HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 558
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 91/21, Beschluss v. 14.04.2021, HRRS 2021 Nr. 558
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 30. November 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
Nach den Feststellungen griff der Angeklagte an zwei nicht näher bekannten Tagen im Juni oder Juli 2004 bei Waldspaziergängen dem am 8. Januar 1991 geborenen Nebenkläger in die Hose und manipulierte am Glied des Jungen (Fälle III.1 und III.2 der Urteilsgründe).
Bei zwei weiteren Spaziergängen in den Wochen nach dem Umzug der Familie des Nebenklägers in eine Notwohnung am 3. Juni 2004 manipulierte der Angeklagte jeweils zunächst mit der Hand am Glied des Nebenklägers und befriedigte ihn anschließend oral (Fälle III.3 und III.4 der Urteilsgründe).
An einem nicht näher bekannten Tag im August 2004 begab sich der Angeklagte mit dem Nebenkläger in einen Gemeinschaftsraum im Keller seines Wohnhauses. Dort schloss er die Tür von innen ab, ergriff den Nebenkläger und hielt ihn fest. Es gelang dem Nebenkläger nicht, sich aus dem Griff des Angeklagten zu lösen. Der Angeklagte nahm manuell sexuelle Handlungen am Nebenkläger vor und hielt ihn anschließend fest, um den ungeschützten Analverkehr bis zum Samenerguss zu vollziehen (Fall III.5 der Urteilsgründe).
1. Die Verfahrensrüge dringt aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch.
2. Die Verurteilungen wegen (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern halten sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts genügt hinsichtlich der festgestellten Tatzeiten nicht den an sie zu stellenden Anforderungen.
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Die revisionsrechtliche Prüfung ist auf die Frage beschränkt, ob diesem ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14 und vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16; Beschluss vom 30. Januar 2018 - 4 StR 587/17). In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 - 2 StR 487/18 mwN).
b) Gemessen hieran halten die Beweiserwägungen rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft, weil das Landgericht nicht nachvollziehbar belegt hat, dass die ausgeurteilten Taten vor dem 14. Geburtstag des Nebenklägers am 8. Januar 2005 stattfanden.
Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, er habe den Nebenkläger zwei oder dreimal angefasst, jedoch keinen Verkehr mit ihm gehabt. Die Vorfälle seien im Jahr 2005 geschehen, als der Nebenkläger bereits nicht mehr in der Notwohnung gewohnt habe. Das Landgericht hat seine Überzeugung von den Taten auf die Angaben des Nebenklägers gestützt. Weitere vom Nebenkläger geschilderte ähnliche Vorfälle im Wald oder im Haus des Angeklagten mit manueller und oraler Befriedigung des Nebenklägers oder mit Analverkehr hätten sich zeitlich nicht näher eingrenzen lassen. Denn dem Nebenkläger sei hinsichtlich der weiteren Vorfälle eine insbesondere zeitliche Konkretisierung nicht möglich gewesen.
Umstände, auf die sich das Landgericht bei der zeitlichen Einordnung der fünf festgestellten Taten im Sommer 2004 gestützt hat, teilen die Urteilsgründe nicht mit. Dies wäre jedoch mit Blick auf die Einlassung des Angeklagten und insbesondere vor dem Hintergrund erforderlich gewesen, dass dem Nebenkläger eine zeitliche Konkretisierung der weiteren Vorwürfe nicht mehr möglich war. Soweit das Landgericht dies angesichts des Zeitablaufs als nachvollziehbar bewertet hat, erschließt sich ohne nähere Darlegungen nicht, worauf seine Überzeugung hinsichtlich der Tatzeiten der festgestellten Vorfälle beruht. Der Hinweis des Landgerichts auf die mit den Feststellungen übereinstimmenden Angaben des Nebenklägers in seinen polizeilichen Vernehmungen und in der Hauptverhandlung vermag nachvollziehbare Erwägungen zur zeitlichen Einordnung der ausgeurteilten Taten in Abgrenzung zu den zeitlich nicht mehr konkretisierbaren weiteren Vorfällen nicht zu ersetzen.
c) Die Verurteilungen wegen (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern können daher nicht bestehen bleiben. Die Aufhebung erstreckt sich wegen des tateinheitlichen Zusammentreffens auch auf den Schuldspruch wegen Vergewaltigung im Fall III.5 der Urteilsgründe sowie auf die Feststellungen, auf die sich der Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung notwendig auswirkt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2017 - 1 StR 305/17).
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, ggf. weitere Feststellungen zum Ausnutzen einer schutzlosen Lage zu treffen. Die Strafvorschrift des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der bis 9. November 2016 geltenden Fassung setzt voraus, dass das Opfer aus Furcht vor Gewalteinwirkungen des Täters von ? ihm grundsätzlich möglichen ? Widerstand absieht, weil es dies aufgrund seiner schutzlosen Lage für aussichtslos hält, und der Täter subjektiv diese tatsächlichen Voraussetzungen der Schutzlosigkeit auch als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlungen erkennt (st. Rspr.; vgl. Urteil vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, BGHSt 50, 359, 368; Beschlüsse vom 10. Mai 2011 - 3 StR 78/11; vom 18. November 2015 - 4 StR 410/15 und vom 12. Februar 2020 - 1 StR 481/19; jeweils mwN).
Darüber hinaus werden angesichts der späten Anzeigeerstattung die Umstände der Aussageentstehung zu erörtern sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2017 - 2 StR 235/16 und vom 30. Januar 2018 - 4 StR 284/17).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 558
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner