HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 410
Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 493/21, Urteil v. 22.02.2022, HRRS 2022 Nr. 410
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Hannover vom 8. Juni 2021 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte - vom Generalbundesanwalt vertretene - Revision der Staatsanwaltschaft, die sich allein gegen den Freispruch richtet, bleibt ohne Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
In der Tatnacht kam es in einer Diskothek zu einem Handgemenge, an dem neben dem Angeklagten und dem Nebenkläger der frühere Mitangeklagte B. sowie ein Zeuge beteiligt waren und in dessen Verlauf der Nebenkläger ein Messer zog. Daraufhin mussten der Nebenkläger, der Zeuge und zwei mit ihnen erschienene Frauen die Diskothek verlassen. Die Gruppe ging in Richtung ihres geparkten Autos. Der Angeklagte und B. folgten ihr. Sie wollten die Situation „klären“ und für die „Demütigung“ durch den Nebenkläger Vergeltung üben. Nachdem sie ihn eingeholt hatten, kam es zu einem Wortgefecht und Handgreiflichkeiten, in deren Verlauf der Angeklagte dem Nebenkläger eine leere Bierflasche auf den Kopf schlug. Dieser ging mit einer blutenden Platzwunde zu Boden und bekam Angst.
Der Nebenkläger lief davon. Der Angeklagte und B. folgten ihm erneut. Der Angeklagte holte den Nebenkläger als Erster ein. Im Laufe des weiteren, nicht näher feststellbaren Geschehens brachte der Angeklagte dem Nebenkläger sechs Messerstiche bei (ins linke Schulterblatt sowie in den rückseitigen Brustkorb, den linksseitigen Brustkorb, die linke Flanke, den linken Brustkorb und den Bauch). Der Angeklagte selbst erlitt Stichverletzungen im Bauch und Schnittverletzungen an beiden Händen. Der inzwischen hinzugekommene B. schlug auf den schwer verwundet am Boden liegenden Nebenkläger ein, während der Angeklagte aufgrund seiner eigenen Verletzungen vom Nebenkläger abgelassen hatte. Er hielt es dabei für möglich, dass der Nebenkläger sterben werde. Dies war ihm gleichgültig, weil er sich selbst retten wollte. Der Angeklagte und B. liefen weg. Noch auf seinem Fluchtweg warf der Angeklagte das Messer, mit dem er den Nebenkläger verletzt hatte, in einen Abwasserkanalschacht, wo es später von einer Polizeibeamtin mit Hilfe eines Leichenspürhundes gefunden wurde.
Sowohl die Verletzungen des Nebenklägers als auch diejenigen des Angeklagten waren potenziell lebensgefährlich.
2. Wegen des Schlags mit der Bierflasche hat die Jugendkammer den Angeklagten der gefährlichen Körperverletzung schuldig gesprochen. Soweit ihm die Anklage darüber hinaus vorgeworfen hat, den Nebenkläger ohne rechtfertigenden Grund mit bedingtem Tötungsvorsatz mindestens sechsmal mit einem Klappmesser in den Körper gestochen zu haben, hat sie den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Denn sie konnte „keinen konkreten Geschehensablauf und keine Chronologie der Ereignisse feststellen“ (UA S. 48).
3. Der Freispruch hält materiellrechtlicher Überprüfung stand.
a) Die Beweiswürdigung des Landgerichts weist - eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabs - keinen Rechtsfehler auf.
Weder der Angeklagte noch der Nebenkläger, der Angaben zu seinem eigenen Messereinsatz unter Berufung auf § 55 StPO verweigert hat, haben glaubhafte Darstellungen dazu gegeben, wie es zu den durch ein rechtsmedizinisches Gutachten belegten eigenen und fremden Stich- und Schnittverletzungen kam. Unbeteiligte Zeugen des unmittelbaren Verletzungsgeschehens gab es nicht.
Aus den Bekundungen der Rechtsmedizinerin zu den Verletzungen des Nebenklägers und aus den vorhandenen Blutspuren konnte die Jugendkammer lediglich den Schluss auf den Ort der Vorfälle sowie darauf ziehen, dass sich „das Geschehen in dynamischer Form ereignete“ (UA S. 35). Auch die Wunden des Angeklagten ermöglichten keinen Rückschluss auf die Position des „Angreifers“. Trotz ihrer jeweils schweren Verletzungen sei - so die Sachverständige, der das Landgericht folgt, - im Hinblick auf die Wirkung von Adrenalin nicht von der sofortigen Handlungsunfähigkeit des Angeklagten oder des Nebenklägers auszugehen. Mögliche Abwehrverletzungen konnte sie lediglich beim Angeklagten feststellen.
Eingehend ist die Jugendkammer der Frage nachgegangen, ob der Angeklagte ein eigenes Messer gegen den - erwiesenermaßen ein Messer mitführenden - Nebenkläger eingesetzt haben könnte. Dies hat sie im Hinblick auf die Verteilung der DNA-Spuren an dem auf dem Fluchtweg des Angeklagten aufgefundenen Messer zwar für möglich gehalten. Sie konnte aber letztlich nicht ausschließen, dass es sich hierbei um das Messer des Nebenklägers handelte, zumal in der Nähe des Tatorts trotz intensiver Absuche durch die Polizei kein weiteres Messer gefunden wurde. Falls nur ein Messer „im Spiel gewesen“ sein sollte, spreche aus der Sicht der Jugendkammer einiges dafür, dass dieses zuerst durch den Nebenkläger gegen den Angeklagten eingesetzt worden sei. Dieser Schluss ist nicht zu beanstanden.
b) Hiervon ausgehend hat das Landgericht unter Anwendung des Zweifelssatzes (vgl. BGH, Urteil vom 26. August 2004 - 4 StR 236/04, NStZ 2005, 85) rechtsfehlerfrei eine Notwehr (§ 32 StGB) des Angeklagten für möglich gehalten.
aa) Es hat aus nachvollziehbaren Gründen für denkbar erachtet, dass der als Erster zustechende Nebenkläger den Angeklagten im Bauchbereich verletzte, dem es sodann gelang, dem Nebenkläger das Messer abzunehmen, und seinerseits mehrfach auf diesen einzustechen. Zwar hat die Jugendkammer es für „durchaus naheliegend“ gehalten, dass sich der nach dem Schlag mit der Flasche flüchtende Nebenkläger mit dem Messerstich seinerseits in Notwehr gegen einen fortdauernden rechtswidrigen Angriff des ihn verfolgenden Angeklagten verteidigte. Hierzu konnte sie jedoch ebenso wenig sichere Feststellungen treffen wie zu der Gebotenheit einer etwaigen Notwehrhandlung oder dem Vorliegen eines Verteidigungswillens des Nebenklägers. Damit konnte sie nicht hinreichend sicher ausschließen, dass der Angeklagte die Messerstiche seinerseits in Notwehr gegen einen rechtswidrigen Messerangriff des Nebenklägers ausführte. Hiergegen ist nichts zu erinnern.
bb) Entgegen der Auffassung der Revision führte gegebenenfalls auch die Wegnahme des Messers des Nebenklägers durch den Angeklagten nicht notwendigerweise zu einer Beendigung eines rechtswidrigen Angriffs des Nebenklägers, solange dieser - was nicht fernliegt - in seiner festgestellten Erregung (UA S. 46) noch mit Aussicht auf Erfolg um den Zugriff auf das Messer rang. Den Schluss, dass die Zufügung von sechs Stichen zur Abwehr eines rechtswidrigen, lebensgefährdenden Messerangriffs keinesfalls erforderlich sein kann, vermag der Senat angesichts des dynamisch und rasch ablaufenden Kampfgeschehens nicht zu ziehen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 410
Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi