allgemeines Wohlverhalten wird hierfür nicht verlangt (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2021 - 6 StR 12/20 Rn. 119; Beschluss vom 15. April 2003 - 3 StR 91/03 Rn. 5; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 198; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 56 Rn. 6). Das Erfordernis einer „ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben“ umfassenden günstigen Sozialprognose hat das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645, 647) bereits mit Wirkung zum 1. April 1970 aufgegeben (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 2021 - 6 StR 12/20 Rn. 119; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 198). Es kommt hinzu, dass die von der Strafkammer bei der Verletzung der Informationspflichten in Bezug genommenen weiteren Pflichtverletzungen sich aus Sicht der Angeklagten in tatsächlicher Hinsicht teilweise bedingen. So müsste die Angeklagte, wollte sie sich steuerrechtlich, einwohnermelderechtlich und als Prostituierte anmelden, die unerlaubte Erwerbstätigkeit bzw. den unerlaubten Aufenthalt offenbaren.

bb) Die Strafkammer hat ihre negative Kriminalprognose zudem auf die ungünstigen Lebensverhältnisse der Angeklagten, einer chinesischen Staatsangehörigen, gestützt. Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich die Angeklagte in der Vergangenheit illegal in Deutschland auf und arbeitete ohne Arbeitserlaubnis als Prostituierte. Die Angeklagte, die im Besitz einer spanischen Aufenthaltserlaubnis ist, verfüge weder in Deutschland noch in Spanien oder China über eine Wohnung und einen Arbeitsplatz und habe keine finanziellen Mittel für eine Rückkehr nach Spanien oder China. Diese Ausführungen bringen die Erwartung zum Ausdruck, dass die Angeklagte sich vor dem Hintergrund eines fehlenden Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland bei einer Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar machen würde.

(1) Der Senat besorgt insoweit, dass das Landgericht nicht in den Blick genommen hat, dass sich die Angeklagte, sobald sie aus der Haftanstalt entlassen wird, ohne ihr Zutun, gleichsam automatisch (erneut) wegen unerlaubten Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar macht. Vor dem Hintergrund dieses - gesetzlich bedingten - Automatismus kann einer möglichen Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts bei der Kriminalprognose allenfalls untergeordnete Bedeutung zukommen. Demgemäß ist anerkannt, dass die Möglichkeit der Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung nicht bereits deshalb ausgeschlossen ist, weil ein Angeklagter aktuell über keinen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland verfügt und nicht amtlich gemeldet ist (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 1954 - 2 StR 517/53, BGHSt 6, 138 f. zu einem Ausländer mit Wohnsitz im Ausland; LK-StGB/Hubrach, 13. Aufl., § 56 Rn. 18).

(2) Für diese Bewertung der ausländerrechtlichen Situation der Angeklagten im Rahmen der Kriminalprognose sprechen auch die Regelungen des Rückführungsverfahrens nach der sogenannten Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens jedenfalls die Strafnormen des unerlaubten Aufenthalts und der unerlaubten Einreise (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG) europarechtskonform auszulegen (vgl. BGH, Urteile vom 24. Juni 2020 - 5 StR 671/19 Rn. 27 mwN und vom 4. Mai 2017 - 3 StR 69/17 Rn. 20 f.). Offenbleiben kann im vorliegenden Zusammenhang, ob der Senat insoweit der Auffassung des 5. Strafsenats folgen könnte, dass ein laufendes Rückführungsverfahren zur Folge hätte, dass der unerlaubte Aufenthalt oder die unerlaubte Einreise nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG lediglich nach § 60 StGB mit einem Absehen von Strafe bei gleichzeitigem Schuldspruch „sanktioniert“ werden dürfte (BGH, Urteil vom 24. Juni 2020 - 5 StR 671/19 Rn. 31) oder darin - wie der 3. Strafsenat annimmt - ein persönlicher Strafaufhebungsgrund, ein Prozesshindernis oder auch nur ein Vollstreckungshindernis in europarechtskonformer Handhabung von § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, § 154b Abs. 3 und 4 StPO oder § 456a StPO zu sehen wäre (BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 - 3 StR 69/17 Rn. 21). In jedem Falle wäre auch bei der Prognoseentscheidung, die an eine zukünftige Strafbarkeit wegen unerlaubten Aufenthalts anknüpft, ein vorrangiges Rückführungsverfahren in den Blick zu nehmen. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie vorgesehen ist, dass Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, zu verpflichten sind, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Diese Bestimmung der Rückführungsrichtlinie, die Deutschland nicht innerhalb der Frist zur Umsetzung am 24. Dezember 2010 (vgl. Art. 20 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie) umgesetzt hat, gilt seit Ablauf der Frist unmittelbar (vgl. EuGH, Urteil vom 28. April 2011 - C-61/11 [El Dridi] Rn. 46 mwN, NJOZ 2012, 837, 839).

(3) Auch die weitere Erwägung des Landgerichts, dass es der Angeklagten an finanziellen Mitteln für eine Rückreise nach Spanien oder China fehle (UA S. 54), wird durch die Rückführungsrichtlinie relativiert, da dort in den Erwägungsgründen 10 bis 12 eine finanzielle Unterstützung der Drittstaatsangehörigen unter anderem über den Europäischen Rückkehrfonds vorgesehen ist.

3. Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht (§ 353 Abs. 2 StPO). Das Landgericht kann weitere Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

Das neue Tatgericht wird sich bei der neuerlichen Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung auch mit möglichen spezialpräventiven Wirkungen der im Zeitpunkt des Urteils bereits mehr als fünf Monate andauernden Untersuchungshaft auf die in Deutschland nicht vorbestrafte Angeklagte zu befassen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 - 6 StR 493/21 Rn. 3).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 358

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede