HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 674
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 683/18, Urteil v. 22.05.2019, HRRS 2019 Nr. 674
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 28. August 2018 wird verworfen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Beschuldigten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren den Antrag der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen, die Beschuldigte gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
a) Bei der 43 Jahre alten Beschuldigten bestehen spätestens seit 1997 eine paranoide Schizophrenie (ICD-10 F 20.0) sowie ein Abhängigkeitssyndrom von Cannabinoiden (ICD-10 F 12.2). Infolge ihrer Erkrankung leidet sie immer wieder an akustischen Halluzinationen im Sinne von kommentierenden und dialogisierenden Stimmen und entwickelte ein komplexes Wahnsystem überwiegend mit sexualisierten Inhalten. In ihren Wahnideen kommt verschiedenen Männern, vor allem Familienangehörigen, eine Täterrolle zu, ihr selbst die Opferrolle. Gleichwohl richtet sich ihre „zeitweise aufblühende“ Aggressivität maßgeblich gegen ihre Mutter und gegen ihre Schwester D. .
Nach dem durch ihre Krankheit bedingten Scheitern von zwei Ehen zog die Beschuldigte ihre in den Jahren 2000 und 2006 geborenen beiden Kinder zunächst auf. Unter strikter Medikation erlebte sie längere stabile Phasen. Ab 2008 wurde sie unter rechtliche Betreuung gestellt und auch mehrfach zunächst nur aufgrund von Cannabisabhängigkeit, später auch wegen ihrer paranoiden Schizophrenie stationär behandelt. Da die Beschuldigte unter den starken Nebenwirkungen der damaligen Medikation litt, nahm sie ihre Medikamente ab Ende 2012 immer seltener. Krankheitsbedingt war sie derart überfordert, dass sie ihre Kinder 2013 abgeben musste.
In der Folgezeit nahm sie keine Medikamente mehr, konsumierte in großen Mengen Cannabis und verweigerte die Zusammenarbeit mit ihrer Betreuerin. Es ging ihr zunehmend schlechter. Mehrfach wurde sie stationär psychiatrisch behandelt, meist aufgrund von Beschlüssen nach dem Hamburgischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten. Sie wurde häufig medikamentös neu eingestellt, setzte die Medikamente aber jeweils unmittelbar nach den Krankenhausaufenthalten wieder ab.
b) Im Zustand der aufgrund ihrer chronischen schizophrenen Psychose zumindest erheblich verminderten (Fälle 1, 2, 6, 7 und 10) bzw. vollständig auf gehoben Steuerungsfähigkeit (Fälle 4, 8 und 9) beging die Beschuldigte folgende Taten:
Am 13. Juni 2016 beleidigte sie ihre Schwester D. und bedrohte sie mit den Worten „ich bring dich um“ (Fall 1). Im Anschluss an dieses Geschehen begab sich die Beschuldigte zur Polizei. Dabei führte sie ein Butterflymesser in ihrer Handtasche mit sich, für das sie keine waffenrechtliche Erlaubnis besaß (Fall 2).
Am 13. April 2017 besuchte die akut psychotische Beschuldigte ihre Mutter. In der Küche kam es zwischen beiden zu einem Streit, dessen Auslöser Wahnvorstellungen der Beschuldigten über einen ihre Tochter sexuell missbrauchenden Mann waren. Ihre ebenfalls psychisch kranke Mutter bekam Angst und rief laut um Hilfe. Daraufhin ergriff die Beschuldigte einen großen, „relativ schweren“ Topf, mit dem sie ihre Mutter schlug. Diese erlitt unter anderem multiple Prellungen an Armen, Beinen und im Gesicht, die innerhalb weniger Tage verheilten, sowie seelische Beeinträchtigungen (Fall 4). Beim Verlassen der Wohnung nahm die Beschuldigte die Handtasche ihrer Mutter mit, womit sie verhindern wollte, dass diese eine unmittelbar bevorstehende Türkeireise antrat. Nachdem die Beschuldigte kurz darauf bei ihrem Versuch, die Tasche bei der Polizei abzugeben, abgewiesen worden war, warf sie sie über den Zaun des Polizeigeländes. Ein sie dabei beobachtender Polizist forderte sie auf, sich auszuweisen. Die aufgebrachte und vor sich hin murmelnde Beschuldigte kam dem nach. Eine sich nähernde Beamtin beschimpfte sie als „Schlampe“ und „Fotze“. Nachdem die Beamtin eine Kleinmenge Marihuana bei ihr aufgefunden hatte, spuckte sie der Polizistin ins Gesicht (Fall 6). Angesichts ihres zunehmend erregten Zustands wurde die Beschuldigte in Gewahrsam genommen. Als sie von einer Polizeibeamtin nach ihrem Namen gefragt wurde, brüllte sie, „den weißt du schon, du Fotze“ (Fall 7).
Am 28. Juli 2017 öffnete die Beschuldigte wütend ihre Wohnungstür, als ein Nachbar durch den Hausflur des gemeinsam bewohnten Mehrfamilienhauses ging. Wahnbedingt nahm sie an, ihr 11-jähriger Sohn halte sich bei dem Nachbarn auf. Sie hielt ein Küchenmesser (15 cm Klingenlänge) in ihrer Hand, „um sich und ihrer ‚Position‘ mehr Ausdrucksstärke zu verleihen“ (UA S. 12). Angreifen oder bedrohen wollte sie den Nachbarn damit nicht. Es kam zu einem lautstarken Streit. Der Nachbar zog sich in seine Wohnung zurück und rief die Polizei. Die Beschuldigte schlug mit einem Schlüssel auf die Tür des Nachbarn ein, wodurch sie mehrere kleine Kerben verursachte. Als der Nachbar seine Wohnungstür erneut öffnete und die aufgebrachte Beschuldigte mit seinem Mobiltelefon filmte, rief sie „ich töte euch alle“ (Fall 8).
Am späten Abend des 24. Oktober 2017 traf die Beschuldigte auf der Straße zufällig auf den Zeugen I., der sie im Wissen um ihre Krankheit freundlich behandelte. In wahnhafter Verkennung meinte sie, der Zeuge wolle ihr Böses, und beschimpfte ihn. Er versuchte, sie zu beruhigen. Plötzlich holte sie mit einer langen Kette, an der sich ihr Schlüsselbund befand, aus und schlug nach dem Zeugen. Der Schlüsselbund traf ihn unter anderem am Hinterkopf und verursachte eine stark blutende Platzwunde, die notärztlich versorgt werden musste (Fall 9).
Am 28. November 2017 „bepöbelte“ die Beschuldigte wahllos Passanten und trat gegen die Fassade eines Einkaufszentrums, wodurch sich eine Steinfliese von der Wand löste und zerbrach (Fall 10).
2. Von der Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat die Strafkammer abgesehen, weil die Gesamtwürdigung der Beschuldigten und ihrer Taten ergeben habe, dass von ihr aufgrund ihres Zustandes zwar weitere rechtswidrige Taten zu erwarten seien, erhebliche rechtswidrige Taten allerdings nicht mit der für eine Unterbringung erforderlichen Wahrscheinlichkeit. Maßgeblich stellt die Strafkammer insoweit darauf ab, dass die Beschuldigte seit über zwanzig Jahren an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt und dennoch in dieser Zeit mit Ausnahme der Taten 4 und 9 nicht mit Aggressions- oder Körperverletzungsdelikten oder anderen im Sinne von § 63 StGB erheblichen Taten in Erscheinung getreten sei. Dies sei ein gewichtiges Indiz gegen ihre Gefährlichkeit. Zudem sei die Beschuldigte im Rahmen ihrer einstweiligen Unterbringung erstmals über einen Zeitraum von sechs Monaten konsequent behandelt worden, aktuell krankheitseinsichtig und fest gewillt, ihre Medikation in Freiheit fortzusetzen. Sie sei medikamentös so gut eingestellt wie nie zuvor; die Nebenwirkungen der neuen Medikation seien marginal.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Die Ablehnung der Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung stand.
1. Das Landgericht hat ohne Rechtsfehler von der Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgesehen. Zwar beging sie die inmittenstehenden rechtswidrigen Taten infolge der bei ihr bestehenden paranoiden Schizophrenie (ICD-10 F 20.0) im Zustand der Schuldunfähigkeit (Fälle 4, 8 und 9) bzw. der jedenfalls erheblich verminderten Schuldfähigkeit (Fälle 1, 2, 6, 7 und 10). Das Landgericht hat indes rechtsfehlerfrei dargelegt, dass der Beschuldigten keine ihre Unterbringung rechtfertigende Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann.
a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur dann in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, NStZ-RR 2019, 41, 42; vom 26. Juli 2018 - 3 StR 174/18 Rn. 12, und vom 10. April 2014 - 4 StR 47/14 Rn. 14; Beschlüsse vom 31. Oktober 2018 - 3 StR 432/18 Rn. 6 und vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338, jeweils mwN). Zudem ist eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung solcher Taten erforderlich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. Mai 2018 - 1 StR 36/18 Rn. 25 und vom 16. Januar 2013 - 4 StR 520/12, NStZ-RR 2013, 141, 142 mwN). Die Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu stellen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, aaO, mwN).
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe gerecht.
Das Landgericht hat seiner Prognose zutreffende rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt und ist dabei aufgrund einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeit der Beschuldigten, ihres Vorlebens und der festgestellten Anlasstaten zu dem Ergebnis gelangt, dass von ihr nicht mit der für eine Unterbringung erforderlichen Wahrscheinlichkeit erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von § 63 Satz 1 StGB zu erwarten sind. Es hat dabei beachtet, dass die Gefahrenprognose anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu entwickeln ist, alle hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte gesehen und vertretbar gewürdigt. Dabei hat es insbesondere sowohl das Gewicht auch der beiden schwersten, zutreffend als gefährliche Körperverletzungen gewürdigten Taten als auch die Entwicklung der Krankheit der Beschuldigten in Betracht gezogen. Zu Recht hat die Strafkammer es als gewichtig gegen die Gefährlichkeit der Beschuldigten sprechendes Indiz angesehen, dass sie in den mehr als zwanzig Jahren ihrer Erkrankung mit Ausnahme der Taten 4 und 9 nicht mit Körperverletzungsdelikten oder anderen im Sinne von § 63 StGB erheblichen Taten in Erscheinung getreten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2011 - 5 StR 422/11, NStZ-RR 2012, 107, 108).
Entgegen der Auffassung der Revision hat das Landgericht auch nicht verkannt, dass es für die Entscheidung, ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen ist, nicht darauf ankommt, ob die vom Täter (aktuell noch) ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit durch eine konsequente medizinische Behandlung oder andere Maßnahmen außerhalb des Maßregelvollzugs abgewendet werden kann. Ein derartiges täterschonendes Mittel würde erst bei der Frage der Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung Bedeutung erlangen können (vgl. BGH, Urteile vom 3. August 2017 - 4 StR 193/17, StraFo 2017, 426; vom 31. Mai 2012 - 3 StR 99/12 Rn. 10; vom 20. Februar 2008 - 5 StR 575/07 Rn. 14, und vom 23. Februar 2000 17 18 - 3 StR 595/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 28). Eine solche fortbestehende Gefahr hat das Landgericht indes nicht angenommen. Vielmehr ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beschuldigten aufgrund ihrer Entwicklung im Rahmen der einstweiligen Unterbringung schon keine die Maßregel nach § 63 StGB rechtfertigende Gefährlichkeitsprognose mehr gestellt werden kann. Nachvollziehbar hat es seine Annahme begründet, dass die Beschuldigte - unter der Obhut ihrer vor der Hauptverhandlung bestellten, erfahrenen und „engagierten“ Betreuerin - ihre aktuell vorhandene „Behandlungscompliance“ beibehalten und die erforderliche Medikamenteneinnahme auch in Freiheit fortsetzen werde. Unter Medikation habe die Beschuldigte bereits in der Vergangenheit „lange ‚gute‘ Phasen“ erlebt, in denen sie nicht straffällig geworden sei (UA S. 35).
Gegen diese Ausführungen der Strafkammer ist angesichts der Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht nichts zu erinnern.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 674
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 244
Bearbeiter: Christian Becker